|
[279] Die Ankunft Bazaroffs erfreute seine Eltern um so mehr, als sie ihn gar nicht erwarteten. Arina Vlassiewna kam darüber so außer sich, daß sie nichts tat, als im Hause hin und her laufen. Ihr Mann verglich sie schließlich mit einem Rebhuhn; das aufgeschürzte Schleppchen ihres Hausrockes gab ihr in der Tat auch einige Ähnlichkeit mit einem Vogel. Wassili Iwanowitsch ließ beständig ein behagliches Brummen hören, wobei er an der Bernsteinspitze seiner Pfeife sog, die er im Mundwinkel stecken hatte; dann griff er sich mit den Fingern an den Hals und drehte den Kopf krampfhaft, wie wenn er sich vergewissern wollte, daß er noch festsitze, und den Mund in ganzer Breite öffnend, lachte er geräuschlos vor sich hin.
»Ich komme auf wenigstens sechs Wochen, mein Alter,« sagte Bazaroff zu ihm, »ich will arbeiten und hoffe, daß du mich in Ruhe lassen wirst.«
»Ich werde dich dermaßen stören, daß du mein Gesicht ganz und gar vergessen sollst,« antwortete Wassili Iwanowitsch.
Er hielt sein Versprechen. Nachdem er seinen Sohn, wie das erstemal, in seinem Studierzimmer einquartiert hatte, schien er sich ordentlich vor ihm zu verstecken und duldete auch nicht, daß sich die Mutter ihm gegenüber allzu sichtbaren Gefühlsausbrüchen überließ.
»Ich glaube wohl,« sagte er, »daß wir Eniuschenka bei seinem ersten Aufenthalt etwas lästig geworden sind; wir müssen uns diesmal gescheiter betragen.«
Arina Vlassiewna stimmte ihrem Manne bei, hatte aber[280] nicht viel davon, denn sie sah ihren Sohn nur zur Essenszeit und fürchtete sich, ihn anzureden. – »Eniuschenka ...« sagte sie, und ehe dieser nur Zeit hatte, sich umzudrehen, stammelte sie schon: »Nichts, nichts, es ist nichts!« wobei sie die Schnüre ihres Strickbeutels durch die Finger gleiten ließ; dann ging sie zu Wassili Iwanowitsch und fragte, das Kinn in die Hand gestützt: »Wie können wir wohl erfahren, mein Schatz, was Eniuscha heute lieber zu Mittag ißt, Ehtchi oder Bastch?«
»Warum hast du ihn nicht gefragt?«
»Ich fürchtete, ihm lästig zu fallen.«
Bazaroff gabs bald selber auf, sich immer eingeschlossen zu halten; an die Stelle des Arbeitsfiebers, das sich seiner bemächtigt hatte, trat eine trübe, unruhige Langeweile. Eine seltsame Gedrücktheit machte sich in allen seinen Bewegungen bemerkbar; sogar sein sonst so fester und rascher Gang veränderte sich sichtlich, er machte keine einsamen Spaziergänge mehr und fing an, die Gesellschaft aufzusuchen; er trank den Tee im Wohnzimmer, ging mit Wassili Iwanowitsch in dem Gemüsegarten auf und ab und rauchte bei ihm schweigend seine Pfeife; einmal erkundigte er sich sogar nach dem Befinden des Pater Alexis. Diese Veränderung machte Wassili Iwanowitsch zuerst große Freude, aber sie war nicht von langer Dauer.
»Eniuscha macht mir Sorge,« sagte er im Vertrauen zu seiner Frau; »nicht als ob er unzufrieden und reizbar wäre, das würde mich nicht beunruhigen, aber er ist traurig und bekümmert, das bringt mich zur Verzweiflung. Er spricht nichts, es wäre mir lieber, wenn er mit uns[281] brummen würde; dabei wird er mager und sieht schlecht aus.«
»Ach mein Gott! mein Gott!« antwortete die Alte seufzend, »ich würde ihm ja gern ein Säckchen mit Reliquien um den Hals hängen, aber er leidet es nicht.«
Wassili Iwanowitsch machte wiederholt Versuche, Bazaroff vorsichtig über seine Beschäftigung, seine Gesundheit, über Arkad auszufragen. Aber Bazaroff gab ihm unfreundliche Antworten und sagte schließlich ärgerlich:
»Das ist ja, wie wenn du immer auf den Zehen um mich herumschlichest, diese Manier ist noch schlimmer als die frühere.«
»Nun, nun! ich will es nicht mehr tun,« fiel der arme Wassili Iwanowitsch rasch ein. Die Unterhaltung über Politik hatte auch keinen bessern Erfolg. Als er eines Tages bei Gelegenheit der bevorstehenden Aufhebung der Leibeigenschaft die große Frage des Fortschritts berührte, bildete er sich ein, daß dies seinem Sohne Freude machen werde; aber dieser antwortete ihm gleichgültig: »Als ich gestern an der Gartenhecke hinging, hörte ich anstatt ihrer alten Lieder ein paar Bäuerlein mit dem Singsang sich heiser schreien: ›Der treuen Liebe Zeit ist da, die Herzen spüren sanfte Regung ...‹ Da hast du deinen Fortschritt.«
Bazaroff begab sich manchmal ins Dorf und fing dort nach seiner Gewohnheit in spöttischem Ton ein Gespräch mit dem ersten besten Bauern an. »Setz mir einmal deine Gedanken auseinander,« sagte er zu ihm; »man will behaupten, ihr bildet die Kraft und die Zukunft Rußlands, mit euch beginne ein neuer Abschnitt unserer Geschichte; ihr werdet uns unsere wahre Sprache und gute Gesetze[282] schaffen.« Der Bauer schwieg oder stotterte, wenns hoch kam, einige Worte wie: »In der Tat, wir könntens wohl, weil überdies ... nach der Vorschrift zum Beispiel, die wir haben.«
»Erkläre mir, was euer ›Mir‹ ist?« fragte Bazaroff, »ist es der, der auf drei Fischen ruht?«
»Die Erde ists, die auf drei Fischen ruht,« entgegnete der Bauer im Tone der Überzeugung und mit singender Stimme, was seinen Worten etwas Patriarchalisches und Naives gab, »und jedermann weiß, daß der Wille des Herrn gegenüber unserm ›Mir‹ allmächtig ist, denn ihr seid unsere Väter. Je strenger der Herr, um so liebenswürdiger der Bauer.«
Als er einmal eine solche Rede hatte anhören müssen, zuckte Bazaroff verächtlich die Achseln und ließ den Bauern stehen, welcher ruhig nach seiner Hütte zurückging.
»Worüber hat er mit dir gesprochen?« fragte letzteren ein anderer Bauer, ein Mann in mittleren Jahren mit abstoßender Miene, der ihn von seiner Haustür aus mit Bazaroff hatte reden sehen; »wahrscheinlich von den rückständigen Abgaben?«
»Ach, er wird wohl!« erwiderte der erste Bauer, und seine Stimme hatte nichts mehr von dem patriarchalischsingenden Ton, sondern im Gegenteil etwas Rauhes, aus dem man die Geringschätzung heraushörte; »er hat mit mir geschwatzt, weil ihm ohne Zweifel die Zunge prickelte. Die Herren sind alle gleich, versteht denn einer etwas?«
»Wie sollten sie was verstehen!« sagte der andere, und damit schüttelten sie ihre Mützen, ließen ihre Gürtel herunter[283] und unterhielten sich über Gemeindeangelegenheiten.
Ach, der junge Mann voll Selbstvertrauen, der sich eben mit verächtlichem Achselzucken entfernt hatte, dieser Bazaroff, der so gut mit den Bauern zu reden wußte, wie er sich in seinem Streit mit Paul Petrowitsch gerühmt – er hatte entfernt keine Ahnung, daß diese ihn für eine Art von Hanswurst ansahen.
Schließlich fand Bazaroff doch eine Beschäftigung, die ihm behagte. Eines Tages verband Wassili Iwanowitsch in seiner Gegenwart einen Bauern, der am Bein verwundet war; die Hände des alten Mannes zitterten, und es fiel ihm sichtlich schwer, den Verband zu befestigen; Bazaroff kam ihm zur Hilfe. Von da an half er seinem Vater regelmäßig bei dessen ärztlichen Verrichtungen, wobei er es aber nicht unterließ, über die Mittel, die er selbst anordnete, und über den Eifer, mit dem sein Vater sie anwandte, zu spotten. Diese Scherze brachten übrigens Wassili Iwanowitsch nicht aus der Fassung, er fand sie im Gegenteil ganz nach seinem Geschmack. Seine Pfeife rauchend und mit zwei Fingern die Schöße seines alten Schlafrockes zurückhaltend, hörte er Bazaroff mit wahrer Glückseligkeit zu; je giftiger die Worte seines Sohnes waren, desto herzlicher lachte der vergnügte Vater, daß man all seine schwärzlichen Zähne sah. Er wiederholte sogar die manchmal ungesalzenen oder sinnlosen Ausfälle seines Sohnes; so sagte er zum Beispiel mehrere Tage lang bei jeder Gelegenheit: »Das ist zum Nachtisch!« nur einzig und allein deshalb, weil sein Sohn diesen Ausdruck gebraucht hatte, als er hörte, daß der Alte in die Frühmesse gegangen sei.[284]
»Gottlob!« sagte er im Vertrauen zu seiner Frau, »Eniuscha hat seine Hypochondrie vergessen. Wie er heute mit mir umgegangen ist!« Anderseits war er außer sich vor Behagen, einen solchen Gehilfen zu haben, der Gedanke daran flößte ihm ein Gefühl begeisterten Stolzes ein. »Ja ja,« sagte er zu irgendeiner armen Bäuerin, die in den Armiak ihres Mannes gehüllt war und eine Kitschka mit Hörnern trug, als er ihr ein Glas Gulardsches Wasser und ein Töpfchen Bilsenkrautsalbe einhändigte, »du solltest Gott jeden Augenblick danken, meine Liebe, daß er meinen Sohn hierhergeführt hat, man behandelt dich jetzt nach der gelehrtesten und neuesten Methode, verstanden? Der französische Kaiser Napoleon selbst hat keinen besseren Arzt.« Die Bäuerin, der er diese trostvolle Versicherung gab – sie hatte geklagt, daß es ihr sei, als ob sie »von Fäustchen in die Höhe gehoben werde« (ein Ausdruck, dessen Sinn sie übrigens nicht weiter erklären konnte) –, hörte Wassili Iwanowitsch zu, indem sie sich bis auf den Boden verneigte und aus ihrem Brusttuch drei in die Ecke einer Serviette eingewickelte Eier zog, welche ihre Opfergabe ausmachten.
Bazaroff riß sogar einem fremden Kaufmann einen Zahn aus, und obgleich dieser Zahn nichts Besonderes hatte, bewahrte ihn Wassili Iwanowitsch doch wie eine Rarität auf und wiederholte, als er ihn dem Pater Alexis zeigte, mehrmals:
»Sehen Sie, Pater, welche Wurzeln! Eugen muß eine famose Faust haben! Ich sah den Kaufmann in die Luft gehoben, es war prächtig, ich glaube wahrhaftig, ein Eichbaum hätte ihm nicht widerstanden.«[285]
»Das ist verdienstlich!« erwiderte der Priester, der dem Entzücken des Greises nicht anders ein Ende zu machen wußte.
Ein benachbarter Bauer führte eines Tages seinen Bruder, der den Typhus hatte, zu Wassili Iwanowitsch. Der Unglückliche lag sterbend auf einem Bund Stroh, schwärzliche Flecken bedeckten seinen Körper, er war seit lange bewußtlos. Wassili Iwanowitsch bedauerte, daß man nicht früher daran gedacht, den Arzt zu dem Armen zu holen, und erklärte, daß es keine Möglichkeit gäbe, ihn zu retten. In der Tat konnte der Bauer nicht mehr nach Hause zurückgebracht werden, er starb unterwegs in seiner Telege.
Zwei oder drei Tage später kam Bazaroff zu seinem Vater und fragte ihn, ob er keinen Höllenstein habe.
»Ja! was willst du damit machen?«
»Ich brauch ihn, um eine kleine Wunde zu ätzen.«
»Wer hat sich verwundet? Wie! du? wo ist die Wunde, zeig sie mir.«
»Hier, an diesem Finger; ich habe mich heute morgen nach dem Dorfe begeben, von wo man uns den Bauern gebracht hat, der am Typhus gestorben ist; ich weiß nicht, warum man ihn öffnen lassen wollte; ich habe diese Art von Operation schon lange nicht mehr ausgeführt.«
»Nun, und?«
»Ich bat den Distriktsarzt, mich damit zu betrauen, und habe mich geschnitten.«
Wassili Iwanowitsch erbleichte plötzlich, lief, ohne eine Silbe zu äußern, in sein Arbeitszimmer und kam mit einem Stück Höllenstein wieder; Bazaroff wollte es nehmen und das Zimmer verlassen.[286]
»Ums Himmels willen!« rief Wassili Iwanowitsch, »erlaub mir, daß ich es mache.«
Bazaroff lächelte.
»Welche Leidenschaft für die Praxis!«
»Scherze nicht, ich beschwöre dich. Zeig mir deinen Finger; die Wunde ist nicht groß. Ich tu dir doch nicht wehe?«
»Drücke fest darauf, sei ohne Furcht.«
Wassili Iwanowitsch hielt inne.
»Vielleicht wärs besser, sie mit einem heißen Eisen auszubrennen? was meinst du?«
»Das hätten wir früher tun müssen. Jetzt wird es nicht mehr helfen als der Höllenstein; wenn ich den Krankheitsstoff schon aufgenommen habe, gibt es kein Mittel mehr.«
»Wie ... kein Mittel mehr? ...« stammelte Wassili Iwanowitsch.
»Gewiß! Es sind mehr als vier Stunden, daß ich mich geschnitten habe.«
Wassili Iwanowitsch betupfte die Wunde aufs neue mit Höllenstein.
»Der Distriktsarzt hatte also keinen Höllenstein?«
»Nein.«
»Großer Gott, das ist ja unglaublich, jeder Arzt muß damit versehen sein!«
»Wenn du erst seine Lanzetten gesehen hättest!« versetzte Bazaroff und verließ das Zimmer.
Während des Abends und des folgenden Tages ersann Wassili Iwanowitsch alle möglichen Vorwände, um in das Zimmer seines Sohnes zu kommen; und obgleich er nicht von seiner Wunde mit ihm sprach und sich sogar[287] anstrengte, über gleichgültige Dinge mit ihm zu plaudern, sah er ihn doch so fest an und beobachtete alle seine Bewegungen mit solcher Unruhe, daß Bazaroff die Geduld verlor und ihn gehen hieß. Wassili Iwanowitsch versprach ihm, sich nicht mehr zu ängstigen, um so mehr, als Arina Vlassiewna, der er, wohlverstanden, nichts mitgeteilt hatte, mit Fragen in ihn drang, warum er so unruhig sei und die ganze Nacht kein Auge zugetan habe. Zwei Tage lang blieb er fest, obgleich ihn das Aussehen seines Sohnes, den er heimlich immer beobachtete, keineswegs beruhigte; am dritten Tag aber konnte er sich nicht mehr halten. Man war bei Tisch, und Bazaroff, der mit niedergeschlagenen Augen dasaß, aß nichts.
»Warum ißt du nicht, Eugen,« fragte ihn sein Vater mit scheinbar gleichgültigem Ton. »Die Platte scheint mir sehr gut zubereitet?«
»Ich esse nicht, weil ich kein Verlangen zu essen habe.«
»Du hast keinen Appetit? und der Kopf,« setzte er hinzu, »tut er dir weh?«
»Ja, warum sollte er mir nicht weh tun?«
Arina Vlassiewna wurde aufmerksam.
»Bitte, werde nicht böse, Eugen,« fuhr Wassili Iwanowitsch fort, »du mußt mir erlauben, dir den Puls zu fühlen.«
Bazaroff stand auf.
»Ich kann dir sagen, ohne mir den Puls zu fühlen, daß ich Hitze habe.«
»Hast du auch Frost gehabt?«
»Ja, ich will mich ein wenig legen, schick mir einen Lindenblütentee. Ich muß mich erkältet haben.«
»Deshalb hab ich dich heute nacht husten hören,« versetzte Arina Vlassiewna.[288]
»Ich habe mich erkältet,« wiederholte Bazaroff und ging hinaus.
Arina Vlassiewna schickte sich an, den Tee zu bereiten, und Wassili Iwanowitsch ging in das Nebenzimmer, wo er sich die Haare raufte, ohne einen Laut hören zu lassen.
Bazaroff blieb den ganzen übrigen Tag im Bette und verbrachte die Nacht in einem Zustand dumpfer, ermattender Schlafsucht. Als er gegen ein Uhr morgens mühsam die Augen öffnete, bemerkte er beim Schimmer des Nachtlichts das blasse Gesicht seines Vaters, der an seinem Kopfkissen stand, und bat ihn, zu Bett zu gehen. Der Alte gehorchte, aber kam beinah sofort wieder auf den Zehen hereingeschlichen und fuhr, hinter der halbgeöffneten Türe eines Schrankes versteckt, fort, seinen Sohn zu beobachten. Auch Arina Vlassiewna legte sich nicht, sie kam alle Augenblicke an die Tür des Zimmers, um die Atemzüge Eniuschas zu belauschen und sich zu vergewissern, daß Wassili Iwanowitsch immer auf seinem Posten sei; sie konnte nur den unbeweglichen Rücken ihres vornüber gebeugten Gatten sehen, aber das genügte, um sie ein wenig zu beruhigen. Als es Tag wurde, versuchte Bazaroff aufzustehen; er wurde aber von einem Schwindel erfaßt, dem bald Nasenbluten folgte, und legte sich alsbald wieder nieder. Wassili Iwanowitsch half ihm schweigend. Arina Vlassiewna trat herzu und fragte, wie es ihm gehe. »Ich fühle mich besser,« antwortete er und kehrte sich gegen die Wand. Wassili Iwanowitsch machte seiner Frau mit beiden Händen ein Zeichen, daß sie sich entfernen solle; sie biß sich auf die Lippen, um nicht zu weinen, und ging hinaus. Das ganze Haus schien wie verdüstert; alle Gesichter wurden lang, eine fremdartige Stille[289] herrschte sogar im Hofe; einen krähenden Hahn, den diese Maßregel eigentümlich verwundern mochte, verbannte man ins Dorf. Bazaroff blieb im Bett, das Gesicht gegen die Wand gekehrt. Wassili Iwanowitsch redete ihn mehrere Male an, aber seine Fragen belästigten den Kranken, weshalb der Alte unbeweglich in seinem Lehnstuhl sitzenblieb und nur von Zeit zu Zeit die Hände rang. Er ging auf einige Augenblicke in den Garten und stand dort wie eine Bildsäule; er schien von einem unsäglichen Staunen erfaßt (der Ausdruck der Überraschung verschwand kaum von seinem Gesicht). Dann kehrte er zu seinem Sohn zurück, wobei er seiner Frau auszuweichen suchte. Dieser gelang es endlich, ihn bei der Hand zu erwischen, und krampfhaft, fast mit drohendem Tone fragte sie ihn: »Was hat er denn?« Um sie zu beruhigen, versuchte Wassili Iwanowitsch zu lächeln, aber zu seiner eigenen Verwunderung entfuhr ein lautes Lachen seinem Munde. Schon am Morgen hatte er nach einem Arzt in die Stadt geschickt; er hielt es für besser, seinen Sohn davon zu benachrichtigen, damit dieser ihm in Gegenwart seines Kollegen keine Vorwürfe mache.
Bazaroff drehte sich auf dem Diwan, wo er lag, plötzlich um, sah seinen Vater starr an und verlangte zu trinken.
Wassili Iwanowitsch gab ihm Wasser und benützte diesen Augenblick, um ihm die Hand auf die Stirne zu legen: sie war brennend heiß.
»Alter,« sagte Bazaroff langsam und mit rauher Stimme, »das nimmt eine böse Wendung. Ich habe das Gift im Leibe, und in wenigen Tagen wirst du mich in die Erde legen.«[290]
Wassili Iwanowitsch schwankte, als ob er einen heftigen Schlag in die Beine bekommen hätte.
»Eugen,« stammelte er, »was sagst du da! Es ist eine einfache Erkältung.«
»Geh doch,« versetzte Bazaroff, »ein Arzt darf so was nicht sagen. Ich habe alle Symptome einer Ansteckung, du weißt es wohl.«
»Symptome ... einer Ansteckung? ... o nein ... Eugen!«
»Was ist denn das?« sagte Bazaroff und zeigte, den Ärmel seines Hemdes zurückstreifend, seinem Vater die unheilverkündenden rötlichen Flecken, welche seine Haut bedeckten.
Wassili Iwanowitsch erbleichte vor Schrecken.
»Gesetzt ... wenn auch ... das wäre ... etwas ... wie eine ... epidemische Ansteckung.«
»Es ist eine Pyohämie,« sagte sein Sohn.
»Ja ... eine epidemische Ansteckung.«
»Eine Pyohämie,« wiederholte Bazaroff bestimmt und in rauhem Ton; »hast du deine Kollegienhefte vergessen?«
»Nun ja, ich gebs zu ... ich gebs zu ... aber gleichwohl werden wir dich kurieren.«
»Alles Redensarten! laß uns vernünftig reden; ich dachte nicht, so früh zu sterben, das ist ein Unfall, der, ich gestehe es, mir ziemlich unangenehm scheint. Meine Mutter und du, ihr werdet wohl tun, eure Zuflucht zu eurem religiösen Glauben zu nehmen, es ist eine schöne Gelegenheit, ihn auf die Probe zu stellen.« – Er trank einen Schluck Wasser. – »Ich muß dich um etwas bitten, solang[291] mein Kopf noch klar ist. Morgen oder übermorgen wird, wie du schon weißt, mein Gehirn seine Entlassung gegeben haben. Es ist sogar möglich, daß ich mich jetzt schon nicht mehr ganz deutlich ausdrücke. Eben noch glaubte ich mich von roten Hunden verfolgt, und du lauertest auf mich auf dem Anstand, wie man auf einen Birkhahn paßt. Ich komme mir vor wie betrunken. Verstehst du mich recht?«
»Gewiß, Eugen, du sprichst ganz vernünftig, wie gewöhnlich.«
»Um so besser, du hast mir gesagt, daß du nach einem Arzt geschickt hast ... ich habe dich nicht abgehalten, dir diese Beruhigung zu verschaffen ... verschaff mir deinerseits auch eine, schicke einen Expressen ...«
»An Arkad Nikolajewitsch,« fiel der Greis rasch ein.
»Wer ist dieser Arkad Nikolajewitsch?« entgegnete Bazaroff wie in einem Augenblick von Geistesabwesenheit ... »ach ja ... dieser Zeisig! Nein, laß den in Ruhe, er hat sich jetzt in einen Raben verwandelt. Mach keine so großen Augen, das ist noch nicht das Delirium. Schick einen Expressen an Anna Sergejewna Odinzoff; es ist eine Gutsbesitzerin in der Umgegend. (Wassili machte ein Zeichen mit dem Kopf, daß er sie kenne.) Laß ihr sagen: Eugen Bazaroff grüßt Sie und läßt Ihnen melden, daß er stirbt. Verstehst du mich?«
»Es soll geschehen ... aber wie kannst du sterben? Du, Eugen! Urteile selber! ... Wo wäre da noch eine Gerechtigkeit auf der Welt?«
»Das verstehe ich nicht; aber schick den Expressen fort.«
»Auf der Stelle, und ich will ihm einen Brief mitgeben.«[292]
»Nein; das ist unnötig. Laß sie von mir grüßen, dies genügt. Und jetzt will ich wieder zu meinen roten Hunden zurückkehren. Das ist sonderbar! ich wollte meine Gedanken auf den Tod richten, aber es will mir nicht gelingen, ich sehe eine Art Flecken ... und weiter nichts.«
Er kehrte sich mühsam gegen die Wand, und Wassili Iwanowitsch verließ das Kabinett. Im Zimmer seiner Frau angekommen, fiel er vor den Heiligenbildern auf die Knie.
»Laß uns beten, Arina, laß uns zu Gott beten!« schrie er schluchzend, »unser Sohn stirbt!«
Der Distriktsarzt, derselbe, der keinen Höllenstein hatte, kam und riet, nachdem er den Kranken untersucht, zu einem zuwartenden Verfahren und fügte einige Phrasen bei, die geeignet waren, Hoffnung auf Genesung zu erwecken.
»Sie haben also Leute gesehen, die in meinem Zustande waren und nicht ins Elysium gereist sind?« fragte Bazaroff und stieß gleichzeitig mit dem Fuß an einen schweren Tisch neben dem Bett, daß er wankte und von der Stelle wich.
»Die Kraft,« sagte er, »die ganze Kraft ist noch da, und doch muß ich sterben; ein Greis hat wenigstens volle Zeit gehabt, sich des Lebens zu entwöhnen, aber ich: verneinen ... verneinen ... Ja, verneine einer einmal den Tod! Er verneint euch; damit ist alles gesagt. Ich höre da unten weinen!« fügte er nach kurzem Schweigen hinzu, »es ist meine Mutter. Arme Frau, wem soll sie jetzt ihren trefflichen ›Bastch‹ vorsetzen? Und auch du, Wassili Iwanowitsch, bist dem Weinen nahe. Wenn dein Christentum nicht ausreichen will, so versuchs mit der Philosophie,[293] denk an die Stoiker! Du rühmtest dich, glaube ich, Philosoph zu sein?«
»Ich Philosoph!« rief Wassili Iwanowitsch aus, und Tränen rannen über seine Wangen.
Bazaroffs Zustand verschlimmerte sich stündlich; die Krankheit machte reißende Fortschritte, wie dies bei derartigen Blutvergiftungen der Fall ist. Er war noch bei voller Besinnung und verstand alles, was man mit ihm sprach; er kämpfte noch. – »Ich will nicht delirieren,« murmelte er, die Fäuste ballend, vor sich hin, »das ist zu dumm!« und gleich darauf fügte er hinzu: »zehn von acht, wieviel bleibt?« Wassili Iwanowitsch ging wie ein Toller im Zimmer auf und ab, schlug alle erdenklichen Mittel vor und deckte alle Augenblicke die Füße seines Sohnes zu.
»Man sollte ihn in nasse Tücher wickeln ... ein Brechmittel und Senfpflaster auf den Magen ... einen Aderlaß!« stammelte er mit Anstrengung.
