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[215] Der andere auch! Der andere auch!!
Der andere auch!!!
Eine kleine Sonntagspredigt
mit einem nachdenklichen Chanson
Auf der Erde leben einundeinedreiviertel Milliarde Menschen (die Anwesenden natürlich ausgenommen) – und im Grunde denkt jeder, er sei ganz allein, was die Qualität anbetrifft. »So wie ich . . . « denkt jeder, »so ist kein anderer – so kann kein anderer sein.« Ob das wohl richtig ist?
Wir sehen den Verbrecher und den Jubilar als Einzelwesen und rechnen beiden das allgemeine Niveau mit an; es ist so, wie wenn sich ein Seehund rühmen wollte, daß er schwimmen kann. Alle Seehunde können es.
Da ist zum Beispiel der Beruf.
Sie kennen ja alle die Festreden, die bei der Jahresversammlung des Reichsverbandes wissenschaftlich geprüfter Traumbuch-Verfasser steigt: jeder Traumbuch-Verfasser ist mindestens ein Napoleon, ein Goethe, ein Rockefeller, ein . . . nach Belieben auszufüllen. Andere Berufe kommen da gar nicht mit. Vor wem erzählt der Mann das eigentlich? Damit kann er doch nur einem Eskimo imponieren, einem der nicht weiß, daß die in der Festrede gerühmten Eigenschaften heute so ziemlich alle zivilisierten Menschen besitzen: wir alle können telefonieren, ein Grammophon anstellen, das elektrische Licht anknipsen; viele von uns können chauffieren, viele haben Entschlußkraft, verstehen, sich in einer fremden Stadt zurechtzufinden, können Reisedispositionen treffen – es ist die Zeit, die die Menschen so geformt hat; das Verdienst eines einzelnen ist es nicht. Aber das hören sie nicht gern – sie spielen vor sich selber und vor einem imaginären Publikum gern den Wundermann, »So schön wie ich das kann . . . « Verlaß dich drauf: der andere kann das alles auch.
Der Schriftsteller tut gern so, als sei er von einem Zauberwesen begnadet und als sei dies etwas ganz und gar Einzigartiges: schriftzustellern – und vergißt dabei, daß es Tausende und Tausende können, wie er. Der Arzt umgibt sich gern mit einer Atmosphäre des geheimnisvollen Medizinmannes (wobei nicht untersucht werden soll, inwieweit der Patient das braucht und wünscht). Der Industrielle tut gern so, als habe er allein – Herr Generaldirektor Bölk – Tatkraft, Klugheit und Umsicht der ganzen Welt gepachte . . . kurz: jeder will als Einzelwesen gewertet und möglichst verehrt werden und läßt unbewußt-bewußt außer acht, daß Millionen neben ihm und um ihn sind, die sich auf genau derselben Ebene bewegen wie er es tut.
[215] Dagegen wehrt sich das Individuum – es ist sein letzter, sein verzweifelter Kampf gegen die unbarmherzige Uniformierung einer mechanistischen Zeit. Er will nicht. Er spielt: einmaliges Individuum.
Die Klugen (die Anwesenden natürlich eingeschlossen) geben das alles für den Beruf und für das Gemeinschaftsleben zu. »Aber«, sagt jeder von ihnen, »aber . . . man hat doch da so seine kleinen Eigenheiten . . . « Und hier wird die Sache restlos komisch.
Denn grade bei den ›kleinen Eigenheiten‹ ist die Übereinstimmung so groß, daß man glauben sollte, die Menschen würden in Serien hergestellt.
Die Tage der Niedergeschlagenheit, wo alles aus ist: Beruf grau, Liebe danebengegangen, Geld flöten, Bücher langweilig, das ganze Leben verfehlt – der andere auch! Der merkwürdige Waldspaziergang damals, wo von den Fichten lauter Gestorbene heruntergrüßten und so schauerlich nickten, und wo du schneller gingst, weil du Furcht hattest, dich drüber ärgertest, Mut markiertest, und nun noch mehr Furcht hattest – der andere auch! Der wie ein Nieskitzel plötzlich auftretende Reiz, bei ganz ernsten Situationen lachen zu müssen, die Angst davor, das Bemühen, dieses blödsinnige Lachen grade noch herunterzuschlucken – der andere auch! Immer: der andere auch.
Du hast da morgens, wenn du dich anziehst, eine Reihe kleiner fast sakraler Handlungen . . . der andere auch. Du hast manchmal, bevor du in ein fremdes Haus gehst, die ›Portalangst‹ . . . der andere auch. Du bist mutig, sagen wir, beim Zahnarzt und feige vor dem Examen – oder umgekehrt . . . der andere auch. Du machst so eine komische Bewegung mit den Kinnbacken, wenn du ein Buch aufschneidest . . . Immer, immer: der andere auch.
Ja, zum Donnerwetter, sollen wir denn nun gar nichts mehr haben, das uns ganz allein gehört? Doch, das gibt es vielleicht . . . aber es finden sich stets, wenn man näher zusieht, Hunderte, die machen es dann doch genau so, und Tausende, die machen es beinah so, und Zehntausende, die machen es ähnlich . . . der andere auch.
Es tut gut, das zu wissen.
Denn nichts ist gefährlicher, als den Partner zu niedrig einzuschätzen – auf diese Weise sollen schon Kriege verloren gegangen sein. Glaub du ja nicht, du seist der einzig Schlaue weit und breit; du allein verständest den Reiz der Einsamkeit auszukosten; habest allein den Wunsch, mit einer Frau auf einer einsamen Insel (für vier Wochen) zu wohnen . . . glaub das nicht. Und doch glauben wir es im stillen alle.
Wir besetzen das Theater des Lebens so:
Hauptrolle: ICH. Dann eine ganze Weile gar nichts. Dann eine unübersehbare Statisterie: die andern. Nicht, daß wir sie nun alle für dämlich hielten . . . aber eben doch nur: für die ›andern‹ . . . und es gehört schon eine ganze Menge Lebensklugheit, nein, Weisheit dazu,[216] einzusehen, daß es mit den andern im Grunde genau, aber ganz genau so bestellt ist, wie mit uns. Denn jeder von ihnen hat schon verzweifelt vor einem Haus auf eine Frau gewartet und dabei an dem Haus hochgesehen wie an einem bösen Urwelttier . . . jeder von ihnen hatte seinen kleinen Stolz, als er sich freigeschwommen hatte; jeder von ihnen hat vier kleine dumme Gegenstände in den Schubladen, die behangen sind mit Erinnerungen . . . jeder hat das. Nicht nur du allein. Nicht nur ich allein. Jeder hat, um es mit einem Wort zu sagen, die unaufgeräumte kleine Schublade, auf die jeder so stolz ist, als habe er sie ganz allein.
Nach einigen Schwedenpünschen
beginnen Sie zu wünschen:
Sie drehen ganz im stillen
die bunten Zuckerpillen:
»Ein Wochenendhäuschen . . . und dann einen Beruf, der einem Spaß macht . . . nein, überhaupt keinen Beruf . . . eine anständige Rente . . . weißt du, so eine, die nicht zu sehr beschwert . . . also sagen wir: 500 Mark im Monat, na, ich wär schon mit 800 zufrieden – also die Rente . . . dann würd ich studieren . . . und angeln . . . und radiobasteln . . . irgendwo im Grünen, im Stillen . . . eine nette Frau . . . Kinder . . . und nichts von der Welt hören und sehen – aber das sind so meine Privatwünsche . . . das kann man keinem Menschen sagen – das versteht ja keiner . . . «
Ach!
Damit stehn Sie aber nicht vereinzelt da!
So was denkt man von Florenz bis Altona!
Was Sie da so treiben, das hat lange im Gebrauch
der andere auch!
der andere auch!
der andere auch!
Man schluckt voll Wut mitunter,
weil man muß, so manches runter.
In der Nacht, beim Mondenscheine,
nimmt man Rache – ganz alleine:
»Ich bin zu gut für diese Welt . . . diese Kerls können mir alle nicht das Wasser reichen . . . die fühlen eben, daß ich mehr bin, als sie . . . daher die Wut . . . laßt mich mal was werden, laßt mich bloß mal was werden! – dann kenne ich die Brüder alle nicht mehr! – doch: ich kenne sie . . . Ich sage dann ganz freundlich, ganz freundlich sage ich: Guten Tag! Na, wie gehts denn immer? Sind Sie noch[217] im Geschäft, ja? Ich? Ich reise so in der Welt umher . . . im Winter war ich in der Schweiz, ja, Skisport . . . im Sommer geh ich auf meine Besitzung in Dänemark . . . Gott, man muß zufrieden sein –«
Ach!
Damit stehn Sie aber nicht vereinzelt da!
So was denkt man von Florenz bis Altona!
Was Sie da so treiben, das hat lange im Gebrauch
der andere auch!
der andere auch!
der andere auch!
Sie sagen im Theater:
Diese Menschen . . . heiliger Vater!
Jeder einzelne ein Hund, ein
krummer –
da bin ich doch eine andere
Nummer . . .
»Nu sieh dir mal die Gesichter hier an! Ein dämliches Pack! Nicht wert, daß man ihnen das Stück hier vorführt . . . verstehns ja doch nicht! – Ich habe heute nachmittag Kirchengeschichte des frühen Mittelalters gelesen, ich beschäftige mich jetzt damit ein bißchen . . . glaubst du, daß hier ein Mensch höhere Interessen hat? Nicht zehn im ganzen Theater, das sag ich dir! – Hübsche Frau da vorn in der Loge . . . wenn man an die ran könnte . . . glatt sagte die: ja . . . sie kennt mich bloß nicht . . . aber wenn sie mich kennen würde . . . eigentlich sieht man mir ja schon an, daß ich was Besseres bin, nicht so wie die andern . . . «
Ach!
Damit stehn Sie aber nicht vereinzelt da!
So was denkt man von Florenz bis Altona!
Was Sie da so treiben, das hat lange im Gebrauch
der andere auch!
der andere auch!
der andere auch –!
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