[109] Eine halbe Stunde später waren Cyrus Smith und Harbert wieder bei der Lagerstätte zurück. Der Ingenieur begnügte sich, seinen Gefährten mitzutheilen, daß das Land, auf welches der Zufall sie geworfen, eine Insel sei und daß man am andern Tage das Weitere überlegen wolle. Hierauf richtete sich Jeder bestmöglichst in der Basaltkluft, 2500 Fuß über dem Meere, ein, und »die Insulaner« verbrachten eine friedliche Nacht in tiefem Schlummer.
Am Morgen des 30. März beabsichtigte der Ingenieur, nach einem kurzen Frühstücke auf Unkosten des gebratenen Tragópans, den Vulkan wieder zu ersteigen, zur genaueren Besichtigung der Insel, auf der Alle vielleicht für die Zeit ihres Lebens gefangen waren, wenn diese sehr entfernt von jedem anderen Lande oder außerhalb der Straße derjenigen Schiffe lag, welche die Inselgruppen des Pacifischen Oceanes besuchen. Diesmal folgten ihm auch alle seine Gefährten, denn auch sie reizte es, die Insel zu betrachten, welche für die Zukunft ihnen alle Lebensbedürfnisse liefern sollte.
Es war gegen sieben Uhr Morgens, als Cyrus Smith, Gedeon Spilett, Harbert, Pencroff und Nab die Lagerstätte verließen.
Alle schienen sich über die gegenwärtige Lage beruhigt zu haben. Ohne Zweifel hatten sie Vertrauen zu sich, doch ist wohl zu bemerken, daß der Grund dieses Zutrauens bei Cyrus Smith nicht derselbe war, wie bei seinen Genossen. Beim Ingenieur erklärte es sich durch das Gefühl seiner Fähigkeit, dieser wilden Natur jedes Lebensbedürfniß für sich und seine Genossen abzuringen, und Letztere sorgten sich um Nichts, eben weil Cyrus Smith[109] bei ihnen war. Diesen Unterschied begreift man wohl; Pencroff vor Allen hätte seit der Wiederanzündung des Feuers keinen Augenblick verzweifelt, selbst wenn er sich auf einem nackten Felsen befunden hätte, wenn nur Cyrus Smith mit auf diesem Felsen war.
»Bah! sagte er, aus Richmond sind wir ohne Erlaubniß der Behörden herausgekommen, es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht heute oder morgen von einem Orte wegkommen sollten, an dem uns gewiß Niemand zurück hält!«
Cyrus Smith verfolgte den nämlichen Weg, wie am Abend vorher. Man ging auf der Stufe zwischen bei den Kegeln um den oberen bis an die Mündung des Seitenkraters herum.
Das Wetter war prächtig. Glänzend stieg die Sonne am Himmel empor und vergoldete mit ihren Strahlen die ganze Ostseite des Berges.
Man trat in den Krater ein. Er erschien so, wie ihn der Ingenieur im Halbdunkel erkannt hatte, d.h. ein ungeheurer Trichter, der sich bis zur Höhe von 100!! Fuß über dem Plateau nach und nach erweiterte. Unterhalb der Seitenmündung schlängelten sich dicke und breite Lavaströme hinunter und zeichneten so den Weg der Auswurfmassen vor, bis in die tieferen Thäler hinab, welche den nördlichen Theil der Insel fürchten.
Das Innere des Kraters, dessen Neigung fünfunddreißig bis vierzig Grade nicht überschritt, setzte der Besteigung keinerlei Hindernisse entgegen. Noch fand man Spuren sehr alter Laven, die wahrscheinlich früher über den Rand des Kraters flossen, so lange die Seitenmündung ihnen jenen neuen Ausweg noch nicht bot.
