Viertes Capitel.
Ankersichten. – Böses Omen.

[21] Fabian hatte mich verlassen, um das Unterbringen seiner Sachen und seine häusliche Einrichtung auf Cajüte 73, deren Nummer auf seinem Billet eingetragen war, zu überwachen. In diesem Augenblick wirbelten dicke Rauchsäulen aus den großen Schornsteinen des Schiffes, und man hörte die Kessel bis in die Tiefen des Schiffes erzittern. Der betäubende Dampf verbreitete sich durch die Dampfauslaßrohre und fiel in seinem Regen auf das Verdeck nieder. Einige geräuschvolle Gegenströmungen verkündeten, daß die Maschinen geprobt wurden. Der Ingenieur hatte richtigen Dampfdruck, und man konnte abfahren.

Zunächst mußten die Anker gelichtet werden. Die Fluth war noch im Steigen, und der Great-Eastern bot ihr, als er unter ihrem Stoßen gewendet hatte, das Vordertheil; er war jetzt bereit, den Fluß abwärts zu fahren.

Der Kapitän hatte diesen Augenblick wählen müssen, um sich segelfertig zu machen, denn die Länge des Great-Eastern gestattete ihm nicht, in der Mersey Evolutionen zu machen. Wenn er nicht von der Ebbe fortgezogen wurde, sondern der raschen Fluth entgegenfuhr, war er seines Schiffes mehr Herr und konnte mit größerer Sicherheit zwischen den zahlreichen Schiffen, die den Fluß durchfurchten, hinweg manoeuvriren. Der geringste Zusammenstoß mit diesem Koloß wäre unheilvoll gewesen.

Es erforderte beträchtliche Anstrengungen, unter diesen Umständen die Anker zu lichten. In der That spannte das Dampfschiff, von der Strömung getrieben, die Ketten, auf denen es festsaß, an. Außerdem wurde die ungeheure[21] Masse von einem heftigen Südwestwind erfaßt, der seine Kraft mit der Fluth verband. Man mußte demzufolge mächtige Maschinen anwenden, um die gewichtigen Anker aus ihrem schlammigen Grunde emporzureißen. Das »Anchor-boat«, ein zu dieser Operation bestimmtes Boot, hatte sich auf den Ketten gestoppt; aber seine Gangspillen genügten nicht, und man mußte sich der mechanischen Apparate bedienen, die dem Great-Eastern zur Verfügung standen.

Auf dem Vordertheil war eine Maschine von siebenzig Pferdekraft zum Aufhissen der Anker aufgestellt. Man brauchte nur den Dampf aus den Kesseln in ihre Cylinder zu lassen, um sofort eine bedeutende Kraft zu erhalten, die direct auf das Gangspill übertragen werden konnte, um die Ketten aufzuwinden. Dies geschah; aber so mächtig die Maschine auch arbeitete, sie bewies sich als unzureichend; man mußte ihr auf irgend eine Weise zu Hilfe kommen. Kapitän Anderson ließ die Spillspaken anlegen, und etwa fünfzig Leute von der Mannschaft wurden am Gangspill angestellt.

Das Dampfschiff fing an, auf seine Anker zu treiben, aber die Arbeit ging langsam von Statten. Die Laufknoten klirrten nicht ohne Mühe in den Klüsgaten des Vorderstevens, und meiner Meinung nach hätte man die Ketten, um sie leichter anzuholen, durch einige Radumdrehungen erleichtern können.

Ich stand in diesem Augenblicke mit einigen anderen Passagieren auf dem Deckzimmer des Vordertheils. Wir beobachteten alle Einzelheiten des Vorganges und die Fortschritte des Ankerlichtens. Ein Reisender, der dicht neben mir stand, zuckte, wahrscheinlich ungeduldig über die Verzögerung, häufig mit den Achseln und ließ Spöttereien über die Machtlosigkeit der Maschine hören. Es war ein kleiner, magerer, nervöser Mann mit fieberhaft hastigen Bewegungen, dessen Augen man unter ihren gesenkten Lidern kaum gewahrte. Ein Physiognomiker hätte von vornherein erkannt, daß die Vorkommnisse dieses Lebens solchem Philosophen aus der Schule Demokrit's nur von ihrer scherzhaften Seite erscheinen mußten, denn die für die Action des Lachens nothwendigen Jochbeinmuskeln konnten bei ihm keine Ruhe halten. Im Uebrigen war er, wie ich mich später überzeugte, ein liebenswürdiger Reisegefährte.

»Mein Herr, redete er mich an, bis jetzt bin ich der Meinung gewesen, daß die Maschinen den Menschen helfen sollten, und nicht die Menschen den Maschinen!«[22]

Gerade als ich auf diese sehr richtige Beobachtung etwas erwidern wollte, ertönte ein lautes Geschrei; der Kleine wie auch ich stürzten auf's Verdeck und erblickten hier die sämmtlichen, an den Spillspaken aufgestellten Männer auf dem Boden hingestreckt. Nach und nach erhoben sich einige von ihnen, andere jedoch blieben unbeweglich liegen. Ein Rädchen der Maschine war zerbrochen, und so hatte sich das Gangspill unter dem vehementen Zuge der Ketten unaufhaltsam rückwärts gedreht. Die Menschen, welche von hinten erfaßt worden waren, hatten außerordentlich heftige Schläge und Stöße an Kopf und Brust bekommen. Die von ihren gerissenen Seilen befreiten Spillspaken ließen ein förmliches Kartätschenfeuer um sich her los; vier Matrosen wurden sofort getödtet, und zwölf andere, unter denen ein Schotte, der Bootsmann, schwer verletzt.

Die Verwundeten wurden sofort in die nach hinten zu gelegene Krankenstube gebracht, während die vier Todten ausgeschifft wurden. Uebrigens herrscht bei den Angelsachsen eine solche Gleichgiltigkeit gegen das Leben der Leute, daß dies Ereigniß keinen besonders tiefen Eindruck an Bord hervorrief. Die Unglücklichen, ob getödtet oder verwundet, waren nur Zähne eines Räderwerks, die mit geringen Kosten ersetzt werden konnten. Man gab dem bereits eine tüchtige Strecke entfernten Lichterschiff ein Zeichen zurückzukehren, und wenige Minuten später legte es von Neuem am Great-Eastern an.

Ich begab mich nach dem Fallreep (am Hinterdeck), wo die Treppe noch nicht wieder eingezogen war; die vier in Decken gehüllten Leichen wurden hier hinuntergeschafft und auf dem Verdeck des Lichterschiffs niedergelegt. Einer der Aerzte, die mit an Bord waren, begleitete die Todten bis Liverpool, nachdem ihm noch anempfohlen war, sobald wie irgend thunlich zum Great-Eastern zurückzukehren. Dann entfernte sich das Lichterschiff und die Matrosen machten sich daran, die Blutlachen fortzuwaschen, die den Fußboden des Verdecks befleckten.

Noch muß ich bemerken, daß ein Passagier, der bei dem Unglücksfall durch einen Spillspakensplitter leicht verletzt worden war, die Gelegenheit benutzte, mit dem Lichterschiff nach Liverpool zurückzukehren; er hatte schon jetzt genug von der Fahrt mit dem Great-Eastern.

Als ich dem kleinen Boot, das sich mit voller Dampfkraft entfernte, nachsah, hörte ich in spöttischem Ton hinter mir die Worte sagen:

»Die Reise fängt gut an! wie soll das enden?«


Das Gangspill hatte sich rückwärts gedreht. (S. 23.)
Das Gangspill hatte sich rückwärts gedreht. (S. 23.)

Als ich mich umwandte, stand der Reisende mit dem ironischen Gesichte vor mir; er hatte die Bemerkung jedenfalls an mich gerichtet.

»Es war allerdings ein böser Unfall, antwortete ich; mit wem habe ich die Ehre?

– Ich bin der Doctor Dean Pitferge.«
[23]

Queenstown in Sicht. (S. 29.)
Queenstown in Sicht. (S. 29.)

Quelle:
Jules Verne: Eine schwimmende Stadt. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XIX, Wien, Pest, Leipzig 1877, S. 21-25.
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