Der Arzt, den er gebeten hatte, dazubleiben, stimmte ihm bei, gab dem Kranken Limonade und verlangte für sich selber bald eine Pfeife, bald etwas Stärkendes und Erwärmendes, das heißt einen Schnaps. Arina Vlassiewna blieb auf einer kleinen Bank neben der Tür sitzen und verließ diesen Platz nur auf Augenblicke, um zu beten. Wenige Tage zuvor hatte sie ihren Toilettenspiegel fallen lassen, und er war zerbrochen, was sie immer für eine der schlimmsten Vorbedeutungen angesehen hatte; Anfisuschka sogar wußte ihr nichts zu sagen. Timofeitsch war mit der Botschaft des Sterbenden zu Frau Odinzoff geeilt.
Die Nacht war schlecht ... Bazaroff lag im Fieber, von der Glut verzehrt. Sein Zustand besserte sich mit[294] Tagesanbruch ein wenig; er bat Arina Vlassiewna, ihm das Haar zu kämmen, küßte ihr die Hand und schluckte zwei oder drei Löffel Tee; Wassili Iwanowitsch faßte wieder etwas Hoffnung.
»Gott sei gelobt!« sagte er wiederholt, »die Krise ist eingetreten ... die Krise ist vorüber ...«
»Da seht,« sagte Bazaroff, »was ein Wort vermag! Das Wort Krise ist ihm in den Sinn gekommen, und er fühlt sich dadurch ganz getröstet. Es ist was Sonderbares um den Einfluß, den die Worte auf die Menschen haben! Nenne einer einen Menschen Dummkopf, ohne ihn zu schlagen, und er ist ganz betrübt! Man beglückwünsche ihn wegen seines Geistes, ohne ihm Geld zu geben, und er fühlt sich glücklich.« Dieses kurze Gespräch rief Wassili Iwanowitsch die Ausfälle zurück, deren sich Bazaroff in gesunden Tagen bedient hatte, und er schien davon entzückt.
»Bravo! das ist sehr wahr und gut gesagt. Bravo!« rief er aus und tat, als ob er in die Hände klatschte.
Bazaroff lächelte traurig.
»Was ist deine wirkliche Meinung,« fragte er seinen Vater, »ist die Krise vorüber oder tritt sie erst ein?«
»Es geht besser, das sehe ich, und das freut mich,« versetzte Wassili Iwanowitsch.
»Herrlich! Es ist immer gut, sich zu freuen. Aber hat man dort hingeschickt? Du weißt schon ...«
»Gewiß.«
Die Besserung war nicht von langer Dauer. Die Anfälle erneuerten sich. Wassili Iwanowitsch wich nicht vom Bett seines Sohnes. Eine ganz absonderliche Angst schien den alten Mann zu quälen. Umsonst versuchte er mehrmals zu reden.[295]
»Eugen!« rief er endlich, »mein Kind, mein lieber, guter Sohn!«
Dieser unerwartete Ruf machte Eindruck auf Bazaroff. Er wandte den Kopf ein wenig, versuchte es sichtlich, den Druck, der auf seinem Geiste lastete, abzuwälzen, und sagte: »Was, mein Vater?«
»Eugen,« fuhr Wassili Iwanowitsch fort und sank neben Bazaroff in die Knie, obgleich dieser die Augen geschlossen hatte und ihn nicht sehen konnte. »Eugen, du fühlst dich besser und wirst mit Gottes Hilfe genesen. Aber benütze diesen Augenblick, tue, was deiner armen Mutter und mir die größte Beruhigung gewähren würde. Erfülle deine Christenpflicht! Es ist mir schwer angekommen, dir den Vorschlag zu machen. Aber es wäre noch schrecklicher ... Es handelt sich um die Ewigkeit, Eugen! bedenke es wohl ...« Die Stimme versagte dem Alten, und ein sonderbares Zucken glitt langsam über das ganze Gesicht seines Sohnes hin, der fortwährend mit geschlossenen Augen dalag.
»Wenn euch das Vergnügen machen kann, so habe ich nichts dagegen,« sagte er endlich; »es scheint mir aber keine Eile zu haben. Du hast soeben gesagt, daß es besser mit mir geht.«
»Besser allerdings, Eugen, aber man kann für nichts stehen. Alles hängt vom Willen Gottes ab, und um eine Pflicht zu erfüllen ...«
»Ich will noch warten,« entgegnete Bazaroff, »du sagst ja selber, daß die Krise eben begonnen habe. Wenn wir uns täuschen, was liegt daran! Man gibt ja den Kranken die Absolution, auch wenn sie bewußtlos sind.«
»Ums Himmels willen, Eugen ...«[296]
»Ich will vorerst warten! ich möchte gern schlafen; laß mich ...«
Und er legte den Kopf wieder aufs Kissen. Der Greis erhob sich, setzte sich in seinen Lehnstuhl, stützte das Kinn in die Hand und zernagte sich die Finger.
Das Geräusch eines Wagens in Federn, dies Geräusch, welches man in der ländlichen Stille so deutlich unterscheidet, schlug plötzlich an das Ohr des Alten. Das Rollen leichter Räder kam immer näher; man konnte schon das Schnauben der Pferde hören ... Wassili Iwanowitsch sprang aus dem Lehnstuhl auf und lief ans Fenster. Ein zweisitziger Reisewagen mit vier nebeneinandergespannten Pferden fuhr in den Hof seines kleinen Hauses ein. Ohne sich Rechenschaft zu geben, was dies bedeute, und unwillkürlich von einem freudigen Gefühl durchzuckt, lief er vor die Tür. Ein Livreebedienter öffnete den Wagen, und eine verschleierte Frau in schwarzer Mantille stieg aus.
»Ich bin Frau Odinzoff,« sagte sie. »Lebt Eugen Wassiliewitsch noch? Sie sind sein Vater? Ich habe einen Arzt mitgebracht.«
»Gottes Segen über Sie!« rief Wassili Iwanowitsch aus, ergriff ihre Hand und drückte sie krampfhaft an seine Lippen, während der Arzt, von dem Frau Odinzoff gesprochen, ein kleiner Mann mit Brille und einer deutschen Physiognomie, langsam den Wagen verließ. – »Er lebt noch, mein Eugen, und wird jetzt gerettet werden! Frau! Frau! es ist ein Engel vom Himmel zu uns gekommen ...«
»Was gibts! großer Gott!« stammelte Arina Vlassiewna, welche aus dem Wohnzimmer gelaufen kam und, gleich im Vorzimmer zu den Füßen Anna Sergejewnas sinkend, wie eine Wahnsinnige den Saum ihres Kleides küßte.[297]
»Was machen Sie, was machen Sie!« sagte Frau Odinzoff zu ihr; aber Arina Vlassiewna hörte sie nicht, und Wassili Iwanowitsch wiederholte fortwährend: »Ein Engel! ein Engel vom Himmel!«
»Wo ist der Kranke?« fragte endlich auf deutsch der Arzt mit ungeduldiger Miene.
Diese Worte brachten Wassili Iwanowitsch wieder zur Vernunft.
»Hier! hier! wollen Sie mir gefälligst folgen, ›wertester Herr Kollega‹,« fügte er gleichfalls auf deutsch und in Gedanken an seinen früheren Rang hinzu.
»Ah!« sagte der Deutsche mit bitterem Lächeln.
Wassili Iwanowitsch führte ihn in sein Arbeitszimmer.
»Da ist ein Arzt, den Anna Sergejewna Odinzoff schickt,« sagte er, indem er sich zum Ohr seines Sohnes niederbeugte, »und sie selbst ist gleichfalls hier.«
Bazaroff öffnete sogleich die Augen.
»Was sagst du?«
»Ich habe dir die Nachricht gebracht, daß Anna Sergejewna Odinzoff hier ist und dir diesen ehrenwerten Doktor hier mitgebracht hat.«
Bazaroff ließ die Augen durchs Zimmer laufen.
»Sie ist hier? ... ich will sie sehen ...«
»Du sollst sie sehen, Eugen ... zuvor aber müssen wir ein wenig mit dem Herrn Doktor reden. Ich will ihm deine ganze Krankheitsgeschichte erzählen, weil Sidor Sidoritsch (so hieß der Distriktsarzt) weggegangen ist; dann können wir eine kleine Konsultation halten.«
Bazaroff blickte den Arzt an.
»Gut, machs so schnell wie möglich mit ihm ab, aber sprecht nicht Lateinisch, denn ich verstehe, was es heißt: iam moritur.«[298]
»Der Herr scheint des Deutschen mächtig zu sein,« sagte der Schüler Äskulaps wieder auf deutsch, zu dem Alten gewandt.
»Ick ... abe ... sprechen Sie Russisch, das wird besser sein,« antwortete Wassili Iwanowitsch.
»Aha, so stehts ... gut!« Und die Konsultation begann.
Eine Viertelstunde später trat Anna Sergejewna in Begleitung Wassili Iwanowitschs in das Zimmer. Der Doktor hatte Zeit gefunden, ihr ins Ohr zu flüstern, daß der Zustand des Kranken hoffnungslos sei.
Sie richtete ihre Augen auf Bazaroff und blieb an der Tür stehen, einen solch schrecklichen Eindruck machte auf sie das gerötete, obgleich schon sterbende Gesicht, diese irren Augen, die sie starr ansahen. Sie fühlte sich von einer eisigen Kälte und von einer erdrückenden Angst ergriffen; der Gedanke, daß sie etwas ganz anderes fühlen würde, wenn sie ihn wirklich geliebt hätte, durchzuckte sie.
»Danke!« sagte er mit Anstrengung, »ich hoffte es nicht. Das ist eine gute Handlung. Wir sehen uns noch einmal wieder, wie Sie es mir vorhergesagt haben.«
»Anna Sergejewna hat die Güte gehabt ...«
»Mein Vater, laß uns allein ... Anna Sergejewna, Sie erlauben es? ich glaube, daß jetzt ...«
Sie nickte mit dem Kopfe, als ob sie sagen wollte, daß sie von einem Sterbenden nichts zu fürchten habe.
Wassili Iwanowitsch verließ das Zimmer.
»Nun! ich danke!« wiederholte Bazaroff, »das ist wahrhaft königlich. Man sagt, die Könige begeben sich so an das Lager der Sterbenden.«
»Eugen Wassiliewitsch, ich hoffe ...«
»Nein, Anna Sergejewna, wir wollen uns nicht täuschen;[299] für mich ist alles aus. Ich bin unter das Rad gefallen. Sehen Sie wohl, daß ich recht hatte, mich nicht im voraus mit der Zukunft zu beschäftigen. Das Sterben ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu für jeden. Bis jetzt habe ich keine Angst ... Dann werde ich das Bewußtsein verlieren, und ft (dabei machte er ein leichtes Zeichen mit der Hand). – Aber was könnte ich Ihnen noch sagen? ... daß ich Sie geliebt habe? Das hatte früher keinen Sinn, und jetzt weniger als je. Die Liebe ist eine Form, und meine eigene Form ist in der Auflösung begriffen. Ich will Ihnen lieber sagen ... wie schön Sie sind! So, wie ich Sie da vor mir sehe ...«
Anna Sergejewna zitterte unwillkürlich.
