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[261] Voll – das ist wohl nicht das Wort. Der Nachttisch quillt über, er ächzt, er stöhnt auf seinen vier Beinen – übrigens ist das kein Nachttisch mit einer Nachttopf-Garage, wie Katrinchen sagt, das wollen wir festhalten. Aber vor lauter Büchern ist er gar nicht mehr zu[261] sehen. Kein Wunder . . . ich bin so lange fortgewesen . . . Jetzt . . . jetzt ist der Moment gekommen, wo du nachlässig ein paar geographische Namen hinschreibst, p! was wir alles gesehen haben! Afrika nackt und angezogen, Edschmid gelesen, Afrika war schöner, in Berlin jewesen, dreimal rumjetanzt . . . zur Zeit wohne ich postlagernd, mir selber gegenüber, und da steht der Nachttisch und sieht mich an. Du guter –
Bronislaw Malinowski ›Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien‹ (Grethlein & Co., Leipzig und Zürich). Das müßt ihr mal lesen.
Wissen möchte ich wohl, wie der englische Titel heißt – denn es ist aus dem Englischen übersetzt. Ob da auch dieses törichte Wort ›Wilde‹ steht? Nach dem Inhalt des Buches sollte man das nicht glauben. Der Mann hat eine vorbildliche Art, fremde Völker zu schildern.
Malinowski ist frei von den zwei großen Fehlern seiner Kollegen: die ältern messen, was sie sehen, nach Bond Street, dem siebenten Arrondissement, der Universität Heidelberg, und alle zusammen halten die verstaubten Grundsätze ihrer metaphysischen Warenhäuser für das einzig Wahre und Mögliche. So kommen sie zu lustigen Resultaten. Die Jüngern spielen ›O Bruder Mensch!‹ und fabeln sich da in Bali oder sonstwo wahre Zauberreiche zusammen, bei denen es einen nur Wunder nimmt, daß die hehren Urwesen, die dort wohnen, überhaupt aufs Töpfchen gehen. Malinowski macht das anders.
Er ist zunächst einmal von wundervoller Bescheidenheit. Er hat sozusagen klein angefangen: er hat jahrelang unter diesen Leuten gelebt, die nach seinen Schilderungen wesentlich weniger wild zu sein scheinen als etwa ein mittlerer berliner Börsenbesucher . . . er hat unter diesen Leuten, südlich vom Bismarck-Archipel, westlich von Neu-Guinea, gelebt, hat langsam ihre Sprache gelernt und ist dann allmählich in ihr Leben eingedrungen, soweit das ein Fremder überhaupt kann. Aus der Fülle des Materials heben sich zwei Dinge klar hervor:
Daß es auf der Welt einen Stamm von Menschen gibt, die nicht an die physiologische Vaterschaft glauben. Das heißt, der hier beschriebene Volksstamm auf den Trobriand-Inseln hält die Geburt eines Menschen nicht für die Folge des Geschlechtsverkehrs. Zunächst muß im Leser die Annahme auftauchen: sie haben sich mit dem Forscher einen hübschen Spaß gemacht. Nein, sie haben sich keinen Spaß gemacht. Sie argumentieren allen Ernstes so: Ein Mädchen, das viel Geschlechtsverkehr hat, bekommt oft keine Kinder . . . also? Eine häßliche alte Frau, die für uns alle nur ein Gegenstand des Spottes ist, hat ein Kind, sie kann keinen Verkehr gehabt haben . . . also? Woher die Kinder kommen? Ein Geist bringt sie. Und das sind doch nun Bauern, Leute, die Vieh haben, wenn auch importiertes, die ihren Hunden zusehn! »Das weibliche Schwein pflanzt sich selber fort.«[262] Es ist ganz erstaunlich. Wir wollen hier nicht den Fortgeschrittenen mimen, wir nicht. Denn sicherlich haben die Melanesier einen Schauwecker oder einen Jünger, der ihnen dartut, daß in diesem Mythos Blut und Erkenntnis zusammenstoßen . . . oder was man so sagt.
Der zweite Punkt ist die Bestätigung einer Erkenntnis, die wohl als erster Lévy-Bruhl formuliert hat: daß die Sprache dieser Wilden unendlich kompliziert ist. Wie so vieles von dem, was man auf den Schulen lehrt, falsch ist, so ist es auch die Lehre von den Primitiven. Eine so unendlich komplizierte Sprache, die für alles und jedes ihre eignen grammatischen Formen hat, das soll man sich in Europa suchen. Wir hätten dazu keine Zeit; unsre Sprachen werden ja allesamt immer mehr abgeschliffen, der Genetiv verschwindet, die Auswahl an Tempora wird immer kleiner, der Konjunktiv fängt leider an, leicht komisch zu werden . . . diese Leute da haben Verbalformen, die anzeigen, ob eine Tätigkeit schnell oder langsam ausgeübt worden ist, im Laufen oder im Sitzen, gern oder ungern – das beziehen sie ins Verb ein, es ist ganz erstaunlich.
Seht, die Wilden sind doch bessere Menschen . . . ? Das nicht. Aber sehr rein und unverdorben sind sie; und das einzige, was in diesem Bilde stört, ist die Existenz christlicher Missionare. Man empfindet es als eine Frechheit, diesen Leuten unsre Moral zu predigen, und das ist es ja wohl auch.
Soweit das Geschlechtsleben der Wilden. Das Geschlechtsleben der Gezähmten lernen wir aus einem Werkchen von vierhundert Seiten kennen: ›Die (Klipp–) Schule der Liebe‹ von Diotima (bei Eugen Diederichs in Jena). Die Zeiten sind so traurig, und man ist für jede Aufheiterung so dankbar . . . Auf dem Buchumschlag: »Diotima bittet dringend, alles Nachforschen nach ihrem Namen zu unterlassen, denn sie will nicht auf dieses Buch hin angesprochen werden.« Keine Sorge – auf dieses Buch hin gewiß nicht. Also jetzt gehts los.
Man stelle sich eine brave, normal-sinnliche, etwas mit Edelmut geladene Frau vor, die plötzlich vom Dämon und vom Verlag Diederichs gepackt wird: »Es muß etwas geschehn!« Und es geschieht etwas. Die Dame setzt ihr Geschlechtsleben in ein Manuskript um . . . also das ist nicht zu sagen. Dieser Mangel an Geschmack ist gradezu grotesk. Man sieht ordentlich, wie das arme Wesen dasitzt, an der Schreibmaschine nagt und sinnt: »Was haben wir denn noch gemacht . . . ja, richtig!« und dann gehts wieder los, und sie übersetzt ihre Erlebnisse in ein grauenvolles Deutsch, gemischt aus Freud, einem vermantschten Zeitungsjargon und jenem gehobenen Stil, der sich im Deutschen gern durch substantivierte Infinitive ankündigt: in ein »Nicht-stärker-empfinden-können«. Wenn du irgendwo so einen Infinitiv siehst, dann wisse: hier ist das musikalische Lymphdrüsensystem geschwollen. Der mit Verlaub zu sagen Stil der Dame Diotima ist[263] nicht von Pappe. Doch, er ist aus Pappe. Sie hat eine gewaltige Abneigung, die Dinge, mit denen sie sich nun einmal – die Sache wills, mein Herz! – befassen muß, beim richtigen Namen zu nennen. Daher gibt sie ihnen neckische Kosenamen; man bekommt die Seekrankheit auf festem Land. »Liebesmuschel« ist ja schon nicht heiter – aber wenn ich denke, daß das jemand »Liebeshöhle« nennt, dann gehe ich einsam in ein monogames Eckchen und weine vierzehn Tage lang, und Erika hat nichts zu lachen in der Zeit. Bin ich ein Höhlenbewohner? Ach, ist das ein Buch! Ich bringe es über mich, eine dieser Passagen zu zitieren – erröten kann der Umschlag der ›Weltbühne‹ nicht, ich fürchte, er wird blau und grün werden. Item:
»6. Wer es wagen kann, stelle den geschlossenen Kreislauf der Liebe her, wo sich nicht nur unten und unten und oben und oben im Kuß verklammert, sondern jedes Oben mit jedem Unten geeint ist und den Kreis schließt (69). Es sei noch bemerkt, daß sowohl die sechs wie die neun ja nicht nur auf der Seite, sondern auch beiderseits abwechselnd auf dem Rücken liegen kann.« In einem der Werke der Psychopathia sexualis habe ich ein bestimmtes Dokument immer mit dem größten Vergnügen gelesen; es findet sich bei Merzbach: ›Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinns‹. Da schreibt ein Buchhalter an eine ihm offenbar recht ergebene Dame einen nicht völlig wiederzugebenden Brief; der Mann hatte wohl seine kleine Befriedigung in solcher Schreiberei, und der Brief fängt so an: »Meine liebe Freundin! Hoffe Dich im Besitze der meinerseits versprochenen Ansichtskarten und habe erst heute Zeit, die Ihnen ebenfalls versprochenen Zeilen zu senden, worin mein Entzücken ausdrücke über Deinen süßen . . . « Und fährt fort: »Beides hätte gern, aber wir müßten beiderseits respektive allseits nackend sein.« Diotimus oder: Franzeescher Schick und deutsche Jründlichkeit.
Wir wollen uns hier nichts von Galanterie erzählen. Wer ein so albernes Machwerk der Öffentlichkeit vorzulegen wagt, der verdient keinerlei Schonung. Diese Mischung aus Ungeschmack, flanellner Geilheit, Mystik und falscher Bildung muß ausgelacht werden. Wird sie das? Mitnichten. Das Buch hat wunderschöne Empfehlungen auf den Weg bekommen, ihm durchaus adäquate. Daß es Wilhelm Bölsche empfohlen hat, ist in der Ordnung: es ist ihm ganz nahe. Daß ein Pfarrer schreibt, er wisse keine Stelle, wo er nein sagen müßte, läßt auf sehr bedenkliche Vorgänge im Pfarrhause schließen. Auch Katharina von Kardorff-Oheimb hat das Buch warm empfohlen (wie denn nicht – gehst her!), und Frau Margarete Garduhn, geborne Saunier, wissen Sie, von den Sauniers . . . aus Stettin, schreibt: »Und als ich das Buch in der Hand hielt, dachte ich, daß doch bis jetzt noch niemand vorher das wahre Wesen der Liebe erfaßte und eben auch den Kampf darum. Jedenfalls, ich las das Buch – vor meinem Mann . . . « Genug.
[264] Neulich habe ich mich einmal darüber ausgesprochen, in welcher Massenhaftigkeit die Empfehlungsschreiben Thomas Manns herausgehen. Darauf hat mir Hans Natonek in Leipzig sehr gut und verständig geantwortet: es sei doch nett von Thomas Mann, sich für den Nachwuchs einzusetzen, und wer denn das sonst tue. Das ist ein Standpunkt. Aber es ist doch auch einer, diese unsägliche Manieriertheit Manns zu verlachen, der die Schmiererei Diotimas also apostrophiert: »Ich habe das Werk der kundigen und tapferen Sybille mit Respekt und Vergnügen gelesen und finde, daß man das Ewig-Weibliche noch nie mit so viel gesundem Freimut über die Liebe hat sprechen hören. Ich bin keine sehr galante Natur . . . « Wenn sie denn sind über fünfzig, dann kriegen sie es mit dem Olympischen, und da wollen wir nicht stören. Diotima aber wird sich noch oft, wie auf dem Buchumschlag steht, »mit künstlerischen und wissenschaftlichen Problemen herumschlagen«, sie wird noch viel erleben, ihr Mitarbeiter wird das seinige tun, und wenn es vorbei ist, wird uns das junge Paar den Irrigatorenmarsch blasen, und wir bekommen einen neuen Band. Eine Kochfrau der Liebe.
Nunmehr zu einem ernsten Frauenbuch. ›Mrs. Biest pfeift‹ von Helen Zenna Smith (bei S. Fischer in Berlin erschienen). Das ist ein anständiges Buch. Es gibt ein paar Ausschnitte aus dem Leben der englischen weiblichen Freiwilligen, die sich für den Sanitätsdienst und für den Autodienst der Sanitätskolonnen gemeldet hatten. Die Ausschnitte sind scharf und gut, die Tendenz brav, mir zu brav. Das Werk will tendenziös sein – also darf man es daraufhin ansehen. So ein Buch brauchte gewiß nicht mit der traditionellen roten Fahne aufzuhören, das sind ja kindliche Forderungen an die Kunst. Aber die Schlußfolgerungen fehlen; es ist auch in der Schilderung und durch die Schilderung wenig von dem erklärt, was gezeigt wird. Daß sich die Mädchen ein Kind verursachen lassen, wird gesagt; daß sie im Dreck liegen und daß es mit dem Essen nicht klappt, wird gesagt; es wird auch gesagt, daß die Vorsteherin, eben Mrs. Biest genannt, pfeift und wie pfeift! Aber was dahinter ist, wird nicht gesagt, es wird nicht einmal angedeutet. Also steht zu befürchten, daß es die Verfasserin gar nicht gesehen hat. Daß nämlich die unterdrückten Triebe der Dame Biest von einem System dazu benutzt worden sind, um den ›Patriotismus‹ hochzuhalten – an ihrer kleinen Stelle, auch sie. Wie ja überhaupt in allen diesen Kriegsbüchern der Zwang, marschieren zu müssen, niemals diskutiert wird, er wird stillschweigend als selbstverständlich vorausgesetzt, und nun werden einzelne Unzuträglichkeiten, Grausamkeiten, Schweinereien aufgezeigt . . . aber der Zwang zu marschieren, für das Vaterland zu marschieren, der bleibt. Es sind ungefährliche Bücher. Lasset uns die gefährlichen schreiben.
Im übrigen ein sauberes Buch und ein ganzer Kerl, der das geschrieben[265] hat. Ein Mädchen mit festem Schritt und mit klarem Kopf. Ich möchte sie nicht in langen Kleidern sehn.
Weil wir grade bei den Kriegsbüchern sind: die deutsche Ausgabe der ›Croix de Bois‹ von Roland Dorgèles liegt im Montana-Verlag (Horw-Luzern) vor. ›Die hölzernen Kreuze‹. Die sehr schwierige Übertragungsaufgabe ist nicht schlecht gelöst. Der Ordnung halber und nur als kleine Anmerkung: »Mon lieutenant« heißt wirklich nicht »Mein Leutnant«. Denn ›mon‹ ist hier kein besitzanzeigendes Fürwort, sonder eine alte Abkürzung von ›monsieur‹. Es heißt also ›Herr Leutnant‹. Das Buch gehört zu den besten Kriegsbüchern, die erschienen sind, obgleich es die pazifistischen Forderungen nicht erfüllt. Karl Bröger, der im Jahre 1914 entdeckte, daß der deutsche Arbeiter nichts Besseres zu tun hätte, als die kapitalistischen Schützengräben für eine Sache zu füllen, die ihn einen Schmarrn anging, hat mich gefragt, wie ich denn dieses Buch loben könne – es sei doch nicht streng pazifistisch. Das ist es auch nicht. Aber ich habe kein pazifistisches Parteibuch, wenn es um die Kunst geht – nie ist hier behauptet worden, daß diese Literatur die Kriege abschaffen wird. Ich meine nur, daß das Werk turmhoch über Brögern und wolkenkratzerhoch über den Schmierereien nationalistischer Lümmel steht, die aus dem Kriege eine sehr bekömmliche Konjunktur gemacht haben. Der französische Soldat ist ein verkleideter Zivilist, der deutsche Zivilist ist ein verkleideter Soldat.
Von der Seele des Franzosen . . . nein, von der Seele Clemenceaus sagt aus: René Benjamin ›Clemenceau dans la retraite‹ (Paris, Librairie Plon). Also etwa ›Clemenceau a. D.‹. Ich bin nicht recht kompetent für diesen Mann, ich mag ihn nicht. Die Deutschen mögen ihn auch nicht . . . »Der Philister«, steht bei Hebbel, »hat manchmal recht, aber nie in den Gründen.« Bei Rowohlt sind über Clemenceau zwei Bücher von Martet herausgekommen, aus denen man manches über ihn erfährt. Benjamin ist breiter, epischer, er gibt dabei mehr Empfindung und weniger Material. Der scharfe ätzende Witz Clemenceaus ist auch hier an vielen Stellen spürbar. Unermüdlich sind die Pfaffen am Werk gewesen, den Alten noch vor seinem Tode herumzukriegen. »Und wenn ich nun«, rief einer von ihnen aus, »mich auf die Steine Ihrer Türschwelle hinkniete, was täten Sie dann –?« – »Ich brächte Ihnen einen Strohsack, mon père!« sagt der Vater des Sieges, Oder an einer Bahnsperre: »Lassen Sie die Herren nur durch! Der ist Senator, der ist Abgeordneter, und der da stiehlt.« Stiehlt auch . . . hat er nicht gesagt.
Was Frankreich und insbesondere Paris angeht, so habe ich die Ehre, den besten pariser Führer, der mir in deutscher Sprache bekannt ist, anzuzeigen: ›Paris‹ von Paul Cohen-Portheim (erschienen bei Klinkhardt und Biermann in Berlin). Das ist für beide etwas: für den, der Paris gar nicht kennt und der dies Büchlein unbedingt vorher lesen[266] und dann mitnehmen sollte: er wird gut bedient werden. Und für den, der die Stadt kennt und liebt: der wird vieles darin finden, das er nicht gewußt und nicht gesehen hat, und er wird nun manches besser verstehen. Ich habe auf 222 Seiten keinen Satz gefunden, zu dem ich etwa hätte sagen können: Nein, so ist das nicht. Portheim ist ein wundervoller Kenner – eben nicht nur von Paris . . . denn wer nur Paris kennt, der kennt Paris nicht. Portheim kennt Frankreich, und das merkt man aus jeder Zeile. Eine Fülle von Kenntnis, Wissen und guten Beobachtungen sind hier in unaufdringlicher Form verarbeitet – bravo!
Einen Baedeker durch die Zeit gibt Ilja Ehrenburg ›Visum der Zeit‹ (erschienen bei Paul List in Leipzig). Sehr lesenswert. Ich kann Ihnen nichts daraus zitieren; es ist alles so ineinanderverflochten, daß ich nicht schneiden mag. (Wenn man von dem reizenden Satz absieht, daß die französischen Dichter immer grade für genau zwölf Francs dichten, ungefähr 300 Seiten, keinesfalls mehr . . . ) Es ist viel Witz in diesen Schilderungen – ein gelassener Witz. Ein merkwürdiges Buch. Das Buch ist so traurig – es ist ein braunes Europa, das da geschildert wird. Ehrenburg hat sehr viele Länder bereist, einige davon kenne ich auch, und ich muß bewundern, mit welcher Geschicklichkeit er sich in den Geist und in die Seele dieser Länder eingelebt hat. Bei den slawischen hat er das natürlich leichter als unsereiner – aber auch bei den andern ist es ihm gelungen. Die ›Rote Fahne‹ hat neulich bestritten, daß Ehrenburg den ›richtigen Marxismus‹ adhibiere – ich weiß zum Glück nicht, was das ist. Aber daß in diesem Buch keine Zeile ist, die nicht auf das tiefe tragische Wirtschaftsdurcheinander hinweist, das weiß ich. Besonders schön ist, wie er überall den Bauern versteht, die Erde, das Wasser – das, was unter der Zivilisation ist. »Der Demokratismus des dörflichen Georgien ist aristokratisch. Ich erinnere mich, daß Gorki von einem ähnlichen Aristokratismus der italienischen Arbeiter schrieb. Es ist die hohe Fähigkeit, zu leben, ohne die Erde und den Menschen zu beleidigen.« That's. Vielleicht lernen wir das bei den Artamanen? Ich glaube es nicht
