Wiederaufnahme

[155] Dem Präsidenten des Reichsgerichts,

Herrn Ehrendoktor Bumke, dargewidmet


Erster Verhandlungstag

Der Vorsitzende: Na und – –?

Die Zeugin: Und – da ist er eben . . .

Der Vorsitzende: Was?

Die Zeugin (schweigt)

Der Vorsitzende: Aber sprechen Sie doch . . . es tut Ihnen hier niemand etwas! Außerdem stehen Sie unter Ihrem Eid!

Die Zeugin (ganz leise): Da ist er eben die Nacht bei mir geblieben . . . !

Ein Geschworener: Das war also die Mordnacht? Die Nacht vom 16. auf den 17. November?

Die Zeugin: Ja . . .

Der Vorsitzende: Ja, um Gottes willen! Hat Sie das denn niemand in der damaligen Verhandlung gefragt?

Die Zeugin: Der Herr Rat war so streng mit mir . . . und es ging auch alles so schnell –

Der Vorsitzende: Und da lassen Sie einen unschuldigen . . . da lassen Sie also einen Mann zum Tode verurteilen und dann später lebenslänglich ins Zuchthaus gehen, ohne zu sagen – also das verstehe ich nicht!

Die Zeugin (schluchzend): Meine Eltern sind sehr fromm . . . die Schande – –


[155] Zweiter Verhandlungstag

Der Zeuge: Das habe ich auch alles ausgesagt. Aber der Herr Untersuchungsrichter wollte davon nichts hören.

Der Vorsitzende: Herr Landrichter Doktor Pechat?

Der Zeuge: Ja. Ich habe ihn immer wieder darauf hingewiesen, daß der Schrei in der Nacht gar nicht deutlich zu hören war – es regnete sehr stark, und das Haus war auch weit entfernt . . .

Der Vorsitzende: In Ihrer Aussage . . . also hier im Protokoll kann ich davon nichts finden.

Der Zeuge: Der Herr Untersuchungsrichter hat gesagt: wenn ich nicht unterschreibe, dann behält er mich gleich da.

Der Staatsanwalt: Das ist doch wohl nicht möglich! Herr Landrichter Pechat – bitte?

Der Landrichter: Ich kann mich nicht mehr besinnen.


Dritter Verhandlungstag

Der Sachverständige: Das erste, was jeder Fachmann sofort zu tun hatte, war: den zweiten Revolver zu untersuchen. Das ist damals nicht geschehen.

Der Staatsanwalt: Warum haben Sie denn das in der Verhandlung nicht angegeben?

Der Sachverständige: Herr Staatsanwalt! Ich bin jetzt dreiundzwanzig Jahre Sachverständiger . . . aber so was wie diese Verhandlung damals . . . ich durfte überhaupt nichts sagen. Der Staatsanwalt, Herr Staatsanwalt Pochhammer, und der Herr Vorsitzende, Herr Landgerichtsdirektor Brausewetter, haben immer wieder gesagt, das seien meine persönlichen Ansichten, und auf die käme es nicht . . .

Der Vorsitzende: Ist es Ihrer Meinung nach möglich, mit dem ersten Revolver auf die Entfernung, die das damalige Urteil annimmt, zu zielen oder gar zu treffen?

Der Sachverständige: Nein. Das ist ganz unmöglich.


Vierter Verhandlungstag

Der Staatsanwalt: . . . wenn auch nicht mit absoluter Gewißheit, so doch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, daß der Angeklagte nicht der Täter gewesen ist. Ich sage nicht: nicht gewesen sein kann. Denn wenn auch sein Alibi durch die Zeugin, Fräulein Koschitzki, nunmehr bewiesen ist; wenn auch die Zeugenaussagen, wonach man einen Schrei gehört habe, erschüttert worden sind; wenn auch, fahre ich fort, die versäumte Untersuchung des Armeerevolvers ein fehlendes Glied in der Beweiskette ist, so bleibt doch immer noch die Frage: Wo ist August Jenuschkat geblieben? Der Leichnam des Ermordeten ist niemals aufgefunden worden. Daher können wir auch nicht sagen, daß etwa in der ersten Verhandlung schuldhaft[156] irgendein Umstand außer acht gelassen worden sei. Das wäre eine ungerechtfertigte Übertreibung. Die Umstände, wie ich sie Ihnen hier . . .

(Rumor)

Der Vorsitzende: Ich bitte doch aber um Ruhe! Justizwachtmeister, schließen Sie die –

Der Justizwachtmeister: Wollen Sie hier raus . . . Wollen Sie hier wohl . . .

Eine Stimme: Äi, Franz, was machst du denn auf der Anklagebank –?

Der Angeklagte (reißt die Augen auf und fällt in Ohnmacht)

Der Justizwachtmeister: Wistu . . . Wistu . . .

Der Vorsitzende: Ruhe! Was ist das? Was wollen Sie hier? Wer sind Sie?

Ein fremder Mann: I, ich bin der Jenuschkat!

Der Vorsitzende: Wenn Sie hier Ansprüche wegen Ihres ermordeten Angehörigen stellen wollen . . .

Der fremde Mann: Äi näi! Ich bin der August Jenuschkat!

Der Vorsitzende: Ruhe! Sie sind August Jenuschkat? Gibt es zwei Augusts in Ihrer Familie?

Der fremde Mann: Näin. Ich hab jeheert, se haben mir ermordet; aber ich jlaub, es is nicht wahr!

Der Vorsitzende: Treten Sie mal vor! Haben Sie Papiere, mit denen Sie sich ausweisen können? Ja . . . Da sind Sie also der . . . da sind Sie also –

Der fremde Mann: Jaa . . . Wie ich an dem Morjen bin nach Hause jekomm, da standen da all die Schendarm. Und da bin ich jläich wechjemacht, weil ich jedacht hab, se wolln mir holen. Ich hatt da noch 'n Stückchen mits Finanzamt . . . Und da bin ich riber mit die Pferde – ins Litauische. Und da hab ich mich denn in eine Försterstochter verliebt und hab se all jehäirat. Un jeschrieben hat mir käiner, weil se meine Adreß nich jehabt habn. Und wie ich nu heite morjn rieber komm ausn Litauschen, mit die Pferde, da heer ich diß hier. Nee, saren Se mal –!

Der Vorsitzende: Die Verhandlung wird vertagt.


Personalnachrichten

Befördert wurden:

Herr Landrichter Doktor Pechat zum Landgerichtsdirektor;

Herr Staatsanwalt Doktor Pochhammer zum Ersten Staatsanwalt;

Herr Landgerichtsdirektor Brausewetter zum Senatspräsidenten in Königsberg.


  • [157] · Kaspar Hauser
    Die Weltbühne, 30.07.1929, Nr. 31, S. 267, wieder in: Deutschland, Deutschland.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 10, Reinbek bei Hamburg 1975.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Aristophanes

Die Wolken. (Nephelai)

Die Wolken. (Nephelai)

Aristophanes hielt die Wolken für sein gelungenstes Werk und war entsprechend enttäuscht als sie bei den Dionysien des Jahres 423 v. Chr. nur den dritten Platz belegten. Ein Spottstück auf das damals neumodische, vermeintliche Wissen derer, die »die schlechtere Sache zur besseren« machen.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon