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[139] Obenauf ein schmales Bändchen: Das Reclambändchen Nr. 7003 – ›Eine Bibliothek der Weltliteratur‹ von Hermann Hesse. Das ist eine vorbildliche kleine Literaturgeschichte.
Ich halte Hesse für einen Schriftsteller, dessen Qualitäten als Essayist weitaus größer sind als seine dichterischen Eigenschaften. In seinen Dichtungen ist er entweder weitschweifig, zokkersüß, wenn es auch wirklicher, guter Kristallzucker ist und keine Melasse, manchmal wäich und dann wieder säuerlich. Seine Buchkritiken dagegen haben zur Zeit in Deutschland kein Gegenstück; seit Josef Hofmiller unter die Nationalisten gefallen ist, erst recht nicht. Aus jeder Buchkritik Hesses kann man etwas lernen, sehr viel sogar. Und wie diese kleine Anweisung, sich eine Bibliothek zusammenzustellen, gemacht ist, das ist nun zum Entzücken gar. Sie ist ganz subjektiv, und nur so ist auf diesem Ungeheuern Gebiet so etwas wie Sachlichkeit zu erzielen. Wer sich nach diesem Bändchen richtet –: der tut wohl daran. Es steht wolkenkratzerhoch über den gangbaren Literaturgeschichten.
Was die Leute nur mit diesen dicken Wälzern haben . . . ! Es gibt doch keinen Menschen, der über alles gleichmäßig Bescheid weiß; es kann also, wer eine Literaturgeschichte verfaßt, bestenfalls eine saubere Bibliographie geben, um grade solch eine Literaturgeschichte, die mich vor allem einmal klar und sorgfältig und ohne Schmus über Tatsachen unterrichtet, von denen ich etwas wissen möchte –: die kenne ich nicht. Ich kenne anständige, wie die von Wiegler, ich kenne Scheul und Greul wie die von Bartels, der außerdem noch ein Schludrian ist; den hausbacknen und dumm-dreisten Eduard Engel, den lächerlichen Soergel . . . Es gibt da eine sehr einfache Art, Stichproben zu machen.
Man suche sich in solchen Literaturgeschichten jene Dichter, die man liebt und wirklich kennt. Da wird man sein hellblaues Wunder erleben. Meist auch nicht der Schimmer einer Idee – sie lieben sie nicht, sie hassen sie nicht, und sie geben nicht einmal eine ganz und gar vollständige Bibliographie. Was soll das also alles –?
Das soll den Bildungsfimmel des deutschen Durchschnitts-Lesers befriedigen. Diese Brillenkerle lesen viel lieber etwas über einen Dichter, als etwas von einem Dichter; der Konsum in Literaturgeschichten ist ungeheuer. Es muß wohl so sein, daß sogar den Lebenden dieser Ausblick auf eine imaginäre Unsterblichkeit imponiert; wie wäre es sonst zu erklären, daß eine Reihe Schriftsteller, darunter achtbare Männer, diesem leeren und kindischen Albert Soergel, der nie gewußt hat, wo der Gott der Dichtung wohnt, eine Festschrift zum Geburtstag überreicht haben? Wahrscheinlich zu seinem 150. Geburtstag, nach seiner Literaturgeschichte zu schließen, in der die Dichter nach völlig wahnwitzigen Kategorien antreten müssen: »Seele als Ausdruck –[139] Wiener Halbexpressionismus – Angstträumer und Gottsucher – Einzelgänger . . . « Kurz und gut: Kauft euch für die paar Pfennig das Bändchen Hesses, und ihr werdet gut bedient sein. Wer das wirklich gelesen hat, was er dort fordert –: der hat etwas hinter sich gebracht.
Zu den standard-works solch einer gut angelegten und planmäßig gesammelten Bibliothek gehört natürlich Stendhal. Ich habe neulich nach langer Jagd eine gute Ausgabe des nachgelassenen ›Lucien Leuwen‹ erlegt (Paris, Ausgabe: Le Divan Paris 37 rue Bonaparte – nicht sehr teuer). Es sind drei kleine Bände, wunderhübsch gedruckt, mit winzigen roten Vignetten.
Bei uns steht bei jedem Fliegenhusten von Buch vorn auf dem Titel: »Roman«. Hier steht das Wort nicht – aber das ist ein Roman. Das ist einer.
Ich lasse bei dieser Betrachtung alles Dichterische beiseite, soweit das möglich ist, und die lange Liebesgeschichte in Nancy schenke ich euch. Aber das, was die Kritiker heute mit vollem Maul das ›Soziologische‹ nennen . . . ! Wie das bei Stendhal quillt und blüht; wie sich die Einzelheiten nicht jagen, sondern unaufdringlich eine nach der andern hervorkommen; wie der Dichter über dieses ungeheure Material der Louis-Philippe-Gesellschaft gebietet, wie scheinbar mühelos das ist – das hat ein Herr geschrieben. Manchmal stehen da noch Randnoten, denn der Roman ist nie vollendet worden, manche Partien sind gar nicht zu Ende gearbeitet, und in diesen Randnoten finden sich die hübschesten Dinge. Wann Herr Beyle grade Kopfschmerzen gehabt hat, und daß es an diesem Arbeitstage heiß gewesen sei, und daß jenes Kapitel noch mal geschrieben werden müsse – und dies Uniformdetail stimme nicht, man wird sich erkundigen müssen, und diese Entgegnung Leuwens sei ja sehr hart, aber . . . Was sieht man daraus?
Daß ›Roman‹ ein Ehrentitel ist, der nur einem wirklichen Weltausschnitt zukommt – und daß diese Weltausschnitte nicht hingeschrieben werden können, wie sich das so viele Schriftsteller denken, von den schreibenden Frauen schon gar nicht zu sprechen, sondern daß man sich dergleichen erarbeiten muß, neben allem andern. Dies hier ist gearbeitet. Wer lernen kann und lernen will, der lerne.
Begeben wir uns an die kurze Form.
Kurze Form: O. Henry ›Bluff‹ (bei Gustav Kiepenheuer in Berlin erschienen). Manchmal kommen wirklich, wenn ich ein Buch hier besprochen habe, Anfragen an den Verlag, wo man das wohl bekommen könnte. Im Schlächterladen, meine Lieben. Wohnt ihr auf dem Lande, dann schreibt an die nächste große Buchhandlung – und wohnt ihr in der Stadt, dann dürft ihr euch doch wirklich nicht davon abschrecken lassen, daß der Sortimenter das Buch nicht vorrätig hat. Das kann man von keinem verlangen – ein so großes Lager gibt es nicht. Man muß den Sortimentern, gegen die ich mancherlei auf dem Herzen habe, das[140] Leben nicht noch schwerer machen, als sie sichs schon gemacht haben. Dies nebenbei.
Die Geschichten Henrys, neben dem Australier Bret Harte einer der besten Leute für amerikanische Kurz-Geschichten, sind eine wahre Freude. Wie das gebaut ist –! Wie das sitzt –! Fast jede Geschichte hat einen kleinen Dreh, einen Trick, eine Überraschung . . . eine kann man sogar öfter lesen; sie heißt ›Die Straße, die wir wählen‹. Das rührt nun schon an ernste Literatur. Ganz wundervoll. Henry hat viel Witz, viel Ironie. »Und Mama und Papa waren in die Metropolitan gegangen, um de Reszke zu hören. Wenn der Verfasser klug gewesen wäre, hätte ers auf den Fahnen in Caruso umgeändert. Aber das ist nicht meine Schuld. Es zeigt bloß, wie lange sich diese Geschichte in den Redaktionen herumgetrieben hat.« Oder: »Zwei Monate lang lungerte Colloway in Yokohama und Tokio herum und würfelte mit den andern Korrespondenten um Gläschen Rikshas – nein, das ist etwas, worin man fährt . . . « Und so. Es muß eine Rasseeigentümlichkeit sein: bei uns gedeiht das nicht. In den Zeitungen und Magazinen wimmelt eine Sorte herum, die ahmt den Ton der englischen Kurzgeschichte nach, ganz genau, wie jene sich räuspern und wie sie spucken, besonders dies – aber in den Geschichten steht nichts drin. Die allerarmseligsten Einfälle, über fünf Spalten weg . . . diese Knaben sollten bei Hebel anfangen.
Wie Henry übersetzt ist, weiß ich nicht, denn ich kenne das amerikanische Original nicht. Klingen tuts nicht schön. Der Übersetzer, Paul Baudisch, hat sich da etwas zurechtgemacht, wenn er Slang übersetzt . . . das ist recht scheußlich. Es wimmelt von Apostrophs, und wenn doch diese Gilde endlich einmal lernen wollte, daß die kleinen Hauptsätze, mit denen der Angelsachse die Hauptsache einleitet, mit Adverbien zu übersetzen sind! »I guess« heißt mitnichten »Schätze . . . « – das ist Quatsch. So sprachen die alten Trapper aus unsern Indianergeschichten: »Schätze, der Mustang ist weggelaufen« . . . laßt doch das sein –! »I guess« heißt manchmal: ›wahrscheinlich‹, und manchmal ›Wissen Sie‹ und manchmal ›wohl‹ und meistens heißt es gar nichts. Merkwürdig, aus welchen Händen unsre Übersetzungen kommen!
Kleine Form: ›Quer durch‹ von Ernst Toller. Reisebilder und Reden (erschienen bei Gustav Kiepenheuer in Berlin). Das ist ein sympathisches Buch. Amerika – Rußland – einige politische Reden . . . sehr lesenswert. Zu dem Schlachthaus-Kapitel kann ich nicht recht Ja sagen; ich habe einmal etwas Ähnliches gemacht und weiß, wie sehr man da, vom Blutgeruch umfangen, in der Gefahr ist, die Toller übrigens selbst charakterisiert: »Werden Sie nicht sentimental, Herr Toller!« Gewiß schlägt die Quantität des Blutes hier in die Qualität um, aber schließlich ist ja das Endresultat in jeder Dorf-Abdeckerei dasselbe. Im übrigen ist Toller so schön unbeeinflußt in den Ländern umhergegangen;[141] wieweit man Vorurteile mit auf Reisen nimmt und sie sich dann bestätigen läßt, steht dahin. Ich kenne beide, Rußland und Amerika, nicht und darf daher nur sehr vorsichtig mitsprechen. Immerhin machen alle Aufzeichnungen den Eindruck unbedingter Wahrhaftigkeit. Sie sind besonders für Rußland ohne die leiseste Prätention; Toller sagt nur: »Ich kam, ich sah, ich schrieb – hier habt ihrs.« Man liest es mit großem Interesse, zum Beispiel, wie ganz Moskau von ihm den Kopf abdreht, weil in der ›Prawda‹ ein Aufsatz gegen ihn gestanden hatte: ein böses Symptom von moskauer Byzantinismus und geistiger Unselbständigkeit. Reizend eine kleine Stelle aus der amerikanischen Reise, steht auf einer Seite mit recht ominöser Nummer. »Die roten Lampen, die früher die Straßen der Prostituierten zierten, sind verschwunden; sie hängen jetzt hinten am Auto, sagt man in Amerika.« So ist das! Jetzt weiß ich Bescheid. Die meisten Amerikaner werden also in Autos gezeugt; daher das Tempo. Ich bin gegen den Fordschritt.
Ich habe eine stille Liebe zu Tollem. Der Mann hat das, was wir heute alle sagen, in jenen Jahren 1916 und 1917 gesagt, als das noch Kopf und Kragen kostete; er hat seine Gesinnung auch im Kriege entsprechend betätigt; er hat diese Gesinnung durchgehalten, mit der Tat und mit dem Wort, und er hat für diese seine Gesinnung bezahlt. Und das darf man nie vergessen.
Nicht zu lesen, nur zu besprechen ist: ›Das deutsche Offizierkorps‹ von Karl Demeter, Archivrat am Reichsarchiv. Aus der Vorrede: »Ungeachtet der amtlichen Stellung des Bearbeiters hat das Reichsarchiv keinerlei irgendwie gearteten Einfluß auf dessen wissenschaftliche Freiheit ausgeübt.« Freiheit ist gut.
Die Tür zur Geschichte ist nicht von uns besetzt; da liegen die andern und fälschen uns um. Dieser hier lügt wenig – aber er verschweigt alles. Aber auch alles.
Sehn wir von der wildgewordenen Terminologie eines dilettantischen Soziologen ab: zu gebrauchen sind eigentlich nur die paar Kabinetts-Erlasse. Das Buch ist in einem Stil geschrieben . . . ach, was hat diese Soziologie angerichtet, die ja keine ist! »In jedem Falle entsteht dieses Solidaritätsgefühl teils durch objektive Gegebenheiten, teils durch bewußte subjektive Einwirkungen. Natürlich sind die beiden Momente, das statische und das dynamische, eng miteinander verflochten, ununterbrochen wird wechselseitig das eine aus dem andern erzeugt, und doch besteht jedes für sich als bestimmendes Agens für jenes soziologische Phänomen . . . « davon leben nun heute Hunderte von Menschen. Und es ist ein völlig inhaltloses Geschwätz; da steht immer einer vor seiner eignen Bildung stramm.