Der Schlund des Vulkans, welcher die Verbindung zwischen den unterirdischen Schichten und dem Krater herstellte, war seiner Tiefe nach nicht mit den Augen abzuschätzen, da er sich in der Dunkelheit verlor. Ueber das vollständige Verlöschen des Vulkans konnte man jedoch keinen Augenblick im Zweifel sein Noch vor acht Uhr befanden sich Cyrus Smith und seine Gefährten auf dem Gipfel desselben, auf einem kleinen konischen Hügel, der am nördlichen Rande einer großen Blase ähnlich erschien.
»Das Meer! Ueberall das Meer!« riefen sie, als hätten ihre Lippen dieses Wort, das sie zu Insulanern machte, nicht zurückhalten können.
Wirklich erstreckte sich rings um sie die ungeheure kreisförmige Wasserfläche. Als Cyrus Smith den Gipfel noch einmal bestieg, leitete ihn vielleicht[110] die Hoffnung, irgend eine Küste, eine nahe gelegene Insel zu entdecken, die er in der Dunkelheit des vergangenen Abends nicht hatte erkennen können. Aber Nichts zeigte sich am ganzen Horizonte, d.h. in einem Umkreise von mehr als fünfzig Meilen. Kein Land war in Sicht, kein Segel auf dem Wasser! Der ganze unendliche Raum wüst und leer, und in seiner Mitte lag die verlassene Insel, ein Steinchen im Weltmeere!
Stumm und unbeweglich musterten der Ingenieur und seine Gefährten einige Minuten lang den Ocean. Ihre Augen durchdrangen ihn bis zu den äußersten Grenzen. Doch selbst Pencroff, der ein so ausgezeichnetes Sehvermögen besaß, bemerkte Nichts, und er hätte doch ohne Zweifel selbst die geringste Spur eines entfernten Landes, und wenn es sich nur durch einen noch so seinen Dunstkreis verrieth, wahrgenommen, denn unter seine Augenbrauen hatte die Natur zwei wahrhafte Teleskope eingepflanzt.
Vom Meere weg schweiften die Blicke über das umgebende Land, welches der Berg vollständig beherrschte, als Gedeon Spilett zuerst das Schweigen mit der Frage brach:
»Wie viel mag die Größe dieser Insel wohl betragen?«
Wenn man sie so mitten in dem grenzenlosen Oceane liegen sah, schien dieselbe nicht sehr beträchtlich zu sein.
Cyrus Smith überlegte eine kurze Zeit; er faßte unter Beachtung der Höhe, in welcher er sich befand, den Umfang der Insel in's Auge.
»Ich glaube nicht zu irren, meine Freunde, sagte er dann, wenn ich die Küstenentwickelung unseres Reiches auf mehr als hundert Meilen1 abschätze.
– Folglich beträgt ihre Oberfläche? ...
– Das ist schwer zu sagen, antwortete der Ingenieur, dafür ist das Ufer zu unregelmäßig zerrissen.«
Wenn sich Cyrus Smith in seiner Abschätzung nicht täuschte, so hatte die Insel ungefähr die Ausdehnung von Malta oder Xanthes im Mittelländischen Meere; doch erschien dieselbe weit unregelmäßiger gestaltet, und reicher an Caps, Vorgebirgen, Spitzen, Baien, Buchten und Schlüpfhäfen. Ihre sonderbare Form fiel unwillkürlich in's Auge, und als Gedeon Spilett diese auf des Ingenieurs Wunsch in ihren Umrissen gezeichnet hatte, fand man, daß dieselbe einem phantastischen Thiere mit geflügelten[111] Füßen ähnelte, das auf der Oberfläche des Pacifischen Oceans eingeschlafen war.
Wir geben hier eine kurze Beschreibung der Gestalt der Insel, von der der Reporter sofort eine Karte mit hinreichender Genauigkeit entwarf.
Der Küstenstrich, an dem die Schiffbrüchigen an's Land gekommen waren, bildete einen weit offenen Bogen und umgrenzte damit eine ausgedehnte Bai, die im Südosten mit einem spitzigen Cap endigte, das Pencroff bei seiner ersten Umschau wegen zwischen liegender Hindernisse nicht hatte sehen können. Im Nordosten schlossen diese Bai zwei andere Landvorsprünge, zwischen denen eine schmale Bucht verlief, so daß das Ganze dem geöffneten Rachen eines ungeheuren Hals nicht unähnlich erschien.
Von Nordosten nach Nordwesten zu rundete sich die Küste ähnlich dem flachen Schädel eines wilden Thieres ab, und erhob sich nach innen zu einer Art Landrücken, dessen Mittelpunkt der Vulkanberg einnahm.
Von hier aus strich das Ufer ziemlich regelmäßig von Norden nach Süden, und war nur in zwei Drittheilen seiner Länge von einem engen Schlüpfhafen eingeschnitten, über den hinaus dasselbe mit einer schmalen Landzunge, ähnlich dem Schwanze eines riesigen Alligators, endigte.
Dieser Schwanz bildete eine wirkliche, gegen dreißig Meilen weit in's Meer vorspringende Halbinsel, welche von dem schon erwähnten südöstlichen Cap aus eine weit offene Rhede abschloß.
In ihrer geringsten Breite, d.h. zwischen den Kaminen und dem Schlüpfhafen an der nördlichen Küste, maß die Insel höchstens zehn Meilen in der Breite, wogegen ihre größte Länge, von dem Haifischrachen im Nordosten bis zur Schwanzspitze im Südwesten, nicht weniger als fünfzig Meilen betrug.
Das Innere des Landes selbst zeigte etwa folgenden Anblick: Bei reichlichem Waldbestände im Süden, von dem Vulkane aus bis zum Ufer hin, erschien es im Norden dagegen sandig und dürr. Cyrus Smith und seine Gefährten erstaunten nicht wenig, zwischen sich und der Ostküste einen See liegen zu sehen, von dem sie bis jetzt keine Ahnung gehabt hatten. Von dieser Höhe aus betrachtet, schien der See zwar in gleichem Niveau mit dem Meere zu liegen; nach einiger Ueberlegung erklärte der Ingenieur aber seinen Begleitern, daß jene Wasserfläche mindestens dreihundert Fuß über dem Meere[112] liegen müsse, denn das Plateau, auf dem er sich befand, war nichts Anderes als eine Fortsetzung des Oberlandes der Küste.
»Das wäre demnach ein Süßwassersee? fragte Pencroff.
– Ganz gewiß, erwiderte der Ingenieur, denn er nährt sich von dem Wasser, das aus den Bergen abfließt.
– Ich sehe auch einen kleinen Fluß, der in denselben mündet, sagte Harbert, und wies nach einem schmalen Wasserlaufe, dessen Quell offenbar in den westlichen Vorbergen zu suchen war.[113]
– Wirklich, bestätigte Cyrus Smith, und da dieser Bach dem See zufließt, ist es wahrscheinlich, daß das Wasser nach der Seite des Meeres hin auch einen Abfluß hat. Doch das werden wir bei unserer Rückkehr in Erfahrung bringen.«
Dieser kleine, sehr geschlängelte Wasserlauf und der schon bekannte Fluß bildeten das ganze hydrographische System, so weit es die Beobachter augenblicklich zu übersehen vermochten. Damit war die Möglichkeit jedoch nicht ausgeschlossen, daß unter den Bäumen, welche ja aus zwei Drittheilen der Insel einen ungeheuren Wald machten, noch verschiedene Bergflüßchen nach dem Meere verliefen. Bei der Fruchtbarkeit dieser Landstrecken und ihrem Reichthum an prächtigen Pflanzenexemplaren der gemäßigten Zonen wurde das sogar höchst wahrscheinlich. Die Nordseite dagegen zeigte keine Spur von Bewässerung, wenn man etwa einige Sümpfe im Nordosten abrechnete; mit ihren Dünen, Sandflächen und ihrer auffallenden Unfruchtbarkeit stand diese in grellem Widerspruche zu dem übrigen Erdbodenreichthum.
Den Mittelpunkt der Insel nahm der Vulkan übrigens nicht ein. Er erhob sich vielmehr im nordwestlichen Theile derselben, und bildete gleichsam die Grenze zweier Zonen.
Im Südwesten, Süden und Südosten von demselben versteckten sich die Kämme der Vorberge unter einer Decke von dichtem Grün. Nach Norden hin konnte man dieselben aber bis dahin verfolgen, wo sie sich in den sandigen Ebenen allmälig verliefen. Nach derselben Seite hin hatten sich in der Vorzeit auch die Eruptionsmassen gewendet, und ein breiter Lavastrom reichte bis zu jenem Haifischrachen, der den Golf im Nordosten bildete.
Eine Stunde über blieben Cyrus Smith und seine Freunde auf dem Gipfel des Berges. Unter ihren Augen breitete sich die Insel aus wie ein Reliefplan mit seinen verschiedenen Farben, dem Grün für die Waldung, dem Gelb für den Sand, und dem Blau für die Gewässer. So prägte sich ihnen ein Gesammtbild ein, dem freilich die Details des unter dem Grün verborgenen Erdbodens, der Sohlen der schattigen Thäler und des Inneren der engen zu Füßen des Vulkans verlaufenden Schluchten vorläufig abgingen.
Jetzt blieb noch eine wichtige Frage, welche für die Zukunft der Schiffbrüchigen von weitreichendem Einflusse erschien, zu entscheiden.[114]
War die Insel bewohnt?
Der Reporter warf diese Frage auf, welche man nach der aufmerksamsten Betrachtung aller einzelnen Theile des Landes verneinen zu können glaubte.
Nirgends zeigte sich in der That eine Spur der Menschenhand, kein Dorf, keine einzelne Hütte, keine Fischerei-Anlage am Ufer. Auch wirbelte kein Rauch in die Luft empor, der die Anwesenheit von Menschen verrathen hätte. Freilich trennte die Beobachter ein Zwischenraum von wohl dreißig Meilen von den äußersten Punkten, d.h. der Schwanzspitze, welche sich nach Südwesten erstreckte, und selbst für Pencroff's Augen möchte es schwer gewesen sein, dabei eine menschliche Wohnung deutlich zu erkennen. Auch den grünen Vorhang, der fast drei Viertheile der Insel bedeckte, vermochte man ja nicht zu lüften, um zu entscheiden, ob er nicht irgendwo kleine Niederlassungen berge. Im Allgemeinen bevölkern indessen die Bewohner der im Stillen Oceane verstreuten Inseln und Eilande nur das Küstengebiet, welches hier vollständig verlassen erschien.
Bis auf Weiteres durfte man die Insel demnach für unbewohnt halten.
Wurde sie aber vielleicht zeitweilig von Eingeborenen benachbarter Inseln besucht? Diese Frage war schwer zu beantworten. In einem Umkreise von fünfzig Meilen konnte man kein Land wahrnehmen. Fünfzig Meilen können jedoch malayische Boote sowohl, als auch polynesische Piroguen mit Leichtigkeit zurücklegen. Alles hing also von der Lage der Insel, ihrer Isolirung im Pacifischen Oceane oder ihrer Annäherung an irgend einen Archipel desselben ab. Würde es nun Cyrus Smith gelingen, die geographische Lage derselben nach Länge und Breite ohne die sonst nöthigen Instrumente zu bestimmen? Wohl mußte das schwierig sein. Im Zweifelsfalle schien es also rathsam, von einem möglichen Ueberfalle durch Eingeborene nicht unvorbereitet betroffen zu werden.
Die Untersuchung der Insel war beendet, ihre Gestalt bestimmt, ihr Relief annähernd gemessen, ihre Ausdehnung berechnet und ihre Hydrographie und Orographie erkannt. Die Lage der Wälder und freien Flächen hatte der Reporter seinem Plane wenigstens im Groben eingezeichnet. Jetzte konnte man an das Herabsteigen denken, um den Boden unter dreifachem Gesichtspunkte, nämlich bezüglich seiner mineralischen, vegetabilischen und animalen Hilfsquellen, zu erforschen.[115]
Bevor er aber das Zeichen zum Aufbruch gab, wendete sich Cyrus Smith mit seiner ruhigen und ernsten Stimme noch einmal an seine Gefährten:
»Da liegt nun das Stückchen Land vor Euch, meine Freunde, begann er, das Land, auf welches die Hand des Allmächtigen uns geworfen hat. Hier werden wir also, und vielleicht lange Zeit, unser Leben hinbringen. Vielleicht erlöst uns auch eine unerwartete Hilfe, wenn ein Schiff durch Zufall ... ich sage, durch Zufall, denn diese Insel ist von zu geringer Ausdehnung; sie bietet den Fahrzeugen kaum einen schützenden Hafen, und die Befürchtung, daß sie außerhalb der befahrenen Straßen liege, d.h. zu südlich für die Schiffe, wel che die Inselgruppen des Stillen Weltmeeres besuchen, und zu nördlich für diejenigen, welche nach Umsegelung des Cap Horn nach Australien steuern, hat viel Wahrscheinlichkeit für sich. Es kann mir nicht beikommen, Euch unsere Lage zu verhehlen ...
– Und Sie thun recht daran, fiel ihm der Reporter in's Wort. Sie sprechen zu Männern, welche Vertrauen zu Ihnen haben, und auf die Sie zählen können. – Nicht wahr, meine Freunde?
– Ich werde Ihnen stets gehorchen, Mr. Cyrus, erklärte Harbert und ergriff die Hand des Ingenieurs.
– Sie sind mein Herr, immer und überall! rief Nab.
– Was mich betrifft, sagte der Seemann, so will ich nicht mehr Pencroff heißen, wenn ich nicht zu jeder Arbeit willig bin, und wenn es Ihnen beliebt, Mr. Smith, so machen wir aus dieser Insel ein kleines Amerika! Wir bauen Städte und Eisenbahnen, richten Telegraphen ein, und eines schönen Tags, wenn die Insel völlig umgewandelt, eingerichtet und cultivirt ist, bieten wir sie der Unionsregierung an. Nur Eines verlange ich dabei ...
– Und das wäre? fragte der Reporter.
– Daß wir uns nicht mehr als Schiffbrüchige betrachten, sondern als Ansiedler, welche hierher gekommen sind, eine Colonie anzulegen!«
Cyrus Smith konnte sich zwar des Lachens kaum enthalten, doch wurde des Seemanns Vorschlag einstimmig angenommen. Dann sprach er seinen Dank für das ihm bewiesene Vertrauen aus und fügte hinzu, daß er auf die Energie seiner Gefährten ebenso, wie auf die Hilfe der Vorsehung rechne.
»Nun denn, vorwärts nach den Kaminen! rief Pencroff.[116]
– Noch einen Augenblick, meine Freunde, sagte da der Ingenieur; es erscheint mir zweckmäßig, der Insel, den Caps und Vorgebirgen, sowie dem Flüßchen, das wir vor uns sehen, bestimmte Namen zu geben'
– Sehr gut, bemerkte der Reporter. Das vereinfacht in der Zukunft wesentlich alle Instructionen, die wir zu geben oder zu befolgen haben.
– Wirklich, bestätigte der Seemann, das ist schon Etwas, sagen zu können, wohin man geht oder woher man kommt, es erweckt den Begriff einer Heimat, der man angehört.
– Die Kamine zum Beispiel, warf Harbert ein.
– Richtig! erwiderte Pencroff. Schon dieser Name machte den Aufenthalt wohnlicher, und auf den bin ich ganz allein gekommen. Werden wir den Namen ›Kamine‹ beibehalten, Mr. Cyrus?
– Da Sie unsere erste Wohnung so getauft haben, ja!
– Schön! Was die anderen Namen betrifft, so werden wir mit ihrer Auswahl leicht fertig werden, fuhr der Seemann fort, der nun einmal im Zuge war. Wir verfahren wie die Robinsons, deren Geschichte mir Harbert früher vorgelesen hat, und taufen z.B. die ›Bai der Vorsehung‹, die ›Pottfischspitze‹, das ›Cap der getäuschten Hoffnung‹! ...
– Oder wir verwenden vielmehr die Namen der Mr. Smith, Spilett, Nab's ...
– Meinen Namen! rief Nab und zeigte seine glänzend weiße Zahnreihe.
– Warum nicht? erwiderte Pencroff, der ›Nabs-Hafen‹ und das ›Gedeons-Cap‹ müßten sich recht gut ausnehmen.
– Ich würde Bezeichnungen aus unserer Heimat vorziehen, meinte der Reporter, die uns immer an Amerika erinnern.
– Ja wohl, stimmte ihm Cyrus Smith bei, wenigstens für die Hauptsachen, wie für die Baien und Meerestheile. Laßt uns jener großen Bai im Osten den Namen der ›Unions-Bai‹, und dieser im Westen den der ›Washington-Bai‹ geben. Der Berg, auf dem wir stehen, heiße der ›Franklin-Berg‹ und der See da unten ›Grants-See‹. Wißt Ihr etwas Besseres? Immer werden uns diese Namen an unser Vaterland und die großen Bürger desselben, die es zieren, erinnern. Für die Flüsse, Golfe, Caps und Vorgebirge aber, welche wir von hier aus überblicken, wählen wir Bezeichnungen, wie sie ihre Gestaltung uns an die Hand giebt. Diese werden sich uns leichter einprägen und gleich zeitig praktischer sein. Die Form der ganzen[117] Insel würde uns die Aufsuchung eines geeigneten Namens wohl sehr erschweren; den uns noch unbekannten Wasserlauf aber, die verschiedenen Theile des Waldes, den wir später durchforschen werden, die kleinen Einschnitte am Ufer, die sich uns zeigen mögen, taufen wir nach ihrem äußeren Ansehen. Was meint Ihr, meine Freunde?«
Der Vorschlag des Ingenieurs fand eine einstimmige Billigung. Vor ihnen lag die Insel wie eine aufgerollte Karte, und es sollte nun jedem ein- und ausspringenden Winkel, jeder namhafteren Bodenerhöhung auf derselben eine Bezeichnung gegeben werden. Gleichzeitig wollte Gedeon Spilett diese Namen auf seinen Plan einschreiben, um die geographische Nomenclatur der Insel endgiltig festzustellen.
Zunächst taufte man also mit dem Namen der Union, Washingtons und Franklin's die beiden Baien und den Hauptberg, entsprechend dem Vorschlage des Ingenieurs.
»Die Halbinsel, welche vom Südwesten der Insel ausläuft, sagte der Reporter, würde ich die ›Schlangen-Halbinsel‹ nennen, und den umgebogenen Schwanz an ihrem Ende das ›Reptil-End‹, welche Bezeichnung mir seine Gestalt zu treffen scheint.
– Angenommen, erklärte der Ingenieur.
– Das andere Ende der Insel nun, sagte Harbert, den Golf, der einem geöffneten Rachen so auffallend ähnelt, nennen wir ›Haifisch-Golf‹.
– Gut erfunden! rief Pencroff. Dann vervollständigen wir das Bild und nennen das Cap daran das ›Kiefer-Cap‹.
– Deren giebt es aber zwei, warf der Reporter ein.
– Das ist sehr einfach, erklärte Pencroff, so nennen wir das eine ›Oberkiefer-‹, das andere ›Unterkiefer-Cap‹.
– Sie sind eingetragen, meldete der Reporter.
