Vierzehntes Capitel.
Messung der Granitwand. – Eine Anwendung des Lehrsatzes von den ähnlichen Dreiecken. – Die geographische Breite der Insel. – Ein Ausflug nach Norden. – Eine Austernbank. – Zukunftsproiecte. – Der Meridiandurchgang der Sonne. – Die Coordinaten der Insel Lincoln.

[145] Am Morgen des 16. April, – am Ostersonntage, – gingen die Colonisten mit Tagesanbruch daran, ihre Leibwäsche und Kleidungsstücke zu reinigen. Der Ingenieur gedachte auch Seife zu kochen, sobald er die dazu nöthigen[145] Rohmaterialien, Fett und Soda, erlangen würde. Die wichtige Frage wegen Erneuerung der Kleidungsstücke sollte ihrer Zeit erwogen werden. Auf jeden Fall versprachen jene noch sechs Monate auszuhalten, denn sie waren von festen Stoffen dauerhaft gearbeitet. Alles hing ja zuletzt von der geographischen Lage der Insel zu andern bewohnten Ländern ab, und diese sollte noch, unter Voraussetzung günstiger Witterung, an dem nämlichen Tage bestimmt werden.

Die Sonne erhob sich am wolkenlosen Horizonte und ließ einen prächtigen Tag erwarten, einen jener schönen Herbsttage, welche man für die letzten Abschiedsgrüße der warmen Jahreszeit halten möchte.

Jetzt galt es also die Elemente der Beobachtung vom Tage vorher zu vervollständigen und die Höhe des Plateaus der Freien Umschau über dem Niveau des Meeres zu berechnen.

»Brauchen Sie dazu nicht ein ähnliches Instrument, wie das, welches Sie gestern benutzten? fragte Harbert den Ingenieur.

– Nein, mein Sohn, antwortete dieser, wir werden auf andere, doch ebenso genaue Resultate ergebende Weise verfahren.«

Harbert, immer begierig sich von Allem genau zu unterrichten, folgte dem Ingenieur, der vom Fuße der Granitwand aus bis zum Uferrande hinschritt. Inzwischen beschäftigten sich Pencroff, Nab und der Reporter mit verschiedenen Arbeiten.

Cyrus Smith hatte eine gerade, etwa zwölf Fuß lange Stange mitgenommen, deren Länge er mit möglichster Genauigkeit nach der ihm bis auf die Linie bekannten eigenen Körpergröße gemessen hatte. Harbert trug ein Senkblei, das ihm der Ingenieur übergeben, d.h. einen einfachen Stein, der an zusammengeknüpfte geschmeidige Pflanzenfasern gebunden war.

Etwa zwanzig Schritte vom Uferrande und gegen fünfhundert von der Granitmauer, welche lothrecht aufstieg, entfernt, befestigte Cyrus Smith die Stange zwei Fuß tief im Sande und gelang es ihm, dieselbe mit Hilfe des improvisirten Senkbleies senkrecht gegen die Ebene des Horizontes aufzustellen.

Hierauf ging er noch so weit zurück, daß seine Sehstrahlen, wenn er sich auf den Sand legte, genau die Spitze der Stange und den Kamm der Granitwand berührten. Diesen Punkt bezeichnete er sorgfältig durch einen eingetriebenen Pflock.[146]

Dann wandte er sich an Harbert.

»Die Grundlehren der Geometrie sind Dir bekannt? fragte er.

– Ein wenig, Mr. Cyrus, antwortete Harbert, der sich nicht bloßstellen wollte.

– Du erinnerst Dich der Eigenschaften der sogenannten ähnlichen Dreiecke?

– Ja wohl, sagte Harbert, die entsprechenden Seiten derselben sind einander proportional.

– Nun sieh, mein Sohn, hier construire ich eben zwei ähnliche, rechtwinklige Dreiecke. Die Seiten des kleineren bilden die Höhe der senkrechten Stange und die Entfernung von dem Punkte, an welchem diese in der Erde steckt, bis zu jenem Pflocke. Seine Hypotenuse wird von meinem Sehstrahle dargestellt. Das zweite größere Dreieck hat als Seiten die lothrechte Felsenwand, um deren Höhe es sich eben handelt, und die Entfernung von ihrem Fuße bis wiederum zu jenem Pflocke hin, während meine Sehstrahlen auch dessen Hypotenuse bezeichnen, nämlich die Fortsetzung der des ersteren Dreiecks.

