Zwanzigstes Capitel.
Ein einzelner Felsen im Stillen Weltmeere. – Die letzte Zuflucht der Colonisten der Insel Lincoln. – Der Tod in Aussicht. – Unerwartete Hilfe. – Wie das zuging. – Die letzte Wohlthat. – Eine Insel mitten im Festland. – Das Grab des Kapitän Nemo.

[707] Ein isolirtes Felsstück von dreißig Fuß Länge und fünfzehn in der Breite, das kaum zehn Fuß hervorragte, bildete den einzigen festen Punkt, den die Wogen des Pacifischen Oceanes nicht überflutheten.

Das war Alles, was von dem Gebirgsstock des Granithauses übrig geblieben war. Die Mauer stürzte in sich zusammen, schob sich durcheinander, und dabei hatten sich einige Felsentheile von dem großen Saale der früheren Wohnung übereinander gethürmt, und bildeten auf diese Weise jenen aufragenden[707] Punkt. Alles rund umher verschwand im Abgrunde: der untere Kegel des Franklin-Berges, die granitenen Kiefern des Haifisch-Golfes, das Plateau der Freien Umschau, die Insel der Rettung, die Felsen des Ballonhafens, die Basalte der Dakkar-Krypte, die von dem Centrum der Eruption so weit entfernte, lange Schlangenhalbinsel. Von der Insel Lincoln sah man nur noch jenen beschränkten Felsen, der nun den sechs Colonisten und ihrem Hunde Top eine Zuflucht bot.

Gleichzeitig fanden alle Thiere bei der Katastrophe ihren Untergang, die Vögel ebenso, wie die Vertreter der Fauna der Insel, alle wurden zerschmettert oder ertränkt, und auch den armen Jup hatte in irgend einer Felsspalte ein trauriger Tod ereilt.

Wenn Cyrus Smith, Gedeon Spilett und die klebrigen das schreckliche Naturereigniß überlebten, so kam das daher, daß sie sich in's Meer geworfen hatten, als es ringsum Felsenstücke hagelte.

Wieder aufgetaucht, sahen sie Nichts, als in einer halben Kabellänge Entfernung jene Felsenanhäufung, auf die sie zuschwammen und sich dadurch retteten.

Auf diesem nackten Felsen lebten sie seit neun Tagen. Einiger vor der Katastrophe aus den Vorrathskammern des Granithauses entnommener Mundvorrath, ein wenig Wasser, das sich vom Regen in einer Mulde des Felsens sammelte, das war Alles, was die Unglücklichen besaßen Ihre letzte Hoffnung, ihr Schiff, war zertrümmert worden. Sie hatten kein Mittel, dieses Riff zu verlassen, kein Feuer oder die Möglichkeit, solches zu erzeugen. Sie fühlten sich jetzt dem Untergange geweiht!

An diesem Tage, dem 18. März, verblieb ihnen noch für zwei Tage etwas Nahrung, obwohl sie sich immer so weit als möglich einschränkten. All' ihr Wissen, ihre Intelligenz vermochte in dieser Lage nicht zu helfen; sie standen allein in Gottes Hand.

Cyrus Smith verhielt sich ruhig. Der nervösere Gedeon Spilett und Pencroff, bei dem ein versteckter Zorn glimmte, liefen auf dem Felsen hin und her. Harbert verließ den Ingenieur nicht und heftete seine Augen auf diesen, als erwarte er von ihm noch eine Hilfe, welche jener doch nicht gewähren konnte. Nab und Ayrton schienen in ihr Schicksal ergeben.

»O, dieses Elend! jammerte Pencroff, hätten wir auch nur eine Nußschale, um nach der Insel Tabor überzusetzen! Aber nichts! Gar nichts![708]

– Kapitän Nemo that wohl daran, vorher zu sterben!« sagte Nab.

Die folgenden fünf Tage über lebten Cyrus Smith und seine unglücklichen Gefährten mit äußerster Sparsamkeit, und aßen nur so viel, um dem Hungertode zu entgehen. Ihre Entkräftung erreichte den höchsten Grad. Harbert und Nab begannen schon leise zu deliriren.

Konnten sie unter diesen Verhältnissen wohl noch ein Fünkchen Hoffnung bewahren? Nein! Welche Aussicht auf Rettung hatten sie denn? Daß ein Schiff in der Nähe des Risses vorüber segle? Sie wußten ja aus langer Erfahrung, daß Fahrzeuge niemals diesen Theil des Großen Oceans besuchten. Sollten sie annehmen, daß die schottische Yacht gerade zu dieser Zeit von der Vorsehung gesendet ankäme, um Ayrton von der Insel Tabor abzuholen? Das hatte doch zu wenig Wahrscheinlichkeit für sich. Da es ihnen noch dazu nicht möglich geworden war, daselbst eine Notiz über den veränderten Aufenthaltsort Ayrton's niederzulegen, so ließ sich voraussehen, daß der Commandant der Yacht nach vergeblicher Durchsuchung der Insel Tabor wieder auf's hohe Meer zurückkehren und bald niedrigere Breiten erreichen werde.

Nein! Jede Hoffnung auf Rettung verschwand ihnen; vor Hunger oder Durst mußten sie auf dem öden Felsenriffe gewiß eines elenden Todes sterben.

Sie hatten sich schon halb leblos zu Boden gestreckt und das Bewußtsein für Alles, was um sie vorging, fast eingebüßt. Ayrton allein erhob mit der letzten Kraftanspannung den Kopf und warf einen verzweifelten Blick auf das öde, grenzenlose Meer ...

Da, es war am Morgen des 24. März, streckte Ayrton die Arme nach einem Punkte des Horizontes, erhob sich erst auf die Knie, dann vollständig, und schien mit der Hand ein Zeichen geben zu wollen ...

Ein Schiff war in Sicht der Insel! Es furchte nicht planlos das weite Meer. Das Riff schien sein Ziel zu sein, auf das es in gerader Linie zusteuerte und stärkeren Dampf gab. Die Unglücklichen hätten es schon seit einigen Stunden bemerken müssen, wenn ihnen die Kräfte nicht fehlten, den fernen Horizont zu beobachten.

»Der Duncan!« rief Ayrton halblaut und sank bewegungslos zusammen.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
[709]

Als Cyrus Smith und seine Gefährten wieder zum Bewußtsein kamen, Dank der sorgsamen Pflege, die andere Hände ihnen widmeten, fanden sie sich im Salon eines Dampfers wieder, ohne sich erklären zu können, wie sie dem Tode entronnen waren.

Ein einziges Wort von Ayrton gab ihnen Licht.

»Der Duncan! flüsterte er.

– Der Duncan!« wiederholte Cyrus Smith.

Dann erhob er seine Arme gen Himmel und sprach:

»O du allmächtiger Gott! Du wolltest uns also nicht untergehen lassen!«

Es war wirklich der Duncan, die Yacht des Lord Glenarvan, jetzt von Robert, dem Sohne des Kapitän Grant, geführt, die von der Insel Tabor Ayrton nach zwölfjähriger Verbannung wieder in seine Heimat befördern sollte.

Die Colonisten waren gerettet und befanden sich schon auf dem Heimwege!

»Kapitän Robert, fragte Cyrus Smith, wer konnte Ihnen den Gedanken eingeben, nach dem Absegeln von der Insel Tabor, wo Sie Ayrton nicht gefunden hatten, einen hundert Meilen langen Weg nach Nordosten einzuschlagen?

– Das geschah, Herr Smith, erwiderte Robert Grant, um nicht allein Ayrton, sondern auch Sie und Ihre Freunde zu suchen.

– Meine Freunde und mich!

– Gewiß! Auf der Insel Lincoln.

– Auf der Insel Lincoln! riefen Gedeon Spilett, Harbert, Nab und Pencroff im größten Erstaunen wie aus einem Munde.

– Woher kannten Sie die Insel Lincoln, fragte Cyrus Smith, da dieselbe noch auf keiner Karte eingetragen ist?

– Ich erfuhr von ihr durch die Notiz, welche Sie auf der Insel Tabor zurückgelassen hatten, erwiderte Robert Grant.

– Eine Notiz? rief Gedeon Spilett.

– Gewiß; hier ist sie, antwortete Robert Grant und wies ein Schriftstück vor, das die Lage der Insel Lincoln, ›den jetzigen Aufenthaltsort Ayrton's und fünf amerikanischer Colonisten‹, nach Länge und Breite angab.

– Das ist der Kapitän Nemo! ... sagte Cyrus Smith, als er die[710] Notiz gelesen und in der Handschrift dieselbe erkannt hatte, von der jener in der Hürde vorgefundene Zettel herrührte.

– Ah, sagte Pencroff, so war er es also gewesen, der unseren Bonadventure benutzt und sich allein nach der Insel Tabor gewagt hatte ...

– Um dort jene Notiz niederzulegen, fügte Harbert hinzu.

– Ich hatte also doch Recht, zu sagen, äußerte der Seemann, daß der Kapitän uns auch nach seinem Tode noch den letzten Dienst erweisen werde

– Meine Freunde, sagte Cyrus Smith mit feierlich bewegter Stimme, der alldarmherzige Gott erhalte die Seele des Kapitän Nemo, unseres Retters!«

Betend hatten die Colonisten bei diesen Worten das Haupt entblößt.

Da näherte sich Ayrton dem Ingenieur und sagte einfach:

»Wo soll dieser Koffer untergebracht werden?«

Es war der Koffer Nemo's, den Ayrton beim Versinken der Insel mit Lebensgefahr gerettet hatte und den er jetzt getreulich dem Ingenieur wieder übergab.

»Ayrton! Ayrton!« rief Cyrus Smith tief bewegt.

Dann wandte er sich an Robert Grant und sagte:

»Da, wo Sie einst einen Schuldbelasteten zurückließen, finden Sie jetzt ein durch die Reue geläutertes Herz wieder, einen Mann, dem ich stolz bin meine Hand bieten zu dürfen.«

Man machte nun Robert Grant Mittheilung von der Geschichte des Kapitän Nemo und der der Colonisten der Insel Lincoln. Nachdem das Riff noch aufgenommen worden war, um zukünftig auf den Karten des Stillen Oceans eine Stelle zu finden, gab der Kapitän Befehl zu wenden.


Ein Schiff in Sicht der Insel. (S. 709.)
Ein Schiff in Sicht der Insel. (S. 709.)

Vierzehn Tage später landeten die Colonisten an der Küste Amerikas und fanden ihr Vaterland wieder im Frieden nach jenem schrecklichen Kriege, der doch mit dem Triumphe des Rechtes und der Gerechtigkeit geendet hatte.

Von den in dem Koffer, dem Legate des Kapitän Nemo, enthaltenen Schätzen ward der größte Theil zur Erwerbung einer ausgedehnten Besitzung im Staate Iowa verwendet. Eine einzige Perle, und zwar die schönste, wurde dem Schatze entnommen und der Lady Glenarvan im Namen der glücklich Heimgekehrten übersendet.

Dort nach ihrer Besitzung, riefen die Colonisten alle Diejenigen zur Arbeit d.h. zum Reichthum und zum Glücke, denen sie auf der Insel Lincoln[711] ihre Gastfreundschaft hatten bieten wollen Dort wurde eine große Colonie begründet, der sie den Namen ihrer in den Stillen Ocean versunkenen Insel gaben. Da fand sich ein Fluß, den man die Mercy, ein Berg, den man den Franklin taufte; ein kleiner See, der den Grant-See ersetzte, und Wälder, welche die Wälder des fernen Westens hießen. Das Ganze bildete gleichsam eine Insel mitten im Festlande.

Dort gedieh unter den geschickten Händen des Ingenieurs und seiner[712] Gefährten Alles vortrefflich. Nicht Einer der früheren Colonisten der Insel Lincoln fehlte, denn sie hatten geschworen immer zusammen zu leben: Nab da, wo sein Herr blieb; Ayrton bereit zu Allem, was nöthig wurde; Pencroff, als Farmer fast eifriger, als früher als Seemann; Harbert, der unter Cyrus Smiths Leitung seine Ausbildung vollendete; selbst Gedeon Spilett, der den New-Lincoln-Herald begründete, der sich zum bestunterrichteten Journale der Welt erhob.

Dort erfreuten sich Cyrus Smith und seine Gefährten öfter des Besuchs des Lord und der Lady Glenarvan, des Kapitän John Mängles und seiner Frau, der Schwester Robert Grant's; dann dieses selbst; des Major Mac Nabb's und aller Derjenigen, die zu den doppelten Abenteuern des Kapitän Nemo und des Kapitän Grant irgend wie in Beziehung standen.

Dort endlich lebten Alle glücklich, einig in der Gegenwart wie in der Vergangenheit; niemals aber konnten sie jene Insel vergessen, nach der sie einst arm und nackt gekommen; der Insel, welche ihnen vier volle Jahre lang Alles geboten hatte, was sie bedurften, und von der nur ein Stück Granit übrig war: das von den Wogen des Großen Oceans gepeitschte Grab Dessen, der sich einst den Kapitän Nemo nannte!

Quelle:
Jules Verne: Reise durch die Sonnenwelt. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXV–XXVI, Wien, Pest, Leipzig 1878.
Lizenz:

Buchempfehlung

Dulk, Albert

Die Wände. Eine politische Komödie in einem Akte

Die Wände. Eine politische Komödie in einem Akte

Diese »politische Komödie in einem Akt« spiegelt die Idee des souveränen Volkswillen aus der Märzrevolution wider.

30 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon