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[171] »Warum«, ließ neulich ein Kollege vom Bau anfragen, »machen Sie nicht einmal eine Weltreise –? Ich werde Ihnen das arrangieren.« Ich dankte ihm, der schon so viel für mich getan hat, und: »Nein«, sagte[171] ich, »ich möchte keine Weltreise machen, auf der ich alle zwanzig Seemeilen etwas schreiben muß.« Denn:
Wenn das Feuilletonisieren aus Paris an der Donau jemals Geltung gehabt hat –: seine Zeit scheint mir vorüber. Es kann auf einer Literatenreise nur noch zweierlei geben: das amüsante Geplauder um einen Spaß herum und die fröhliche Wissenschaft. Und die ist kaum anzutreffen.
Was soll der Schreibende in der weiten Welt –? Sich an ihr entzünden? Das ist sehr gut; dann ist, im Keim, sein Reisebuch vorher fertig, und es ergibt einen guten Klang, wenn ein starker Kerl mit der Welt zusammenstößt, die ihn zum Tönen bringt und die er zum Tönen bringt. Das ist eine künstlerische Leistung, die sehr, sehr selten gelingt. Markiert er aber den Mann, der in vierzehn Tagen Indien enträtselt, dann gibt es ein Unglück. Indien ist zu nah – acht Flugtage.
Die Welt hat sich, wie männiglich bekannt, mechanisiert. In Hongkong fahren die Trambahnen; in Sumatra trinken sie Pilsener; auf Alaska flüstert Jack Smith; in Grönland kauen sie wahrscheinlich Gummibonbons . . . die pittoresken Unterschiede sind in den großen Zentren ausgewischt und auf dem Lande manchmal noch vorhanden, noch. Das kann nur der beklagen, der sich einbildet, ganze Erdstriche hätten die Verpflichtung, sich um des Beobachters willen als Museum zu konservieren und dem Fremden malerisches Volksleben vorzuleben. Das gibt es nicht mehr, und das kann und soll es auch nicht mehr geben. Denn es ist wichtiger, daß die asiatischen Kulis auf ihre Weise den Marxismus begreifen; es ist wichtiger, daß die afrikanischen Zwangsarbeiter wissen, was man mit ihnen macht – als daß Herr Schmusheimer ein paar Feuilletons an den Redakteur bringt. Damit also ist es vorbei.
Wie will aber der Reisende in die fernen Länder eindringen –?
Ich möchte nicht mehr lesen, wie irgendein Zeitungsgewächs den Mondaufgang in Ceylon beschreibt; welche neuen Eigenschaftswörter jener für den Schmutz in Port Said findet; welch charmanten Scherze er sich in Aden ausdenkt, und in welche Beziehungen er Bolivien und den Spittelmarkt miteinander bringt. Das ist ein uninteressant gewordenes Spiel. Viel wichtiger ist die Erkenntnis der Welt, wie sie wirklich ist.
Um sie zu erlangen, sind nötig:
Beste Sprachkenntnis – für eine Weltreise also: englisch, spanisch, französisch, und das wie Wasser. Vorheriges, sorgfältiges Studium der zu bereisenden Länder – denn es ist unmöglich, sie ganz zu verstehen, wenn man ihre Geschichte nicht kennt, nicht ihre Wirtschaftsstruktur, ihre Führer und ihre Leidenschaften. Und alles das ist noch unzureichend, wenn der Reisende – wie meist – keine Zeit hat; wenn er ein ganzes Land in vier Wochen durchstreifen, verstehen, schildern[172] soll. Dann kann er zwar, wenn alle Umstände glücklich zusammentreffen, mehr sehen als einer, der seit zwanzig Jahren dort wohnt – solche Beispiele gibt es. Dann hascht er manchmal die Erkenntnis dessen, was da los ist; wie eine Vision durchzuckt ihn blitzartig die Wahrheit; aber das ist selten. In den allermeisten Fällen wird er stümpern, und uninteressant stümpern. Ich habe das einmal beobachten können. Wenn die Reise-Journalisten über Frankreich schrieben, hatte ich meine schönsten pariser Stunden – ich sah gewissermaßen aus dem Versteck zu, wie jemand sucht . . . Paris hat sich schön gehütet, »Hier!« zu rufen – es läßt die Leute schreiben. Aber von zwei, drei Ausnahmen abgesehen darf man wohl sagen: so etwas von Mißverständnissen, von Danebenhauen, von Unkenntnis und Begrenztheit war noch nicht da. Und das achtzehn Bahnstunden von Berlin . . . wie mag das erst in Japan aussehen! Diese Art von Reiseschilderungen sind unnütz.
Unter den gradezu schauerlichen Exemplaren, die durch die Welt reisen, heben sich nur drei oder vier Männer vorteilhaft ab – der Rest ist wildgewordene Konfektion oder bebrillte Hochschule, blind wie die Nachteulen, Merkwürdigerweise ist unter den Ausnahmen keine Frau; wie ja denn überhaupt die deutsche Feuilletonistin alle Unarten unsres Gewerbes und kaum seine Vorzüge aufweist. Es ist wohl in Wahrheit so, daß die meisten dieser Schreiber ihren Beruf einfach des Geldes wegen betreiben, und daß es für sie wichtiger ist, bei den Redakteuren akkreditiert zu sein als beim Publikum, das diese dürre Wiese geduldig abgrast. Ob das Publikum weiß, was es will, steht dahin – die Vermittler zwischen Schriftsteller und Leser wissen es in der Regel nicht.
Hier soll noch nicht einmal von der Wichtigtuerei gesprochen werden, der chronischen Krankheit der meisten Auslandsreporter. Der Minderwertigkeitskomplex der deutschen Untertanen wirkt sich fröhlich aus, wenn ein fremder Minister sie empfängt; man muß nur lesen, wie beiläufig sie hinwerfen: »Gestern sagte mir Briand beim Tee . . . «, es ist das, was ich anläßlich des Herrn Keyserling die Imponierklammer genannt habe, auf daß sich der Leser vor Bewunderung wälze, was er denn auch prompt besorgt. Erst, wenn dieser Fehler ganz und gar aus der Haut ist, kann man ein guter Reiseschilderer sein, denn es ist kein Kunststück, nach Wladiwostok zu fahren, das kostet heute nur Geld, und es ist eine dumme Überheblichkeit, dem Mann aus Bitterfeld damit imponieren zu wollen, daß man unter Glockengeläute russische Namen ins Feuilleton wirft. Das kann Lehmanns Kutscher auch. Nur Lehmanns Kutscher kann es.
Wir brauchen etwas andres. Wir brauchen den fröhlichen Kenner.
Nun ist das große Unglück, daß sich der Kenner, wenn er dem deutschen Kulturkreis angehört, meist zum Fachmann herunterentwickelt,[173] und der ist ganz und gar fürchterlich. Ich sehe von den Fällen ab, wo ein an die Zeitungen berichtender Farmer interessierte Partei ist, wo er also mit seinen Artikeln etwas durchsetzen oder abwenden will – wenn er das offen sagte, wäre es ja erträglich. Aber er ist kurzsichtig; meist trifft seine Umgebung auf den blinden Fleck seines Auges; man muß sehen und hören, wie Beamte oder Kaufleute, die zehn Jahre in China zugebracht haben, über China schreiben und sprechen, es wird einem ganz Angst; wieviel Bier, deutscher Klub, Hochnäsigkeit und Stumpfheit ist darin! Es wird also schwer sein, unter den Auslandsdeutschen, die immer zwischen Gesangsverein und Aufgabe ihres Deutschtums hin und her pendeln, den richtigen Mann zu finden. Aber es muß ihn doch geben . . . ! Sucht ihn.
Denn er wäre brauchbar, uns von innen her über fremde Länder etwas auszusagen; er könnte die Grundlagen schildern, auf denen sie dort leben; er könnte wirklich fruchtbare Kritik üben. Meist wird er es anonym tun wollen; denn solche Wahrheiten, ausgesprochen für einen großen Kreis in der Heimat und wiedergelesen im winzigen der Fremde, pflegen kleine Revolutionen hervorzurufen. Aber das ist immer noch besser als das fade Geschreibe der Feuilletonisten, die, der Tante gleich, überraschend wie zumeist angereist kommen, huschhusch wieder abreisen und es nun alles, alles wissen . . .
Und je mechanisierter die Welt ist, um so schwerer ist es, die Nuance zu erkennen, auf die alles ankommt. Denn es ist ja nicht wahr, daß sich – bei aller Gleichheit in den Nöten und Freuden des Stadtlebens – Paris und Berlin und London gleichen; die Leute haben alle denselben Kummer mit ihren Hauswirten, das ist wahr; aber sie sterben anders, sie lieben anders, sie leben auch anders, eine winzige Kleinigkeit anders, etwas verschieden vom Nachbarland, und darauf kommt es an. Das freilich muß man sehen, fühlen, zu empfinden verstehen, auffangen.
Als ich neulich hier einmal dieses Thema angeschnitten und gesagt hatte, wir wollten nun aber nicht mehr die Schilderungen von Reisebeschwerlichkeiten, sondern Länderschilderungen lesen, da schrieb mir der treffliche C. Z. Klötzel vom ›Berliner Tageblatt‹ einen bitterbösen Brief. Nun ist dieser Mann, wenn er fremde Länder ernst schildert, eine jener Ausnahmen, die die deutsche Reise-Journalistik hat: sauber, sorgfältig, gebildet – er hat in seinem Leben vieles gesehen und mit Nutzen gesehen . . . also warum der Eifer? Es war wohl so etwas wie der Kampf zwischen ›Fachmann‹ und ›Laien‹, jenes uralte deutsche Gesellschaftsspiel, das zu gar nichts führt . . . Klötzel weiß und muß wissen, wie oft die Spesen vertan sind – südamerikanische Zeitungen kann man auch in Berlin durchbuchstabieren, und wenn die Herren einmal ihre Quellen angeben wollten, so ergäbe sich, daß: ›man sagt hier‹ ein deutschsprechender Kollege aus einer befreundeten Zeitung[174] ist, und ›ganz Guatemala‹ ein Kaufmann, der früher einmal in Leipzig mit Pelzen gehandelt hat . . . Seid doch ehrlich! Ihr wißt doch wie wir, wie unendlich schwer es schon in Berlin ist, herauszubekommen, was die Leute wirklich denken; in wie viele Kneipen, Volksversammlungen, Familien und Vereine man gehen müßte, auch da muß man noch den Flair haben – und nun erst in einem fremden Lande, wo man in der Fixigkeit vieles ganz falsch einschätzt!
Und so sieht denn auch das Weltbild aus, das diese da vermitteln. Vor lauter Witzchen, Mätzchen, Stilgespiel und Mausigmacherei verschwindet das fremde Land; schält euch heraus, was sie wirklich über die Türkei, Schweden, Paris und Australien vermelden und was nicht aus den Zeitungen abgeschrieben ist, sondern auf eigner Beobachtung beruht: es ist blutwenig. Und gibt es eine Katastrophe, dann hat es die Propaganda leicht, dem Deutschen, was sie nur will, über die Fremden vorzugaukeln – Stresemann hat das neulich im Reichstag, genau fünfzehn Jahre zu spät, gut formuliert. Kennen wir den Fremden nur aus diesen Reiseschilderungen, dann ist er im Handumdrehen zu einem blutrünstigen Straßenräuber, einem Kinderschänder, einem Lügner und einem Falschmünzer gemacht. Wer mit offenen Augen im fremden Land gelebt hat, glaubts nicht so leicht. Wer dauernd gut unterrichtet wird, auch nicht.
Ich habe den Eindruck, daß es nach dem Kriege damit nicht besser geworden ist – es ist eher schlechter geworden. Die unleidlichen Sitten der amerikanischen Reportage, die an Unbildung jeden Rekord schlägt, ist noch zu allem andern dazu gekommen, und so hat das Volk der Dichter und Denker ein paar sehr gute Reisebücher, aber wenig brauchbare Reise-Journalisten. Hier sei eingefügt, was wegen jenes Briefes Herrn Klötzels einzufügen nötig ist, daß ich das kleine Pyrenäenbuch, das ich einmal geschrieben habe, für kein Muster seiner Gattung halte – es ist darin mehr von meiner Welt als von den Pyrenäen die Rede, und nur das Kapitel über Lourdes macht eine Ausnahme. Ich konnte zum Beispiel mit den Leuten nicht baskisch sprechen – wie soll ich diesen Landstrich ganz begreifen?
Darum habe ich dem Freunde geschrieben, er möge mich die Weltreise lieber nicht machen lassen. Kommt aber ein amerikanischer Zuckerkönig gegangen und lädt mich zu einer solchen Reise ein, und bleibt er selber noch gar zu Hause –: dann will ich gern einmal mit der Hand übern Alexanderplatz sowie über den Globus fahren.
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