. . . und das Publikum!

[195] »Es gibt keine Autoren«, sagen die Direktoren, weil bei den eingereichten Stücken kein Garantieschein beigegeben ist, daß man durch ihre Aufführung alle Pachtschulden bezahlen kann. Außerdem bildet sich jeder Kunstkommissionär ein, den legendären ›Geschmack des Publikums‹ (womit stets der schlechte gemeint ist) genau zu kennen. »Es gibt keine Autoren«, sagt er.

»Es gibt keine Schauspieler«, sagen die Stückemacher – »es gibt Stars . . . gewiß . . . «

»Es gibt keine Regisseure«, sagen die Schauspieler. »Nächstens wird mir noch einer erzählen, wie ich auftreten soll. Die helfen einem ja nicht – sie stören nur, die feinen Herren!«

»Es gibt kein Theater«, sagen manche Kritiker, womit sie ein Theater meinen, wie sie es sich denken.

Es gibt also keine Stücke und keine Autoren und keine Regisseure und keine Schauspieler und keine Direktoren und kein Theater und keine Theaterdirektoren . . .

Gibt es eigentlich ein Publikum –?


Ja, ein Publikum muß es doch geben. Wir sehen es doch überall . . . was ist das für eine Frage!

Gewiß gibt es ein Publikum.

Aber es gibt kein homogenes Publikum, und das ist eine sehr merkwürdige Sache.

Da sitzen: Rechtsanwälte, Kaufleute, Bankiers, Pädagogen, Ärzte, Prokuristen in Rang und Parkett; kleine Angestellte und Hausfrauen, Musiker und Literaten; Beamte, Richter, Werkmeister, Setzer, Lehrlinge, Schneiderinnen . . . Wie reagiert dieses Publikum?

Abgesehen von der Musik, bei der die Sache recht verwickelt liegt, gibt es in den schönen Künsten nichts Voraussetzungsloses. Der Dramatiker nun, der konkret arbeitet, der klar und deutlich sagen und vor allem zeigen muß, was er will, ist ein Geschöpf seiner Erziehung, seiner Klasse, seiner Bildung. Sein Werk will mit der von ihm vorgenommenen Verteilung von Gut und Böse auf ganz bestimmte Leute wirken und wirkt, vor allem, was die Voraussetzungen des Stückes angeht, nur auf ganz bestimmte Schichten. Das wird ganz deutlich, wenn es sich um moderne Milieu- und Tendenzstücke handelt.

Man könnte beispielsweise vor einem Parkett von Juristenrecht subtile juristische Dinge auf der Szene geschehen lassen; das kann man vor einem bunt durcheinander gewürfelten Publikum nicht – da heißt es: von vorn anfangen, wenig voraussetzen, alles erst erklären . . . also wird manches für den Juristenrecht grob und primitiv sein und bleiben.

[195] So bei den Ärzten. So bei den Theologen. So bei den Kaufleuten. Die ihrerseits wiederum nach Branchen getrennt sind; über eine zünftige Konfektionskomödie wird mit allen ihren Feinheiten ein Stahlindustrieller aus der Ruhr nicht so sehr lachen können – wenigstens nicht über die beruflichen Feinheiten.

So bei den Lehrern. So bei den Landwirten. So bei den Bankiers.

Was ist diesen allen gemeinsam –? Zweierlei.

Das Platte und das Große.

Es wird also nur ein großer Dichter sie alle packen können, einer der an die Fragen rührt, deren Beantwortung oder Nichtbeantwortung alle gleichmäßig quält, solche, die, soweit wir das zu sagen vermögen, ewig sind:

Liebe. Muttergefühl. Haß. Schadenfreude. Hunger. Konkurrenzkampf. Machttrieb. Tragik des zu kurz Gekommenen. Die Macht des Schicksals.

Das ergreift, wenn der Dichter mächtig genug ist, sie alle.

Sonst aber ergreift sie das, was bei allen Menschen auf der alleruntersten Stufe liegt, wie ja denn das Niveau aller Gruppen sich immer nach dem Letzten, niemals nach dem Ersten richtet; bei Gesprächen ist das meist auch so . . . Das Publikum wird also gepackt:

Wenn einem Mann ein Eierkuchen auf den Kopf fällt. Wenn zwei sich küssen, und es freut oder ärgert sich der Dritte. Wenn ein Mann nicht weiß, daß sein schlimmster Feind im Schrank steckt, und er redet unbekümmert drauf los. Kurz: Sentimentalität oder Posse mit Klamauk.

Warum ist das so?

Weil es ein homogenes Publikum fast nur noch auf Verbandstagungen geben kann. Da sitzen denn lauter Leute, die etwa die gleiche Vorbildung, etwa das gleiche Alltagsleben haben; die eine gemeinsame Ebene haben, auf der sie sich treffen. (Trugschluß, zu glauben, daß sie auf dieser Ebene ganz sind – sie leben auch noch auf andern. Niemand ist nur Feuerwehrmann. Er ist auch Schachspieler, Familienvater, Musiker und Blumenfreund, sowie Stenographen-Vereinsmitglied . . . ) Auf solcher Berufstagung oder auf einer Zusammenkunft von Theosophen oder auf einer Versammlung von Vivisektionsgegnern wirkte noch die kleinste Nuance eines fachlichen Milieus oder einer philosophischen Färbung.

Das Publikum der Theater aber ist seiner Zusammensetzung nach heterogen, und das ist in Deutschland um so folgenschwerer, weil besonders in den großen Städten längst nicht mehr jener sanfte Abglanz irgendeines allen gemeinsamen Kulturerlebnisses zugrunde liegt. (In Frankreich ist das anders.) Deutschland ist von je ein Land der kleineren Gruppen und der Individualitäten gewesen – jede Gruppe macht zum großen ganzen ihre separaten Vorbehalte, hat und hütet ängstlich ihre Sonderheiten . . .

[196] Hier ist nicht Schuld und nicht Fehler – das ist ein Schicksal und ein Ergebnis.

Wobei in diesem ernsten Zusammenhang gewiß nicht von den komischen und manchmal bis ins Groteske gesteigerten Berufseitelkeiten gesprochen werden soll, die sich besonders in kleineren Ortschaften austoben: Boykottandrohung gegen das Theater, wenn noch einmal ein Bäckermeister auftritt, der . . . ! Protest des Reichsverbandes Deutscher Schriftstellerei-Besitzer, weil in einem Stück ein Schriftsteller aufgetreten ist, der keinen Bleistift hinter dem Ohr hatte oder der doch einen hatte . . . Entrüstungssturm . . . die Belange . . . !

Aber es gibt kein homogenes Publikum.

Und wenn man von den beiden Grenzfällen des Genialen und des Banalen absieht, so mag es ein moderner Dramatiker nicht leicht haben, zu wirken. Denn die Frage: »Auf wen will ich eigentlich wirken?« – die ist nicht gelöst.


  • · Peter Panter
    Vossische Zeitung, 31.08.1930, Nr. 410.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 8, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 195-197.
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