– Nun wäre noch die äußerste Spitze im Südosten der Insel zu taufen, sagte Pencroff.
– Das heißt, den Ausläufer der Unions-Bai? fragte Harbert.
– ›Krallen-Cap‹«, rief Nab, der doch auch Pathenstelle bei einem Stückchen ihres Gebietes vertreten wollte.
In der That hatte Nab damit eine ganz treffende Bezeichnung gefunden, denn jenes Cap ähnelte sehr auffallend der ungeheuren Tatze eines phantastischen Thieres, welches die ganze Insel vorstellte.[118]
Pencroff war entzückt darüber, wie glatt sich das ganze Tausgeschäft abwickelte, und bald einigte man sich auch über die weiteren Benennungen.
Den Fluß, welcher den Colonisten Trinkwasser lieferte und in dessen Nachbarschaft die Ballonruine sie geworfen hatte, nannte man die »Mercy«, aus Dank gegen die Vorsehung; das Eiland, auf welchem die Schiffbrüchigen zuerst Fuß faßten, die »Insel des Heils«.
Das Plateau, welches die hohe Granitmauer über den Kaminen krönte, erhielt den Namen der »Freien Umschau«; die undurchdringlichen Wälder endlich, welche die Schlangenhalbinsel bedeckten, den der »Wälder des fernen Westens«.
Hiermit erschien die Namengebung der sichtbaren und bekannten Punkte der Insel beendigt und sollte erst bei Gelegenheit weiterer Erfahrungen und Entdeckungen vervollständigt werden.
Die Lage der Insel bezüglich der Himmelsrichtungen hatte der Ingenieur durch die Stellung der Sonne annähernd bestimmt, wonach die Unions-Bai und die freie Umschau die Ostseite einnahmen. Am nächsten Tage erst beobachtete er die Zeit des Sonnenauf- und -Unterganges genauer und bestimmte darnach, als er die Richtung der Mittagslinie feststellte, den Nordpunkt der Insel, denn man wolle nicht vergessen, daß die Sonne über der südlichen Halbkugel der Erde zur Zeit ihrer Culmination genau im Norden steht, während auf der nördlichen Halbkugel bekanntlich das Gegentheil der Fall ist.
Alles war also abgemacht und die Colonisten hatten nur nöthig, den Franklin-Berg hinabzusteigen und nach den Kaminen zurückzukehren, als Pencroff aus rief:
»O, wir sind doch recht auf den Kopf gefallen!
– Und warum? fragte Gedeon Spilett, der schon das Notizbuch geschlossen und sich zum Aufbruch fertig gemacht hatte.
– Nun, unsere Insel selbst erhält wohl gar keinen Namen?«
Harbert schlug vor, ihr den des Ingenieurs zu geben, was unzweifelhaft den Beifall der Uebrigen gefunden hätte, als Cyrus Smith im Voraus ablehnend sagte:
»Nein, taufen wir sie nach einem unserer großen Mitbürger, meine Freunde, auf den Namen desjenigen, der jetzt für die Untheilbarkeit der Freistaaten Amerikas kämpft, – nennen wir sie die ›Insel Lincoln‹!«[119]
Drei Hurrahs antworteten dem Vorschlage des Ingenieurs.
Wie plauderten die neuen Colonisten an diesem Abend von ihrem entfernten Vaterlande; sie sprachen von dem schrecklichen Kriege, der die heimische Erde mit Blute düngte; sie bezweifelten auch keinen Augenblick, daß der Süden unterliegen, daß die Sache des Nordens, die Fahne der Gerechtigkeit, Dank Grant und Lincoln, bald siegen müsse!
Es war das am 30. März 1865. – Jene ahnten es nicht, daß sechzehn[120] Tage nachher in Washington ein grauenvolles Verbrechen begangen werden, daß am Charfreitag Abraham Lincoln dem tödtlichen Blei eines Fanatikers erliegen sollte![121]
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