Wir können wenig bei unsern nationalen Bünden lernen – sie sind zu dumm, zu dumpf und zu geduckt. Daher ihre Frechheit. Man sieht schaudernd, wessen deutsches Wesen fähig ist – man vergißt nur zu leicht, was Deutschland einmal hervorgebracht hat. Es ist immer gut, zu erinnern. Heinrich Fischer erinnert. ›Die Vergessenen, Hundert Deutsche Gedichte des XVII. und XVIII. Jahrhunderts‹ (erschienen bei Paul Cassirer in Berlin). Wenn Sie selber es nicht lesen – dann verschenken Sie es wenigstens.
Aber Sie sollten es lesen. Fischer hat mit dem feinsten Geschmack und mit dem saubersten Gefühl für die deutsche Sprache alte Verse herausgesucht – weit, weit ab von jeder Sentimentalität. Das zeigen[267] schon die Namen der Ausgewählten: Fleming, Simon Dach, Weckherlin, Johann Christian Günther, Ramler, die Karschin, Stolberg – und wenn ich hinzufüge, daß die Anmerkungen den Versen adäquat sind, so ist das das Schönste, was man von ihnen sagen kann. Sie enthalten meist Zeugnisse der Zeitgenossen und sind so um so aufschlußreicher. Eine liebevolle Hand hat diesen Band zusammengestellt, und ein Gehirn hat daran gearbeitet, das jedes Wort und jeden Buchstaben der geliebten Sprache so aufnimmt, wie er aufgenommen werden muß. Es ist Heinrich Fischer gelungen, durch seine geistige Haltung eine Atmosphäre zu schaffen, in der man einen guten Vers dahin legt, wohin er gehört: auf die Goldwaage. Und die meisten Verse in diesem Buch halten das aus. Man muß eben nicht mit Zeitungsaugen lesen. »Mit dem Pathos ist es aus . . . « habe ich neulich gehört. Nein, man muß es nur zu hören verstehen, wenn mans schon nicht hervorbringen kann. Das ist ein unmodisches Buch – es ist, soweit wir denken können, ein Buch auf lange Sicht. Fischer hat, zum Glück, nichts für diese Vergessenen ›getan‹, aber sehr viel für seine Leser – er will keinen Reichsverband gründen . . . Ein Dichter grüßt vergessene Dichter.
Da sitzt . . . da sitzt Aurora, die Winterfliege. Es lohnt nicht, das ganze Zimmer mit Flit zu bespritzen, das ist diese kleine Fliegenspritze – sie ist das Loch, durch das meine Grausamkeit entweicht. Aber es riecht dann nach Petroleum. Da sitzt sie. Das dicke Aas. Und morgen früh wird sie mich mit ihrem Gesang aufbrummeln, um sieben Uhr, und ich möchte gern ausschlafen. Noch einen Augenblick . . . noch einen Momang, meine Gute . . . bleib, bleib sitzen. Diotima, komm her. Du bist so schön und handlich. Deine seelische Einstellung kommt mir grade recht . . . Bumm – bautsch!
Aurora hin. Diotima aus dem Leim. Ich habe das »Seelische mit naturhafter Sinnlichkeit verbunden«, wie auf dem Umschlag steht, und in diesem Sinne wende ich solcher Sorte Literatur meine gewölbte Kehrseite zu. Gute Nacht.
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