Ein Wort

[144] Es geht ein Wort durchs ganze Land,

durch hunderttausend Leben.

Das Wort hat ewigen Bestand,

du kannst nicht widerstreben.

Der Vater sagts,

die Mutter sagts,

der Bürger sagts,

der Bauer sagts,

die Juden und die Arier;

der Richter sagts,

der Lehrer sagts,

die Zeitung sagts,

der Pfarrer sagts,

die Chefs und die Proletarier –

Du hörst sie alle Tage schrein:

»Lassassein –!«[144]


Es mault das Baby, das man aufgeweckt:

›Lassassein!‹

es schilt die Amme, wenn sichs vollgekäckt:

›Lassassein!‹

es schallt durchs kinderreiche Haus:

›Lassassein!‹

manche Erziehung besteht nur aus

Lassassein!

Papa schimpft mit Fritzchen – früh Rauchen macht krank:

›Lassassein!‹

Es schlängelt das Mädchen sich auf der Bank:

»Nicht doch . . . lassassein . . . !«

Es rät der Freund dem Freunde gut:

»Mensch, lassassein!«

und der hat dann doch zum Heiraten Mut

und läßts nicht sein.

Wird ein Richter vernünftig, bringt ihn Leipzig auf den Trab: . . .

Lassassein!

zeigt die SPD Mut, wiegelt der Vorstand sie ab: . . .

Lassassein!

Demonstrieren die Arbeiter, dann brüllt die Polizei:

›Lassassein!‹

bei den Nazis steht sie lächelnd dabei:

»Lassassein . . . Nein? Nein.«

In juristischen Wälzern steht nur ein Wort:

Lassassein!

Hundert Schilder verunzieren jeden Ort:

Lassassein!

George Grosz soll nicht malen. Die Kirche brüllt sich wund:

›Lassassein!‹

Pitigrilli soll nicht dichten. Es verbietet Schmutz und Schund:

›Lassassein!‹

Das Auto soll nicht fahren. Es droht die Markierung:

LASSASSEIN!

Der Student soll nicht links sein. Es droht die Relegierung:

Lassassein!

Treibt die arme Frau ihre Leibesfrucht ab?

Lassassein!

Und noch auf dem Friedhof . . . »Keine Reden am Grab!«

Lassassein –!


So sagt jeder, was man nicht tun soll,

und verbietet dem andern die Hucke voll.[145]

Denn das deutsche Volk kann nur ruhig schlafen

hinter einer Hecke von § § §.

Jeder hackt auf jedem. Jeder will untersagen.

Keiner gönnt keinem was. Sieh, wie sie sich plagen!

Denn die Bremse ist das Wichtigste an einem deutschen Wagen.

Im Verbieten sind sie groß. Im Gewähren sind sie klein.

Lassassein!

Lassassein!

Lassassein –!


  • · Theobald Tiger
    Die Weltbühne, 27.05.1930, Nr. 22, S. 790.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 8, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 144-146.
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