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[298] Eine Seite des Proletarierschicksals aller Länder wird niemals beschrieben – nämlich die Tragik, die darin liegt, daß der Proletarier nie allein ist. So ist sein Leben: Geboren wird er im Krankenhaus, wo viele Mütter kreißen, oder in einem Zimmer, wo ihn gleich die Familie mit ihrem Anhang, den Schlafburschen, umwimmelt; so wächst er auf, und es ist noch eine bessere Familie, wenn jeder sein eigenes Bett hat; alle aber, die so leben, leben ständig das Leben der anderen mit und sind nie allein. So ist seine Welt; sein Haus hat viele Höfe, und unzählige Familien wohnen hier, kommen und gehen, schreien und rufen, kochen und waschen, und alle hören alles, jeder nimmt am Schicksal des andern auf die empfindlichste Art teil, in der dies möglich ist: nämlich mit dem Ohr. Das Ohr des Proletariers lernt Geräuschlosigkeit nur in der Einzelhaft kennen.
Im Maschinensaal arbeitet er mit den andern; im Stollen mit der Belegschaft; am Bau mit den andern – nie ist er allein. Zu Hause nicht – nie ist er allein. Noch, wenn er stirbt, stirbt er entweder in so einem schmierigen Loch oder im Krankenhaus – und ist auch dann nicht allein.
Man sage doch nicht, daß ›die Leute dies gewöhnt seien‹ – das erinnert an den Ausspruch jenes Kellners, der da beim Austernservieren sagte: »Ja, die Austern sterben sofort, wenn man die Schale öffnet. Aber sie sind das gewöhnt!« An so ein Leben, in dem man nie allein ist, gewöhnt man sich nicht; man lebt es bitter zu Ende.
Das hat gar nichts mit einem falschen Bürger-Ideal zu tun; Kollektivität und Solidarität stehen auf einem andern Blatt. Die französischen Bauern umgeben ihre Besitzungen gern mit einer hohen Mauer; deutsche Kleinsiedler haben eine immense Vorliebe für den Zaun, weil er ihnen Symbol für das Eigentum ist . . . die neue Generation in Rußland hat ein neues Lebensgefühl in die Welt gerufen und ist sich vielleicht weniger feind, als das sonst unter Menschen üblich ist. Klassengenossen sollen solidarisch sein und kollektiv arbeiten und leben, gewiß. Aber gibt es ein menschliches Wesen, das da mehr sein will als nur Arbeitsmotor, Fortpflanzungsapparat und Verdauungsmaschine, und das nicht den Wunsch hätte, einmal, nur ein einziges Mal, allein zu sein?
Hier liegen nicht nur die Körper zusammen – hier dünsten auch die Seelen aus, und weil für keine Platz genug da ist, so ziehen sie sich zusammen und werden beengt, bedrängt, manchmal klein.
[298] Wieviel Mut, wieviel Energie gehört dazu, um unter so niedriger Decke noch zu hoffen, zu arbeiten, den Gedanken des Klassenkampfes nicht trübe verglimmen zu lassen!
Die Frau, die Kinder – auch sie nie allein.
Der Mensch von 1929 ist nicht mehr allein wie auf einer Ritterburg oder in einer Eremitenklause. Wie die Waben sitzen die Wohnungen in den Mietshäusern beieinander –
Ist der Proletarier nicht sehr stark, ist er nicht durchdrungen von dem Gedanken, für seine Klasse zu kämpfen, dann entsteht eben jene Welt: ›Drittes Quergebäude, rechts, zweiter Hof‹ . . . In dem ewig dunkeln Gang hängen nicht nur die Eimer an den Wänden, an diesen Wänden klebt auch zäher Klatsch, Niedrigkeit, die aus der Not kommt, diese Menschen knurren sich an, weil sie zu nah aneinanderwohnen – wie kümmerlich die Versuche, in solchen Ställen so etwas wie ein ›Heim‹ aufzubauen. Das muß dem Nächsten abgerungen werden, und es wird ihm abgerungen, unter steten Kämpfen, unter Seelenqual und Bitternis. Nie sind diese Leute allein.
Lebt der deutsche Arbeiter so –?
Ein großer Teil lebt so und tut seine Arbeit und hat Sehnsucht nach einem andern Leben und quält und schindet sich und ist nie allein.