»Es ist nichts, beunruhigen Sie sich nicht ... nehmen Sie da unten Platz ... nähern Sie sich mir nicht; die Krankheit, die ich habe, ist ansteckend.«
Anna Sergejewna durchschritt das Zimmer rasch, um sich ihm zu nähern, und setzte sich in einen Lehnstuhl neben dem Ruhebett.
»Welche Großmut!« sagte Bazaroff halblaut; »wie nah sie ist! so jung, so frisch, so rein in diesem garstigen Zimmer! ... Nun, leben Sie wohl, leben Sie lange, es ist das beste, was man tun kann, und genießen Sie das Leben, solang es nicht zu spät ist. Sehen Sie, welch häßliches Schauspiel: ein halbzertretener Wurm, der sich noch krümmt! Ich glaubte sicher, noch vieles zu leisten; sterben, ich? ah! bah! ich habe eine Mission, ich bin ein Riese! Und zu dieser Stunde besteht die ganze Mission des Riesen darin, mit Anstand zu sterben, obgleich das keinen Menschen interessiert ... Was liegt daran, ich will nicht kuschen wie ein Hund.«[300]
Bazaroff schwieg und suchte mit der Hand nach seinem Glas. Anna Sergejewna gab ihm zu trinken, ohne die Handschuhe abzuziehen, und mit verhaltenem Atem.
»Sie werden mich vergessen,« fuhr er fort; »die Toten sind nichts mehr für die Lebenden. Mein Vater wird Ihnen sagen, daß Rußland einen Mann verliert, der sehr kostbar für dasselbe war! ... Das sind Prahlereien, doch lassen Sie dem Greise diese Illusionen ... Sie wissen ... für ein Kind ist jeder Zeitvertreib recht ... Trösten Sie ihn und auch meine Mutter. In Ihrer großen Welt werden Sie dergleichen Leute nicht finden, und wenn Sie mit der Laterne in der Hand suchten ... Ich für Rußland notwendig! ... Nein, es scheint nicht! Wer ist ihm denn notwendig? Ein Schuster ist ein notwendiger Mensch, ein Schneider ist notwendig, ein Metzger ... er verkauft Fleisch ... ein Metzger ... Halt! ich verwirre mich ... Hier ist ein Brett ...« Bazaroff legte die Hand auf die Stirn.
Frau Odinzoff neigte sich zu ihm herab.
»Eugen Wassiliewitsch, ich bin noch immer da ...«
Er zog die Hand zurück und richtete sich mit einmal auf.
»Leben Sie wohl!« sagte er mit plötzlichem Nachdruck, und seine Augen glänzten zum letztenmal. »Leben Sie wohl! ... hören Sie ... ich habe Sie an jenem Tage nicht geküßt ... blasen Sie die sterbende Lampe aus, und sie erlösche ...«
Frau Odinzoff drückte ihre Lippen auf die Stirn des Sterbenden.[301]
»Genug!« hauchte er, und sein Haupt sank zurück ... »jetzt die Finsternis ....« Frau Odinzoff verließ das Zimmer lautlos.
»Nun? ...« fragte sie Wassili Iwanowitsch mit gedämpfter Stimme.
»Er ist eingeschlafen,« antwortete sie noch leiser.
Bazaroff sollte nicht wieder erwachen. Er wurde gegen Abend gänzlich bewußtlos und starb am andern Morgen. Der Pater Alexis übte an ihm die letzten Pflichten. Als man ihm die Letzte Ölung gab, und das geweihte Öl auf seine Brust träufelte, öffnete sich eins seiner Augen, und es war, als ob beim Anblick dieses Priesters in seinem geistlichen Ornat, des rauchenden Weihgefäßes und der vor den Heiligenbildern brennenden Kerzen etwas wie ein schauerndes Entsetzen über das entstellte Gesicht hinging ... das dauerte aber nur einen Augenblick. Als er den letzten Seufzer ausgehaucht hatte, und das Haus von Wehklagen ertönte, wurde Wassili Iwanowitsch von plötzlichem Wahnsinn ergriffen. – »Ich habe gelobt, mich zu empören,« schrie er mit heiserer Stimme, mit erhitztem, verstörtem Gesicht und mit geballten Fäusten, als ob er jemand drohte; »und ich werde mich empören! ich werde mich empören!«
Aber Arina Vlassiewna hing sich, in Tränen aufgelöst, an seinen Hals, und sie fielen zusammen mit dem Gesicht auf den Boden, »ganz wie zwei Lämmer«, erzählte nachher Anfisuschka im Vorzimmer, »wie zwei Lämmer in der ärgsten Hitze«; zu gleicher Zeit und nebeneinander sanken sie nieder.
Aber die Hitze des Tages vergeht, und der Abend kommt, und dann die Nacht, die Nacht, welche alle Hartgeprüften und Müden in ein stilles Asyl geleitet ...
Buchempfehlung
Strindbergs autobiografischer Roman beschreibt seine schwersten Jahre von 1894 bis 1896, die »Infernokrise«. Von seiner zweiten Frau, Frida Uhl, getrennt leidet der Autor in Paris unter Angstzuständen, Verfolgungswahn und hegt Selbstmordabsichten. Er unternimmt alchimistische Versuche und verfällt den mystischen Betrachtungen Emanuel Swedenborgs. Visionen und Hysterien wechseln sich ab und verwischen die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn.
146 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro