Fräulein Marietta

[164] Die Uhr war gar keine Uhr, sondern ein Rabe; aus dem Schnabel fiel ihm ein weißer Zettel heraus, auf dem stand die Stundenzahl, in den Krallen hielt er zwei kleine Zettel, darauf standen die Minuten, und alle Minuten klappte ein neues Blatt herunter: schnapp! 8 – schnapp! 9 – schnapp! 10 . . . Es war genau 5 Uhr 10.

Die Kellnerin nannten wir die ›Tochter der Legion‹, und sie hieß Marietta. Sie war so schön, daß mir, als ich sie an diesem Nachmittag zum ersten Male sah, die Pfeife ausging; das geschieht alle Jahr nur dreimal: diesmal also in den »Drei Königen« zu Bernkastel – so schön war sie. Sie war schwarzhaarig, sie hatte eine leichtgeschwungene Nase, dünne Lippen und eine herrliche Stirn; sie stammte, wie sie uns leise erzählte, aus Bayern, dort sehen ja manche Frauen und Mädchen römisch aus; vielleicht sind das Überbleibsel vom Familienleben der römischen Legionäre, die dort einmal garnisoniert gewesen sind . . . und daher nannten wir sie ›Die Tochter der Legion‹. Drüben am Stammtisch saß ein einsamer, blonder, junger Mann.

»Das ist der Herr Referendar«, sagte Fräulein Marietta. Wir nahmen dies zur Kenntnis und stiegen in den Mosel – erst in den offenen, dann in einen jungen, frischen, dann in einen alten, goldgelben, der sehr schwer war. Es ging schnell mit uns; Mosel ist kein so bedächtiger Wein wie der Rheinwein oder der Steinwein . . . es ging sehr schnell. Wir hatten auch schon am frühen Nachmittag gemoselt – wir tranken vom Mittagessen unmittelbar in den Dämmerschoppen hinüber, vielleicht war es das. Karlchen und Jakopp tranken, was sie konnten – und sie konnten! Ich saß da, zündete mir die Pfeife an, die ausgegangene, rauchte . . . und sah Marietta an, ich sah sie immerzu an.

Sie bemerkte das und lächelte. Wenn sie lächelte, glitt ein Schlänglein um ihren Mund, etwas Lauerndes war da, ein fast böses Fältchen bildete sich um die Augen . . . ich sah sie immerzu an. Nicht ich allein sah sie immerzu an.

Der Herr Referendar sah uns immerzu an. Sie, wie wenn er sie träumte; mich, wie wenn er mir böse sei . . . Wahrscheinlich war er mir böse. Dieser Mosel hatte es in sich. Karlchen erhob sich, um auf der Mosel »Kahn zu fahren«, wie er verkündete. Es war oktoberkalt und ein Unfug, jetzt auf der Mosel in einem Boot zu fahren. Das teilte ich Jakopp mit; er gab mir völlig recht und erhob sich demgemäß, um gleichfalls Kahn zu fahren; denn, sagte er, dies sei überhaupt nicht die Mosel – dies sei der Main. Er wisse das: Bernkastel liege am Main. »Er will mich heiraten«, flüsterte Marietta und glitt an mir vorbei. Hatte sie das gesagt? Der Referendar sah herüber . . . Die Mosel liegt nicht am Main . . . das ist ein Irrtum, ein geopolitischer Irrtum . . . Marietta . . . Fräulein Marietta –

[164] Einer von uns hat sie geheiratet; wer: das ist nicht genau zu erkennen. Dieser Ehemann hat keinen Kopf. Er hat sie geheiratet, und ich weiß, wie das ist, wenn man sie geheiratet hat. Wenn man sie nackt sieht, ist sie nicht sehr schön – sie hat so ein kurzes Untergestell. »Wie können Sie Lümmel sich erlauben, von meiner Frau Untergestell zu sagen –?« Hat aber doch ein kurzes Untergestell. Sie gibt dem Ehemann, dem kopflosen, zu trinken; es macht nie satt, sie zu trinken – es ist herrlich, aber man bleibt ewig durstig. Schön, wie? Gar nicht schön, was? Sie ist nußbraun am Körper und hat einen fremden Geruch. Die Tochter der Legionäre . . . Ist das ein Film? Nein, das ist eine Ehe.

. . . zu sich heraufziehn. »Man kann doch«, sagt die kopflose Figur, »eine Frau zu sich heraufziehn. Man kann doch eine Frau zu sich heraufziehn.« Da lachen ja die Raben, Mensch! Man kann keine Frau zu sich heraufziehn! Die Frau zieht dich zu sich hinab? Hinab.

Erst geht es ganz gut, weil du verliebt bist, und weil du trinken willst, trinken. Und dann geht es nicht mehr so gut: sie lacht dich aus, wenn du deine Bücher liest; sie langweilt sich, wenn du deine Geschichten erzählst; du langweilst dich, wenn sie die ihren erzählt, die Tochter der Legionäre – übrigens ist sie dumm, gerissen und unbeirrbar abergläubisch . . . und dann kommt das Schlimmste: dann kommen die andern.

Da kommen ihre Freundinnen, die Puten und Gänse; was sind das nur für schreckliche, dicke Frauen, die sie da angeschleppt! Eine Tante? In Gottes Namen, eine Tante . . . Und dann kommen die Deinen, junger Ehemann, und gehen um Fräulein Marietta herum und – sei nicht böse! – riechen an ihr, wie . . . ja, und dann schütteln sie den Kopf: es ist ein fremder Geruch, und das Nußbraune gefällt ihnen nicht mehr, seit sie wissen, daß es keine Schminke ist – man kann niemand verpflanzen. Nein, das kann man wohl nicht. Da steht ihr.

Da steht ihr wie zwei Porzellanfiguren auf einem runden Untersatz, und alle halten kleine Sternchen in der Hand und wollen nach euch werfen. Da steht ihr; allein, isoliert, in einem prasselnden Licht von Hohn, Schadenfreude und Ironie. »Wie geht es Ihrer Frau?« Immer seltener wird diese Frage – sie wollen deine Frau nicht. Worauf du aus Trotz zu ihr hältst. Aber sie sind in der Überzahl, sie haben die Majorität, also haben sie recht, und du Feigling verrätst deine Frau an die andern, nun siehst du sie mit den Augen der andern und siehst:

die Kellnerin.

Ist denn ein anderer Stand eine andre Rasse? Kommt es nicht auf den Menschen an? Ja, es kommt auf den Menschen an. Aber du bist gewarnt worden! Sie hat damals – in den »Drei Königen« zu Bernkastel – einmal zu dir, Referendar, gesagt: »Kennen Sie das, Rosel von der Mosel, du goldig Mägdelein, von Tenor Völker? Wir haben es auf[165] dem Grammophon . . . « und es ist dir kalt über den Rücken gelaufen, denn du hast ja damals schon gewußt: eine dauernde Bindung zu einer Frau ist nur möglich, wenn man im Theater über dasselbe lacht. Wenn man gemeinsam schweigen kann. Wenn man gemeinsam trauert. Sonst geht es schief; sonst geht es schief; sonst geht es schief. Du bist gewarnt worden. Du hast nicht gehört. »Rosel von der Mosel . . . « Pfui Deibel. Wie süß war das Fältchen, damals! Wie gemein sie lacht, heute! Und nun wird sie voller, wir wollen nicht sagen: dick, aber voller . . . warum, Referendar, Assessor, Anwalt, hat sie dich geheiratet? Lüge! Lüge! Du hast sie gewollt! Sie war ein bißchen schwer zu haben, damals; weinrot angelaufene Stammtische haben sie bewiehert, sie zärtlich beklapst, jeder hat zum mindesten einmal gewollt. Hat er gedurft? Hart ist ihr Herz geworden und verhärtet – sie denkt nicht gut von den Männern, aber vielleicht gut von einem, den du nicht kennst. Von dir? Pa! Ihr Blick weiß Bescheid; sie ist hart zu dem Dienstmädchen, das für sie arbeiten muß, sie hat kein Mitleid. Im Gegenteil, sie fühlt die Hierarchie. Aber noch im Vergeltungshaß ist sie mit jener verschwistert, der Kampf geht von gleich zu gleich, und sie steht auf dem Fußbänkchen deines Staatsexamens und deines Titels. Aber man hört doch manchmal, daß solche Ehen auch schon gut gegangen . . .

Warum hat sie nicht einen braven Mann geheiratet? Den Zapfer, der immer am Büfett stand, und der sich schon eine ganze Menge zusammengespart hatte – er wollte mit ihr eine Wirtschaft aufmachen . . . Aber natürlich, einen braven Weinwirt von der Mosel hätte sie heiraten sollen, einen aus ihrem Stand . . . Ist das deine Anschauung von den Klassen? Das ist doch Wahnwitz: Frankreich hat Frauen gesehn, die sich zu königlichen Ehren hinaufgeküßt haben – aus dem Schweinekoben ihres Herrn Papa direkt nach Versailles, warum sollte nicht . . . ? Ja, Frankreich. Du hast es nicht geschafft, Anwalt, du hast es nicht geschafft. Dich ekelt vor ihr. Kinder? Schüttele dich! Kinder von ihr? Von der – Kinder? Am Ende auch solche Huren. Sags doch! Huren! Denn sie ist dir weggelaufen, Gott sei Dank, weggelaufen – sie hat dir einen Brief dagelassen, und du hast ihn zerrissen, in der ersten Wut, aber du kannst ihn auswendig, jedes Wort ist in deine Seele gebrannt, sie hat dir alles gesagt: was du für einer bist, wie sie über dich denkt, über deine Leute, über deine Bücher, über deine Musik, über dein Leben . . . Und mit wem sie dich betrogen hat, und wo! Wo nicht? Mit wem nicht? Eine –

»Fräulein Marietta!«

Wer hat gerufen? Habe ich gerufen? Vielleicht hat der Referendar gerufen. Er möchte Wein haben. Es ist graudunkel.

Sie steht bei ihm und beugt sich über ihn; man weiß nicht, ob es zärtlich ist oder nur so aussieht. Sagen wir: zärtlich. Wo sind Karlchen und Jakopp? Hoffentlich ertrunken. Schwer war der Mosel. Ich muß[166] wohl etwas eingedruselt sein. Ich sehe auf die Rabenuhr. Es ist genau 5 Uhr 13.

Will einmal sehen, wo die beiden andern sind . . . Richtig ja: bezahlen. »Fräulein Marietta!« – Sie kommt, sie lächelt und ich sehe sie an. Ihr Profil ist schön wie eine jener Gemmen, gefunden in den alten Siedlungen der kaiserlich-römischen Legion.


  • · Peter Panter
    Vossische Zeitung, 19.06.1930, Nr. 284, wieder in: Lerne Lachen.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 8, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 164-167.
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