Nun, was also Demeter zu sagen weiß, ist nicht viel; was er aber alles nicht sagt: die grenzenlose Erbitterung der Vernünftigen gegen diese Offiziere; der Schaden, den sie im Ausland angerichtet haben;[142] die tiefe Kulturlosigkeit . . . kein Wort davon. Die schnöseligen Erben eines echten Preußentums kommen gut weg. Manches, wie die Mißhandlungen wehrloser Untergebner, die wilhelminischen Kinkerlitzchen auf dem Gebiet der Uniform: das wird sanft zugegeben, aber nur sehr zaghaft. Wichtig sind allein die Kabinetts-Erlasse, aus denen klar hervorgeht, was man ja gewußt hat: die deutsche Armee ist ein politisches, ein parteipolitisches Instrument gewesen. Selbstverständlich. Zum Glück waren die Herren für eine geschickte Propaganda zu dumm und zu ungebildet. Das hat sich gewandelt.
So, und nun möchte ich weniger den einzelnen Leser, als vor allem jenen aufmerksam machen, der für Bibliotheken und Schulen Bücher kaufen kann, und zwar möchte ich ihn auf die schönste Publikation dieser Art hinweisen, die ich jemals in deutscher Sprache zu sehen bekommen habe.
›Gesellschaft und Wirtschaft‹, ein bildstatistisches Elementarwerk, herausgegeben vom Bibliographischen Institut AG. in Leipzig. Wer Kinder zu unterrichten hat; wer Volkshochschulkurse leitet; wer eine Arbeiterbibliothek betreut –: der sollte sich dieses Werk nicht entgehen lassen. Das Gesellschafts- und Wirtschafts-Museum in Wien hat folgendes gemacht:
Jeder von uns kennt die Zeichnungen, die eine Statistik verbildlichen sollen: kleiner Mann links, das ist die deutsche Reichswehr, und großer Mann rechts, das sind die bösen Feinde – und dergleichen. Nur, leider: die Verhältnisse stimmen fast niemals, die Zeichner haben nach den ihnen übergebenen Zahlen abgeschätzt, um wieviel größer jener Export ist als dieser, und dann haben sie das so ungefähr dargestellt, praeter propter, wie der Berliner sagt. Diese Zeichnungen sind denn auch meistens nur ganz grobe Schemata, und das Auge sieht fast immer nur drei Größengrade: klein, größer, groß. Das wiener Museum nun stellt in diesem Atlas die Zahlenverhältnisse ganz anders dar. Es arbeitet mit kleinen Figuren, mit Männerchen und Körben und Zuckerhüten und Kartoffelsäcken, und es vergrößert nun die Figuren nicht, sondern setzt sie so oft nebeneinander, wie sie in den verschiedenen Gesamtsummen enthalten sind; zwanzig kleine schwarze Männerchen bedeuten also zum Beispiel zehn Millionen und zehn kleine Männerchen fünf Millionen. Das nimmt das Auge viel besser auf als die großen und kleinen Figuren, und so ergibt sich ein höchst lehrreiches Bilderbuch, dessen Tafeln uns auf einen einzigen Blick zeigen, was los ist.
Es sind 98 Tafeln, und man kann aus ihnen ablesen:
Bevölkerungsdichte zu vielen Zeiten und in vielen Ländern; Erdölwirtschaft der Erde; Statistik der Arbeitslosigkeit; Streiks; Vermögensverteilung im Deutschen Reich und so fort und so fort. Es ist das allerlehrreichste Konversationslexikon, das sich denken läßt – dazu[143] sehr geschmackvoll gedruckt, in wunderhübschen Farben, und alles ist amüsant und tut dem Auge wohl. Wer da weiß, worüber Leute so diskutieren, ohne auch nur im Besitz der allereinfachsten Zahlenangaben zu sein, der wird diesen Atlas gern zur Hand nehmen. Volksbibliotheken und Bildungsanstalten sollten ihn unbedingt besitzen. Statistik verflacht ja vieles, und ein bißchen mißtrauisch darf man bleiben, nicht gegen die Verfertiger des Atlas, die ihre Quellen sauber angeben, sondern gegen die Statistik selbst, diese süße Form der Lüge. Manche Blätter darf man auch kritisch lesen: so ist zum Beispiel die Wohndichte in den Großstädten so berechnet, daß die Straßen in die Fläche miteingerechnet sind, wodurch das Bild nicht ganz klar wird, und bei der Darstellung der Rüstungen kommt Deutschland unverhältnismäßig gut fort. Aber das sind kleine Schönheitsfehler – der Atlas ist ein Meisterwerk pädagogischer Statistik.
Beschließen wir unsre heutige Bücherpredigt mit ›Un mois chez les filles‹ von Maryse Choisy (Éditions Montaigne, Paris, 13 Quai de Conti, Fernand Aubier). Es muß eine deutsche Ausgabe vorhanden sein – ich kenne sie aber nicht.
Tatbestand: Die Chiromantin des ›Intransigeant‹ ist in die Puffs gegangen. Erschrecken Sie nicht: nur der Wissenschaft halber. Und das hat sie so gemacht, daß sie sich dort als ›sous-maîtresse‹ verdungen hat . . . das ist also so ein Zwischending zwischen Aufseherin und Dienstmädchen. Das könnte doch nun sehr gut sein; schade, daß E. E. Kisch nicht . . . aber man soll nichts verschwören. Leider ist das Buch ein großer Schmarrn.
An Ehrlichkeit des Vokabulariums läßt es nichts zu wünschen übrig. Die Verfasserin – o Diotima! – sagt rechtens so: »Nichts ist mir so widerwärtig als: kleine Ferkeleien im Stil von Anatole France zu formulieren. Ich schreibe, ohne Zögern: merde, cul, sexe. Das sind klare Wörter, denen man den Vorzug geben soll, frei, mutig, – Wörter, die ein Bild wiedergeben, eben weil sie wenig gebräuchlich sind« (sie meint: im Schrift-Französisch). »Aber drucken zu lassen: ›Er vergnügte sich mit diesen winzigen, durchaus nicht unschuldigen Kleinigkeiten, mit denen ein Mann seine Frau zu befriedigen sucht‹, scheint mir feige Pornographie zu sein.« In Ordnung.
Was dann kommt, ist weniger in Ordnung.
So schön kann Frau Choisy gar nicht sein, als daß sie sich nun immerzu mit dem dreifach gedoppelten Ausruf: »Ich aber bin eine anständige Frau« zwischen uns und die Huren drängt. Was sind das für Mätzchen? Was das für welche sind? Kleinbürgerliche, wie sich aus ihren gradezu monströsen Anschauungen über die Prostitution ergibt. Eine Närrin, die nicht über ihr Arrondissement denken kann. Ich weiß schon: das sei der unbeirrbare Rationalismus der Franzosen. An den glaube ich – aber die Sache hat ihre Grenzen. Wirtschaftslagen sind[144] nicht ewig, wie diese Bürger und Bürgerinnen glauben. Das ist nichtsnutzig, und es ist wertlos, so zu denken.
Dagegen sind Einzelheiten sehr gut, weil sie offenbar wahr sind.
Der Kerl, der sich ins Bordell einen Koffer mitbringt und sich dort in ein altes Brautkleid hüllt, ist ein schönes Exemplar aus einer Psychopathia sexualis, ein melancholisch-irrsinniges – das lohnt zu lesen. Und jene, die herunterkommt und Krach macht, weil ein englischer Kunde immer seine Zigarre raucht, wenn er sie liebt, und dann jene – das muß ich im Original hersetzen: Man kann es sehr gut übersetzen; aber man kann es nicht gut übersetzen.
Also: Es ist Sonnabend abend, das ganze Haus ist voll, Julie kommt von oben heruntergedonnert. »Was ist?« – »Ach, ach . . . !« – »Na? Was ist los? Krank?« – »Ach, wenn es das wäre!« – »Also? Hat er nicht gezahlt?« – »Ach, wenn es bloß das wäre – Noch viel schlimmer – noch viel schlimmer!« – »Erzähl! Erzähl schnell! Los!«
– »Un michet (ein Kavalier) . . . Je ne sais comment il s'y est pris. J'ai eu beau résister. Mais ce sacré cochon est parvenu à me faire jouir. C'est la première fois que ça m'arrive. Jamais je n'oserai regarder mon ami en face ce soir.«
Das ist nicht zu überbieten. An keiner andern Stelle dieser amüsanten und unzulänglichen Berichte kommt so klar heraus, was im tiefsten Grunde der französischen Prostitution steckt: die Bäuerin. Die Kleinbürgerin. Die rationale Frau.
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