Nachher

[138] Er lachte noch, als wir schon längst wieder allein waren. »Das war wie auf einem Theater!« sagte ich. »Haben Sie das gesehn?« sagte er. »Sein Gesicht? Der Ausdruck in den erstaunten Augen? Der ganze verdutzte Kerl? Es war herrlich.« Sie hatten einen Ehemaligen eingeliefert, der frisch angekommen war, einen gut bezahlten Schreiber von da unten, sie nennen es wohl höhern Beamten oder dergleichen. Der hatte sein Lebelang in einem Teich von Wichtigkeit gepatscht, er troff noch davon, als er ankam. Und nun traf er da auf seine alten Freunde, und die klärten ihn ein bißchen auf, wie es denn nun mit ihm in Wirklichkeit da unten bestellt gewesen sei, sie hatten ihm die Wahrheit gesagt, die volle persönliche Wahrheit . . . »Er hats erst gar nicht geglaubt!« sagte er. »Haben Sie das bemerkt? Dann traf es ihn wie ein Starkstrom. Er ist noch ein zweites Mal gestorben, glauben Sie? Jetzt ist er ganz hin.« – »Es ist nicht sein Fehler«, sagte ich. »Wie?« sagte er. »Es ist nicht sein Fehler? Natürlich ist es sein Fehler!«

»Es ist nicht sein Fehler«, sagte ich. »Er ist so eingerichtet. Wir waren es auch.« Die Wolke, auf der wir saßen, trieb rasch seitwärts, es war ein unbehagliches Gefühl; wir sprangen auf eine andre, solidere, die leise schwankte. Irgend eine Sonne erhellte sie sanft von unten her. »Ich weiß nicht recht, was Sie meinen«, sagte er. »Ich meine«, sagte ich, »daß er nichts dafür kann. Sehen Sie einmal:

[138] Man sagt immer: wenn Menschen wüßten, was über sie gesprochen wird . . . Das ist dumm. Was wird denn schon gesprochen? Es wird geklatscht, Verleumdungen werden gesagt, Lügen, Konkurrenzlügen, Eifersuchtslügen, Selbstberuhigungslügen, Neidlügen – das ist nicht sehr interessant, und häufig erfahren es die Besprochnen ja auch. Nein, das ist es nicht. Aber wie über sie gesprochen wird, wie über alle gesprochen wird – das ist es!« – »Und wie wird über alle gesprochen?« sagte er.

»Jeder Mensch«, sagte ich, »kann nur leben, wenn er sich ernst nimmt. Verzweifeln kann er, leiden kann er, gegen sich wüten kann er – aber Verzweiflung, Leid, Wut muß er ernst nehmen. An seiner Wohnungstür steht: Schulze; Sie, das glaubt er sich! Er glaubt: hier wohnt Schulze, Schulze bin ich – die Sache ist in Ordnung. Sie ist aber nicht in Ordnung. Wenn er wüßte . . . ! Wenn jeder wüßte, wie die andern von ihm sprechen: durch die Nase, achselzuckend, unter der Hand, nach der Melodie: Ach, der –! Haben Sie einmal mitangehört, wie diese Summe von: Geburt, nassen Windeln, sexueller Not, Verliebtheit, Ansätze des kleinen Lebenswerks, das Lebenswerk selbst, und bestände es auch nur im Erringen einer Position beim Magistrat, Wirken und Arbeit, Arbeitsnächte und Erholungstage im Herbst, wie diese unendliche Summe, die jenem das Gefühl seiner ernsten Sicherheit gibt, von andern abgetan wird? Man kann den Namen an der Wohnungstür aussprechen . . . man braucht nur die Stimme singend etwas fallen zu lassen, so: Schulze . . . ! und der Kurswert des Mannes ist auf Null. Es sind alles Papiere, die noch gar nicht wissen, daß sie unter pari stehen. Da werden zweierlei Notierungen vorgenommen: das Werk notiert sich selber: große Hausse – aber gehandelt wird es ganz anders, ganz anders. Die letzte Selbstachtung ginge in die Binsen, hörten sie es mit an.« – »Aber sie hören es zum Glück nicht mit an . . . !« sagte er. Jetzt war das Licht von unten stärker geworden; wir hockten da wie die Weihnachtsengel auf einer Fotochromansichtskarte.

»Nein, sie hören es nicht. Das ist nicht nur ihr Glück«, sagte ich. »Es ist eine der Hauptbedingungen ihres Lebens.

Sie könnten gar nicht leben, hörten sie es. Sie könnten nicht leben, wüßten sie, wie die andern von ihnen sprechen. Sie haben zwar so eine dumpfe Ahnung, als sei das alles Schwindel: das Gummigrinsen der Begrüßung, die teilnahmsvollen Fragen nach Arbeit, Miete, Frau und der werten Gesundheit – aber sie klammern sich ja doch an diesen Korken der Konvention, es ist das schönste Gesellschaftsspiel. Sie nehmen es ein wie Medizin. Hörten sie –! Wüßten sie –! Sie gingen zu Tausenden ein, sie müßten eingehen, wer kann so leben, wenn er weiß, wie vergeblich, wie nichtig, wie wenig es ist im Grunde –?« – »Wer?« sagte er. »Ein ganz Starker.« – »Nein«, sagte ich. »Auch ein[139] ganz Starker braucht die Lüge, grade der. Doch Haß ist Anerkennung, Kampf Hochachtung, Neid Balsam für die Seele. Aber eins kann keiner vertragen, das ist ein kleiner Tod.« – »Was?« sagte er. »Verachtung –« sagte ich. »Keiner weiß, wie er verachtet wird, sonst könnte er nicht leben. Er wird verachtet, sonst könnten die andern nicht leben.«

Die Wolke schimmerte nunmehr blutrot, von unten müssen wir schön ausgesehen haben. Es gab aber kein Unten, es war niemand da, der uns auslachen konnte, und so segelten wir froh dahin.


  • · Kaspar Hauser
    Die Weltbühne, 18.01.1927, Nr. 3, S. 117.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 10, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 138-140.
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