– Ah, ich verstehe, Mr. Cyrus! rief Harbert. Da die horizontale Entfernung des Pflockes von der Stange proportional der von demselben Punkte bis zur Basis der Felsenwand ist, so steht auch die Höhe der Stange zu der der Felsenwand in demselben Verhältnisse.

– So ist es, Harbert, bestätigte der Ingenieur, und sobald wir diese horizontalen Entfernungen gemessen haben, können wir, da die Höhe der Stange bekannt ist, durch eine einfache Rechnung auch die der Felsenwand finden und uns der Mühe entheben, dieselbe unmittelbar zu messen.«

Die beiden Horizontalen wurden mittels der Stange, deren Höhe über dem Sande genau bestimmt war und gerade zehn Fuß betrug, aufgenommen.

Die erstere zwischen dem Pflocke und dem früheren Standpunkte der Meßstange betrug fünfzehn Fuß.

Die zweite zwischen jenem Pflocke und der Basis des Felsens aber fünfhundert Fuß.

Cyrus Smith und der junge Mann kehrten nach Vollendung dieser Aufnahmen nach den Kaminen zurück.

Der Ingenieur holte einen bei Gelegenheit früherer Ausflüge mitgedrachten[147] flachen Stein, eine Art Schiefer, auf dem man mit Hilfe einer spitzigen Muschel leicht und deutlich zu schreiben vermochte. Er stellte folgende Proportion auf:


14. Capitel

Diese Berechnung ergab demnach für die Granitwand eine Höhe von 3331/3 Fuß.1

Cyrus Smith nahm hierauf das Instrument wieder zur Hand, dessen geöffnete und dann befestigte Schenkel ihm am vorhergehenden Tage zur Messung der Winkelhöhe des Sternes α über dem Horizonte gedient hatten. Den Winkel, welchen diese Schenkel bildeten, maß er möglichst genau auf einem in 360 gleiche Grade getheilten Kreise. Dieser Winkel ergab unter Hinzufügung der siebenundzwanzig Grad, welche den Stern α noch vom Pole trennten, und unter Berücksichtigung der Höhe des Plateaus, von dem aus die Beobachtung stattgefunden hatte, über dem Niveau des Meeres, eine Höhe von dreiundfünfzig Grad. Diese dreiundfünfzig Grad mußten nun endlich noch von neunzig Grad, der Entfernung des Poles von dem Aequator, abgezogen werden, und es verblieben demnach siebenunddreißig Grad. Cyrus Smith gelangte also zu dem Resultate, daß die Insel Lincoln unter 37° südlicher Breite liege, wobei er jedoch seiner mangelhaften Instrumente wegen einen Fehler von fünf Graden annahm, ihre Lage also zwischen dem 35. und 40.° südlicher Breite festsetzte.

Um die Coordinaten der Insel zu erhalten, blieb nun noch die Bestimmung des Längengrades derselben übrig. Diese wollte der Ingenieur noch an demselben Tage, zur Zeit des Meridiandurchganges der Sonne, also zu Mittag, vornehmen.

Der Ostersonntag wurde übrigens zu einem Spaziergange, oder vielmehr zu einer Auskundschaftung derjenigen Theile der Insel bestimmt, welche zwischen dem Norden des Sees und dem Haifisch-Golfe lagen. Wenn es die Witterung zuließ, gedachte man bis zu dem nördlichen Theile des Untertiefer-[148] Caps vorzudringen, wollte zwischen den Dünen Mittag machen und erst gegen Abend zurückkehren.

Um acht und ein halb Uhr des Morgens marschirte die kleine Gesellschaft längs des Canalrandes hin. An der anderen Seite, auf der Küste der Insel des Heils, promenirten gravitätisch zahlreiche Vögel. Es waren Tauchervögel, welche man leicht an dem häßlichen, dem des Esels ähnlichen Geschrei erkennt. Pencroff schenkte ihnen nur von dem Standpunkte der Eßbarkeit einige Rücksicht und vernahm mit gewisser Befriedigung, daß ihr wenn auch etwas schwärzliches Fleisch doch recht schmackhaft sei.

Man bemerkte auch auf dem Sande hinkriechende große Amphibien, ohne Zweifel Robben, welche das Ufer des kleinen Eilandes mit Vorliebe besuchten. Diese erfreuten sich von Pencroff's Standpunkte freilich keiner besonderen Würdigung, da ihr öliges Fleisch so gut wie ungenießbar ist. Dafür betrachtete sie Cyrus Smith mit desto größerer Aufmerksamkeit, und verkündete seinen Gefährten im Voraus, daß man in nächster Zeit einmal das Eiland besuchen werde, ohne daß er für jetzt einen näheren Grund angab.

Der von den Colonisten begangene Strand erschien mit unzähligen Muscheln bedeckt, deren einige Arten einem Liebhaber der Malakologie gewiß große Freude bereitet hätten. Neben schönen Phasianellen, Dreiengelmuscheln u.a. entdeckte man aber, was jetzt viel wichtiger erschien, eine durch die Ebbe bloßgelegte, ausgedehnte Austernbank, welche Nab etwa vier Meilen von den Kaminen zwischen den Felsen auffand.

»Nab hat seinen Tag nicht verloren, rief Pencroff, als er die große Ansiedelung der köstlichen Schalthiere betrachtete.

– Wahrlich, das ist eine glückliche Entdeckung, sagte der Reporter, und vorzüglich, wenn jede Auster, wie man allgemein annimmt, jährlich 50- bis 60,000 Eier producirt, bietet sich uns hier ein unerschöpflicher Vorrath.

– Ich denke nur, daß die Auster nicht besonders nahrhaft ist, bemerkte Harbert.

– Nein, antwortete Cyrus Smith. Die Auster zeigt nur sehr wenig Stickstoffgehalt, und würde ein Mensch, der sich ausschließlich von solchen nähren wollte, täglich mindestens fünfzehn bis sechzehn Dutzend derselben nöthig haben.

– Schön! fiel Pencroff ein. Einige Dutzend Dutzend könnten wir aber doch[149] wohl losbrechen, ohne die Bank zu schädigen. Sollten wir nicht einige zum Frühstück verzehren?«

Und ohne eine Antwort auf seinen Vorschlag abzuwarten, von dessen Annahme er im Voraus überzeugt war, holte er eine reichliche Menge von diesen Mollusken und brachte sie in einer Art Netz von Hibiscusfasern, das Nab's geschickte Hand gefertigt hatte und welches schon die übrigen Bestandtheile der Mittagsmahlzeit enthielt, unter. Dann wanderten Alle zwischen den Dünen und dem Meere weiter.

Von Zeit zu Zeit sah Cyrus Smith nach der Uhr, um sich rechtzeitig zu der beabsichtigten Sonnenbeobachtung vorzubereiten, welche genau zu Mittag stattfinden mußte.

Der ganze Theil der Insel war bis zu der Spitze der Union-Bai, welche den Namen Unterkiefer-Cap erhalten hatte, sehr sandig. Nur auf Sand und Muscheln, vermischt mit einzelnen Lavatrümmern, traf das Auge. Einige Seevögel umschwärmten das nächste Ufer, wie Seemöven, große Albatrosse und einige wilde Enten, welche Pencroff's immer lebendige Eßlust mit vollem Rechte reizten. Wohl versuchte er einige derselben mit Pfeilen zu erlegen, doch ohne Erfolg, denn jene saßen kaum jemals still, und er hätte sie also im Fluge treffen messen.

Dieser Mißerfolg veranlaßte ihn auch, gegen den Ingenieur wiederholt die Worte zu äußern:

»Sehen Sie, Mr. Cyrus, so lange wir noch nicht zwei bis drei Jagdgewehre besitzen, läßt doch unser Material immer Manches zu wünschen übrig.

– Gewiß, Pencroff, erwiderte der Reporter; aber das liegt nur an Ihnen. Verschaffen Sie uns Eisen zu den Läufen, Stahl zu den Schlössern, Salpeter, Kohle und Schwefel zum Pulver, Quecksilber und Salpetersäure zu dem Knallsilber und endlich Blei zu Kugeln, so wird Cyrus uns die schönsten Flinten von der Welt herstellen.

– O, bemerkte der Ingenieur, alle diese Substanzen möchten wohl auf der Insel zu finden sein; eine Feuerwaffe ist aber ein sehr seines Stück Arbeit und verlangt zu ihrer Herstellung vorzüglich genaue Hilfswerkzeuge. Indeß, später werden wir sehen, was sich thun läßt.

– Warum mußten wir aber auch, rief Pencroff, alle die Waffen, welche[150] die Gondel enthielt, über Bord werfen, alle Geräthe, bis auf die Taschenmesser!

– Ja, hätten wir das nicht gethan, Pencroff, belehrte ihn Harbert, so hätte uns der Ballon in's Meer fallen lassen.

– Was Du da sagst, ist freilich wahr, mein Junge!« antwortete ihm der Seemann.

Dann sprang er zu einem anderen Gedanken über und sagte:

»Aber das Erstaunen kann ich mir vorstellen, als Jonathan Forster und seine Begleiter am Morgen nach unserer Abfahrt den Platz leer und den Apparat davongeflogen sahen.

– Das wäre nun meine geringste Sorge, was Jene dabei gedacht haben mögen, sagte der Reporter.

– Die Idee ist jedoch von mir ausgegangen! erklärte Pencroff mit selbstzufriedener Miene.

– Eine schöne Idee, Pencroff, meinte der Reporter lachend, die uns dahin gebracht hat, wo wir jetzt sind.

– Lieber bin ich hier, als in den Händen der Südstaatler! rief der Seemann, zumal seitdem Mr. Cyrus die Gewogenheit hatte, sich uns wieder anzuschließen.

– Ich muß gestehen, ich auch! versetzte der Reporter. Uebrigens was fehlt uns denn? ... Nichts!

– Doch, wenn Sie wollen, ... Alles! antwortete Pencroff und zog seine breiten Schultern in die Höhe. Indessen, einmal wird der Tag ja noch kommen, der uns wieder von hier erlöst.

– Und vielleicht eher, als Sie es glauben, meine Freunde, sprach der Ingenieur, mindestens, wenn die Insel Lincoln nur in mäßiger Entfernung von einem bewohnten Archipel oder einem Continente liegt. Zwar ist mir keine Karte des Stillen Oceans zur Hand, doch bewahrt mein Gedächtniß sehr deutlich die Erinnerung an das Bild seines südlichen Theiles.


Beim Visiren nach der Höhe der Granitwand. (S. 146.)
Beim Visiren nach der Höhe der Granitwand. (S. 146.)

Die gestern erhaltene Breitenlage versetzt unsere Insel im Westen Neu-Seeland, im Osten der Küste von Chile gegenüber. Diese beiden Länder trennt freilich eine Entfernung von 6000 Meilen. Es bleibt uns demnach übrig, festzustellen, auf welchem Punkte dieser breiten Meeresfläche wir uns befinden. Das soll uns die geographische Länge sagen, welche wir mit hinreichender Genauigkeit, wie ich hoffe, soeben zu bestimmen vorhaben.[151]

– Ist es nicht der Pomotou-Archipel, fragte Harbert, der uns der Breite nach am nächsten liegt?

– Ja, antwortete der Ingenieur, dennoch dürften wir bis zu diesem wohl 1200 Meilen haben.

– Und nach dorthin? fragte Nab, der dem Gespräche mit gespanntester Aufmerksamkeit gefolgt war und mit der Hand nach Süden wies.

– Nach dorthin liegt gar nichts, erwiderte der Ingenieur.[152]

– Nun, Cyrus, sagte der Reporter, wenn die Insel Lincoln aber nur zwei- bis dreihundert Meilen von Chile oder Neu-Seeland entfernt läge ...

– Dann, fiel der Ingenieur ein, bauen wir statt eines Hauses ein Fahrzeug, und Meister Pencroff wird zu seiner Leitung berufen ...

– Ha, Mr. Cyrus, meldete sich der Seemann, einen Kapitän wollt' ich schon abgeben, wenn es Ihnen gelingt, ein seetüchtiges Fahrzeug herzustellen.[153]

– Das soll schon geschehen, wenn es nöthig wird!« erwiderte der Ingenieur.


Bei der Aufsuchung der Mittagslinie. (S. 155.)
Bei der Aufsuchung der Mittagslinie. (S. 155.)

Während diese Männer, die an Nichts verzweifelten, also sprachen, nahte die Stunde heran, in welcher die Sonnenbeobachtung vorgenommen werden sollte. Wie würde sich nun Cyrus Smith helfen, den Meridiandurchgang zu bestimmen, da ihm alle Instrumente dazu fehlten? Harbert vermochte sich das auf keine Weise zu enträthseln.

Die Wanderer befanden sich jetzt in einer Entfernung von sechs Meilen von den Kaminen, etwa in jener Gegend der Dünen, in welcher der Ingenieur nach seiner wunderbaren Rettung wiedergefunden worden war. Man machte an dieser Stelle Halt und bereitete Alles zum Frühstück, da nur noch eine halbe Stunde bis zum Mittag fehlte. Harbert machte sich auf, aus dem unsern fließenden Bache Wasser zu holen, das er in einem Kruge, den ihm Pencroff mitgegeben, herbeibrachte. Während dieser Vorbereitungen ordnete Cyrus Smith alles zu seiner astronomischen Beobachtung Nöthige an. Er wählte auf dem Strande eine flache Stelle aus, welche das sich zurückziehende Meer vollkommen geebnet hatte. Die seine Sanddecke erschien glatt wie eine Eisscholle, und kein Körnchen überragte das andere. Ob sie ganz horizontal lag, oder nicht, darauf kam im vorliegenden Falle wenig an und ebenso wenig darauf, ob die sechsfüßige Stange, welche aufgestellt wurde, sich genau in verticaler Richtung befand. Im Gegentheil neigte der Ingenieur diese noch etwas nach Süden, d.h. nach der der Sonne entgegengesetzten Seite, denn man vergesse nicht, daß die Colonisten der Insel Lincoln deshalb, weil diese Insel auf der südlichen Halbkugel lag, das Strahlengestirn seinen Tagesbogen über dem nördlichen, und nicht über dem südlichen Horizonte beschreiben sahen.

Jetzt ward es Harbert klar, wie der Ingenieur verfahren wollte, um die Culmination der Sonne, d.h. ihre Passage durch den Meridian der Insel, oder mit anderen Worten, deren Mittagslinie, zu bestimmen. Es sollte das durch den auf den Sand projectirten Schatten der Stange geschehen, der ihm aus Mangel an Instrumenten ein geeignetes Hilfsmittel zur Erzielung des gewünschten Resultates bot.

Wirklich mußte die Mittagszeit mit dem Augenblicke, in dem dieser Schatten die geringste Länge zeigte, zusammenfallen, und es mußte hinreichen, dem Schatten desselben aufmerksam zu folgen, um den Zeitpunkt wahrzunehmen,[154] wo er sich nach der vorhergegangenen Verkürzung wieder zu verlängern begann. Dadurch, daß Cyrus Smith seinen Stab nach der der Sonne entgegengesetzten Seite neigte, machte er diesen Schatten länger und seine Veränderungen erkennbarer. Denn in der That kann man ja dem Zeiger eines Zifferblattes desto leichter folgen, je länger derselbe ist. Der Schatten des Stabes stellte aber hier nichts Anderes, als den Zeiger eines Zifferblattes dar.

Als er den Zeitpunkt nahe glaubte, kniete Cyrus Smith auf dem Sande nieder und bezeichnete mittels kleiner Holzpflöckchen, die er in den Erdboden steckte, die allmälige Abnahme des Schattenbildes. Seine Gefährten beugten sich über ihn und folgten der Operation mit gespanntestem Interesse.

Der Reporter hielt den Chronometer in der Hand, um die Zeit genau abzulesen, wann der Schatten am kürzesten sein würde. Uebrigens operirte Cyrus Smith, wie erwähnt, am 16. April, d.h. an einem Tage, an dem die wahre Sonnenzeit mit der mittleren bürgerlichen Zeit zusammenfällt, so daß die Angabe Gedeon Spilett's die wahre Zeit in Washington bezeichnen mußte, was die Rechnung wesentlich vereinfachte.

Indessen stieg die Sonne langsam empor, der Schatten des Stabes verkürzte sich nach und nach, und als Cyrus Smith sah, daß er wieder länger werde, fragte er:

»Wie viel Uhr ist es?

– Fünf Uhr und eine Minute«, antwortete sofort Gedeon Spilett.

Zwischen dem Meridiane von Washington und dem der Insel Lincoln lag also ein Zeitunterschied von rund fünf Stunden, d.h. es war auf der Insel Lincoln erst Mittag, wenn die Uhren in Washington schon auf fünf Uhr Nachmittags zeigten. Die Sonne durchläuft nun bei ihrer scheinbaren Bewegung um die Erde einen Grad in vier Minuten, also fünfzehn Grad in einer Stunde. Fünfzehn Grade mit fünf Stunden multiplicirt ergaben demnach fünfundsiebenzig Grade.

Da nun Washington 77°3'11'' westlich von Greenwich liegt, von wo aus die Amerikaner ebenso wie die Engländer ihre Längengrade zählen, so folgt daraus, daß die Insel siebenundsiebenzig plus fünfundsiebenzig Grade, d.h. also unter 152° westlicher Länge zu suchen war.

Cyrus Smith verkündigte dieses Resultat seinen Gefährten, und unter Berücksichtigung der möglichen Irrthümer glaubte er die Lage der Insel[155] Lincoln unter dem fünfunddreißigsten bis vierzigsten Grade südlicher Breite und dem hundertfünfzigsten bis hundertfünfundfünfzigsten Grade der Länge westlich von Greenwich annehmen zu dürfen.

Den Spielraum der etwaigen Beobachtungsfehler schätzte er, wie man sieht, in beiden Richtungen auf etwa fünf Grade, was bei sechzig Meilen auf den Grad gegenüber einer exacten Beobachtung einen möglichen Irrthum von dreihundert Meilen in der Länge und der Breite ergab.

Dieser Fehler erschien aber ohne bestimmenden Einfluß auf die aus jener Beobachtung herzuleitenden Beschlüsse. Jedenfalls befand sich die Insel Lincoln in einer so großen Entfernung von jedem Lande und jeder Inselgruppe, daß man es nicht wagen konnte, dieselbe auf einem schwanken, gebrechlichen Canot zu durchmessen.

In der That trennten sie mindestens 1200 Meilen von Tahiti und dem Pomotou-Archipel, mehr als 1800 Meilen von Neu-Seeland, und mehr als 4500 Meilen von der amerikanischen Küste.

Und als Cyrus Smith sich alle seine Erinnerungen vor Augen führte, traf er auf keine, welche mit irgend einer Insel in demjenigen Theile des Pacifischen Oceans, welchen die Insel Lincoln einnahm, zusammen gefallen wäre.

Fußnoten

1 Hier sind englische Fuß ( = 0,30 m) gemeint.


Quelle:
Jules Verne: Die geheimnisvolle Insel. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XIV–XVI, Wien, Pest, Leipzig 1876, S. 156.
Lizenz:

Buchempfehlung

Jean Paul

Selberlebensbeschreibung

Selberlebensbeschreibung

Schon der Titel, der auch damals kein geläufiges Synonym für »Autobiografie« war, zeigt den skurril humorvollen Stil des Autors Jean Paul, der in den letzten Jahren vor seiner Erblindung seine Jugenderinnerungen aufgeschrieben und in drei »Vorlesungen« angeordnet hat. »Ich bin ein Ich« stellt er dabei selbstbewußt fest.

56 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon