Achtzehntes Capitel.
Welches von dem Empfange des General-Gouverneurs der Insel Gourbi und den Vorkommnissen während seiner Abwesenheit handelt.

[162] Die Goëlette hatte die Insel vom 31. Januar verlassen und kehrte zu ihr zurück am 5. März, nach einer Reise von fünfunddreißig Tagen – da das Erdenjahr ein Schaltjahr war. Diese fünfunddreißig Tage entsprachen siebenzig Gallia-Tagen, weil die Sonne während jenes Zeitraumes den Meridian der Insel ebenso viele Male passirte.

Hector Servadac fühlte sich innerlich erregt, als er sich diesem letzten, von der allgemeinen Zerstörung verschonten Restchen des algierischen Bodens näherte. Wiederholt hatte er sich während dieser langen Abwesenheit gefragt, ob er es wohl noch an derselben Stelle sammt dem treuen Ben-Zouf wiederfinden werde. Diese Zweifel erschienen nicht ungereimt, wenn man bedenkt, welch' eingreifende Veränderung die Oberfläche der Gallia durch jene unerhörten kosmischen Processe erlitten hatte.

Die Befürchtungen des Stabsofficiers sollten sich zum Glück aber nicht erfüllen. Die Insel Gourbi war vorhanden; ja – welch' eigenthümliche Erscheinung – noch vor der Ankunft im Hafen des Cheliff vermochte Hector Servadac eine sonderbare Wolke wahrzunehmen, welche nur etwa hundert[162] Fuß über dem Boden seines Gebietes schwebte. Als die Goëlette nur noch wenige Kabellängen von der Küste entfernt war, zeigte sich die erwähnte Wolke als eine sehr dichte Masse, welche automatisch in der Atmosphäre auf- und niederwogte. Kapitän Servadac erkannte auch sehr bald, daß es sich hier nicht um eine Anhäufung zur Bläschenform condensirter Dunstmassen, sondern um eine ungeheure Schaar von Vögeln handelte, welche sich, ähnlich den Häringszügen im Meere, dicht aneinander gedrängt hielten. Aus der Mitte dieser weit hingestreckten Wolke tönte ein betäubendes Geschrei, dem von unten her häufige Flintenschüsse antworteten.

Die Dobryna signalisirte ihre Ankunft durch einen Kanonenschuß und ging in dem kleinen Hafen des Cheliff vor Anker.

In diesem Augenblick lief ein Mann mit dem Gewehre in der Hand herbei und sprang auf die Felsen am Ufer.

Es war Ben-Zouf.

Erst blieb er unbeweglich, die Augen auf fünfzehn Schritt Entfernung fixirt, »soweit das die Organisation des Körpers zuläßt«, wie die Instructions-Unterofficiere sagen, mit aller gebührenden Ehrerbietung stehen. Der brave Soldat vermochte sich aber doch nicht ganz zu bezwingen, sondern eilte seinem Kapitän, der eben das Land betrat, entgegen und küßte ihm zärtlich die Hände.

Statt der sonst gewöhnlichen Bewillkommnungen, wie: »Welch' Glück, Sie wieder zu sehen ! – Ich wurde schon recht unruhig!« oder »O, wie lange blieben Sie weg!« u. dergl. rief Ben-Zouf vielmehr:

»O, diese Schurken! Diese Banditen! O, das ist gut, daß Sie kommen, mein Kapitän! Diese Diebe! Diese Piraten! Diese elenden Beduinen!«

»Aber was ist Dir denn, Ben-Zouf? fragte Hector Servadac, den diese grimmigen Ausrufe zu dem Glauben verleiteten, es sei eine Bande Araber in sein Gebiet eingebrochen.

– Nun, diese Satansvögel da oben! antwortete Ben-Zouf. Seit einem Monat schon verschwende ich mein Pulver gegen diese Räuber. Je mehr ich davon todt schieße, desto mehr kommen wieder. Ich sage Ihnen, wenn wir diese geschnäbelten und gefiederten Kabylen gewähren ließen, bald fänden wir kein Getreidekörnchen mehr auf der Insel!«

Graf Timascheff und Lieutenant Prokop, welche ebenfalls herzukamen, konnten mit Kapitän Servadac bestätigen, daß Ben-Zouf keineswegs übertrieb.[163]

Die reiche, während der großen Hitze im Januar, als die Gallia durch ihr Perihel ging, schnell gereifte Ernte wurde jetzt vielen Tausenden von Vögeln zur Beute. Nur ein kleines Ueberbleibsel derselben war dem gefräßigen Geflügel entgangen. Eigentlich sollte man freilich sagen, ein Ueberbleibsel dessen, was von der Ernte noch auf dem Halme stand, denn Ben-Zouf hatte während der Abwesenheit der Dobryna nicht gefeiert, wofür die zahlreichen Getreidefeime zeugten, welche da und dort auf den schon kahlen Feldern standen.

Die Schaar von Vögeln, welche den Zorn des Kapitänsburschen so hell auflodern machte, bestand aus allen denen, die die Gallia bei ihrer Losreißung von der Erde zufällig entführte. Natürlich hatten jene auf der Insel Gourbi Zuflucht gesucht, wo sie allein Felder, Wiesen und Süßwasser fanden – ein Beweis, daß kein anderer Theil des Asteroïdes ihnen Nahrung zu liefern vermochte. Freilich suchten sie jetzt auf Kosten der Inselbewohner zu leben, ein Unterfangen, dem man mit allen erdenklichen Mitteln entgegentreten mußte.

»Wir werden ihnen die Wege weisen, sagte Hector Servadac.

– Das hoffe ich, mein Kapitän, erwiderte Ben-Zouf. Doch sagen Sie mir, was ist aus unseren afrikanischen Kameraden geworden?

– Unsere afrikanischen Kameraden sind noch immer in Afrika, antwortete Hector Servadac.

– Die wackeren Soldaten!

– Gewiß; nur Afrika ist leider nicht mehr vorhanden, fügte Kapitän Servadac hinzu.

– Kein Afrika mehrt – Aber Frankreich? ...

– Frankreich! O, das liegt jetzt weit von uns, Ben-Zouf.

– Und mein Montmartre?«

Diese Frage lag ihm vorzüglich am Herzen. Mit kurzen Worten erklärte Kapitän Servadac seiner Ordonnanz, was geschehen sei, und daß der Montmartre und mit ihm Paris, mit Paris aber ganz Frankreich, mit diesem Europa und mit Europa überhaupt die ganze Erdkugel jetzt achtzig Millionen Lieues von der Gallia entfernt lägen, die Hoffnung auf eine Rückkehr dahin also nahezu aufzugeben sei.

»Ei was da! rief die Ordonnanz. Das wäre noch schöner! Laurent, genannt Ben-Zouf, vom Montmartre, und sollte den Montmartre nicht[164] wiedersehen! Dummheiten, mein Kapitän, bei aller Hochachtung für Sie, das sind Dummheiten!«

Dazu schüttelte Ben-Zouf mit dem Kopfe, wie ein Mann, den keine Macht der Erde eines Anderen zu belehren im Stande wäre.

»Recht so, erwiderte ihm Kapitän Servadac. Hoffe Du, so viel es Dir beliebt. Man soll niemals verzweifeln! Das ist offenbar auch der Wahlspruch unseres anonymen Correspondenten. Doch denken wir nun auch daran, uns auf der Insel Gourbi häuslich einzurichten, als sollten wir für immer hier bleiben.«

So im Gespräche hatte sich Hector Servadac, der dem Grafen Timascheff und dem Lieutenant Prokop vorausging, nach dem durch Ben-Zouf's Sorgfalt wieder in Stand gesetzten Gourbi begeben. Auch das Wachthaus war wieder hergestellt und Galette und Zephyr mit reichlicher Streu versorgt. Hier in dieser bescheidenen Hütte bot Hector Servadac seinen Gästen Unterkommen an, ebenso wie der kleinen, von ihrer Ziege begleiteten Nina. Unterwegs noch ergötzte sich Ben-Zouf an zwei herzhaften Küssen Nina's und Marzy's, welche ihm diese beiden zutraulichen Wesen aus gutem Herzen gegeben hatten.

Nun wurde im Gourbi sofort eine Berathung abgehalten, was wohl zunächst vorzunehmen sei.

Als brennendste Frage trat dabei vor allen die nach der zukünftigen Wohnung hervor. Wie sollte man sich auf der Insel einrichten, um der furchtbaren Kälte zu trotzen, welche die Gallia auf ihrer interplanetarischen Fahrt jedenfalls heimsuchen würde, und deren Dauer man gar nicht abzuschätzen wußte? Diese Zeitdauer hing offenbar von der Excentricität der von dem Asteroïden durchlaufenen Bahn ab, und es konnten vielleicht viele Jahre vergehen, bevor derselbe wieder in seine Sonnennähe zurückkehrte. Dazu besaß man keineswegs reichliche Vorräthe an Heizmaterial, Kohle z.B. gab es gar nicht, Bäume nur wenige, wohl aber die betrübende Aussicht, daß während der Periode der gewiß excessiven Kälte gar nichts wachsen werde. Was war zu thun? Wie konnte man sich vor diesem drohenden Verhängniß am besten schützen? Ein Ausweg mußte, und zwar in kürzester Frist, gefunden werden.

Die Ernährungsfrage der Kolonie bot weniger unmittelbare Schwierigkeiten; auch bezüglich des nothwendigen Getränkes war gewiß nichts zu[165] fürchten. Ueber die Ebene rannen ja mehrere Bäche, deren Wasser verschiedene Cisternen füllte. Durch andauernde Kälte mußte auch das Meer der Gallia gefrieren und trinkbares Wasser in Ueberfluß liefern, da Eis ja bekanntlich kein Körnchen Salz mehr enthält.

Die Nahrung im strengsten Sinne des Wortes, d.h. ein Vorrath an den zur Erhaltung des Lebens nothwendigen stickstoffhaltigen Materialien war für lange Zeit gesichert. Einestheils lieferten die Cerealien, welche nur der Einbringung harrten, andererseits die auf der Insel zerstreuten Heerden einen hinreichenden Vorrath. Während der Kälteperiode mußte das Land natürlich unfruchtbar bleiben und konnte an eine weitere Futterernte zur Ernährung der Hausthiere nicht gedacht werden. Dieser Umstand nöthigte zu gewissen Maßregeln, und wenn es gelang, die Dauer des Umlaufs der Gallia um das Centrum der Attraction festzustellen, so wollte man darnach die Zahl der während der Winterperiode zu haltenden Thiere berechnen.

Die eigentliche Bevölkerung der Gallia aber bestand, abgesehen von den dreizehn Engländern in Gibraltar, aus acht Russen, zwei Franzosen und einer kleinen Italienerin. Elf Bewohner hatte die Insel Gourbi also zu ernähren.

Nach Feststellung dieser Zahl durch Hector Servadac ließ sich aber plötzlich Ben-Zouf noch vernehmen.

»Nein, mein Kapitän, rief er, es thut mir leid, Ihnen widersprechen zu müssen. Ihre Rechnung stimmt noch nicht.

– Wieso?

– Ich muß Ihnen melden, daß wir dreiundzwanzig Einwohner sind!

– Hier auf der Insel?

– Ja wohl.

– Erkläre Dich näher, Ben-Zouf.

– Bis jetzt fand ich noch keine Gelegenheit, meinen Rapport abzustatten. Während Ihrer Abwesenheit hab' ich Tischgäste bekommen.

– Tischgäste?

– Freilich ... Doch, zur Sache, fuhr Ben-Zouf fort. Sehen Sie sich einmal um, und auch Sie, meine Herren Russen. Die Erntearbeiten sind gewiß schon weit vorgeschritten und dazu hätten doch meine zwei Arme beim besten Willen nicht genügt.

– Das sehe ich ein, bemerkte Lieutenant Prokop.[166]

– Kommen Sie Alle mit. Es ist nicht weit von hier. Nur zwei Kilometer. Doch die Gewehre wollen wir mitnehmen.

– Um uns zu vertheidigen? ... fragte Kapitän Servadac.

– Nicht gegen Menschen, beruhigte ihn Ben-Zouf, aber gegen die verwünschten Vögel.«

Neugierig erregt, folgten Kapitän Servadac, Graf Timascheff und Lieutenant Prokop der Ordonnanz, während sie die kleine Nina nebst ihrer Ziege im Gourbi zurückließen.

Unterwegs unterhielten Kapitän Servadac und seine Begleiter ein wohlgezieltes Gewehrfeuer gegen die Wolke von Vögeln, welche über ihnen hin und her schwebte. Letztere bestand aus Abertausenden wilder und langgeschwänzter Enten, Wasserschnepfen, Lerchen, Krähen, Schwalben und anderen, zu denen sich die Seevögel, wie Trauerenten, Sturmvögel, Möven, und von Federwild Wachteln, Rebhühner, Schnepfen und andere mischten. Kein Schuß ging fehl, zu Dutzenden fielen die Getroffenen. Es war keine Jagd, vielmehr die Ausrottung einer frechen Räuberbande.

Statt der nördlichen Küste der Insel zu folgen, schlug Ben-Zouf einen Weg quer über die Ebene ein.


Der Jude eilte ganz außer sich sofort auf den Stabsofficier zu. (S. 171.)
Der Jude eilte ganz außer sich sofort auf den Stabsofficier zu. (S. 171.)

Nach zehn Minuten schon hatten, Dank ihres verminderten specifischen Gewichtes, Kapitän Servadac und seine Begleiter die zwei Kilometer, von denen Ben-Zouf vorher sprach, zurückgelegt, und erreichten damit ein umfängliches Dickicht von Sykomoren und Eukalypten, welches sich anmuthig längs des Fußes eines kleinen Hügels hin erstreckte. Hier machten sie Halt.

»O, diese Schurken! Diese Banditen! Diese Beduinen! rief Ben-Zouf den Boden stampfend.

– Meinst Du damit immer wieder die Vögel? fragte Kapitän Servadac.

– Ei nein, mein Kapitän! Ich rede von diesen vermaledeiten Faullenzern hier, die schon wieder ihre Arbeit im Stiche gelassen haben! Da, sehen Sie nur!«

Ben-Zouf wies bei diesen Worten auf verschiedene Sicheln, Sensen, Rechen und andere Werkzeuge und Geräthe, welche auf der Erde umher lagen.

»Nun, zum Kuckuck, Meister Ben-Zouf, wirst Du Dich bald erklären, um was es sich hier handelt? fragte Kapitän Servadac, dem allmälig die Geduld ausging.[167]

– Still, mein Kapitän, hören Sie, hören Sie! erwiderte Ben-Zouf. Nein, ich täuschte mich nicht.«

Bei schärferem Aufhorchen konnten Hector Servadac und seine beiden Gefährten eine singende Stimme, eine schnarrende Guitarre und tactmäßig klappernde Castagnetten hören.

»Spanier! rief Kapitän Servadac.[168]

– Und das ist noch gar nichts, sagte Ben-Zouf, die Leute schlagen ihre Castagnetten noch vor der Mündung einer Kanone!

– Aber was bedeutet das Alles? ...

– Hören Sie erst, jetzt kommt der Alte an die Reihe.«


Isaak Hakhabut.
Isaak Hakhabut.

Eine audere Stimme, welche nicht sang, ließ sich mit heftigen Vorwürfen[169] Kapitän Servadac verstand als geborner Gascogner hinlänglich spanisch. Nach einem Verse, welcher wie folgt:


Tu sandungo y cigarro,

Y una cana de Jerez,

Mi jamelgo y un trabuco,

Que mas gloria puede haver.1


lautete, hörte man die andere scharfklingende Stimme wiederholt rufen:

»Mein Geld! mein Geld! Werd' ich endlich erhalten mein Geld, das Ihr mir schuldig seid, Ihr erbärmlichen Majos!«

Darauf erklang das Lied weiter:


Para Alcarrazas, Chiclana,

Para trigo, Trebujena,

Y para ninus bonitas,

San Lucar de Barrameda.2


»Ja, Ihr sollt mir bezahlen meine Forderung, Ihr Spitzbuben! erscholl wieder jene Stimme unter dem Geräusch der Castagnetten. Ihr werdet sie mir zahlen bei dem Gotte Abraham's, Isaak's und Jakob's!

– Ei zum Teufel, das ist ja ein Jude! rief Kapitän Servadac.

– Ja, und was das Schlimmste ist, ein deutscher Jude.«

Gerade als die beiden Franzosen und die zwei Russen aber sich in das Baumdickicht begeben wollten, hielt sie ein merkwürdiges Schauspiel an dessen Rande zurück. Die Spanier begannen eben einen echt nationalen Fandango. Entsprechend ihrer Gewichtsabnahme, wie der aller auf der Gallia befindlichen Gegenstände, sprangen sie dabei wohl dreißig bis vierzig Fuß in die Höhe und wurden somit oberhalb der Bäume sichtbar, was einen unbeschreiblich komischen Anblick gewährte. Es waren ihrer drei muskulöse Majos, die einen alten Mann mit sich emporhoben, der sich sehr wider Willen in solch ungewohnte Höhe versetzt zu sehen schien. Man sah ihn erscheinen und verschwinden, wie es einst dem Sancho Pansa erging, als ihn die lustigen Tuchmacher von Segovia im Uebermuthe prellten.[170]

Hector Servadac, Graf Timascheff, Prokop und Ben-Zouf betraten neugierig das Gehölz und gelangten bald nach einer kleinen Lichtung. Dort wanden sich ein Guitarrespieler und ein Castagnettenschläger, welche am Boden lagen, vor Lachen und feuerten die Tänzer immer mehr und mehr an.

Beim Anblick Kapitän Servadac's und seiner Begleiter verstummten die Musiker plötzlich, und die Tänzer fielen, ihr unglückliches Opfer in der Mitte, sanft zur Erde nieder.

Athemlos und ganz außer sich eilte der Jude sofort auf den Stabsofficier zu und redete ihn jetzt französisch, doch mit sehr deutschthümelndem Dialect an.

»Ah, Herr General-Gouverneur! rief er, diese Schurken wollen mir stehlen mein Hab' und Gut. Aber beim ewigen Gott, Sie werden mir helfen zu meinem Rechte!«

Verwundert sah Kapitän Servadac auf Ben-Zouf, als wolle er diesen fragen, wie er zu dieser ehrenvollen Titulatur komme, und Letzterer schien durch eine bezeichnende Kopfbewegung zu antworten:

»Lassen Sie das nur gut sein, mein Kapitän; Sie sind letzt hier General-Gouverneur. Ich habe das einmal so arrangirt!«

Kapitän Servadac bedeutete dem Juden, zu schweigen, und dieser neigte ehrfurchtsvoll den Kopf und kreuzte die Arme über der Brust.

Jetzt konnte man ihn nach Belieben mustern.

Es war ein Mann von fünfzig Jahren, den man leicht für sechzig halten konnte. Klein und hager von Gestalt, mit lebhaften, aber falschen Augen, gebogener Nase, gelblich-rothem Barte, struppigem Haar, großen Füßen, langen, krallenartigen Händen, zeigte er ganz den Typus des deutschen Juden, der sich von allen anderen leicht unterscheidet. Das war der Wucherer mit dem Katzenbuckel und kalten Herzen, der Münzenkipper, der zusammenscharrende Geizhals von oben bis unten.

Silber hatte auf diesen Menschen ebensoviel Anziehungskraft wie der Magnet auf Eisen, und wenn es diesem Shylock gelungen wäre, sich auf die bekannte Weise von seinem Schuldner bezahlt zu machen, so hätte er dessen Fleisch gewiß noch einmal weiter verschachert. Obwohl von Geburt Israelit, spielte er in mohammedanischen Ländern den Mohammedaner und wäre Heide geworden, wenn ihm das »mehr abgeworfen« hätte.[171]

Dieser Jude nannte sich Isaak Hakhabut und stammte aus Köln, war also erst Preuße und in zweiter Linie Deutscher. Nach seiner Mittheilung gegen Kapitän Servadac befand er sich das ganze Jahr über in Handelsgeschäften auf der Reise, wobei er Küstenhandel längs der Umgebungen des Mittelmeeres betrieb. Sein Magazin – eine Tartane von zweihundert Tonnen, ein wahrhafter fliegender Krammladen – versorgte die Küstenorte mit tausenderlei verschiedenen Artikeln, von den Streichhölzchen an bis zu den bunten Bilderbogen aus Frankfurt oder Epinal.

Isaak Hakhabut hatte keinen anderen Wohnsitz als seine Tartane, die »Hansa«. Unbeweibt und kinderlos lebte er an Bord. Ein Obersteuermann und drei Mann Besatzung genügten zur Führung des leichten Fahrzeuges, welches bei seinen kurzen Küstenfahrten Algerien, Tunis, Egypten, die Türkei, Griechenland und alle Stapelplätze der Levante berührte. Mit Vorräthen an Kaffee, Zucker, Reis, Tabak, Pulver, Kleidungsstoffen u.s.w. reichlich versehen, verkaufte, vertauschte und trödelte Isaak Hakhabut überall mit größtem Eifer und gewann dabei ein gut Stück Geld.

Die Hansa ankerte zufällig in Ceuta, an der vorspringendsten Spitze Marokkos, als die Katastrophe eintrat. Der Obersteuermann und seine drei Leute befanden sich in der Nacht vom 31. December zum 1. Januar nicht an Bord und verschwanden damals spurlos, gleich so vielen Anderen. Der Leser erinnert sich aber, daß die äußersten Felsen von Ceuta, gegenüber Gibraltar, damals verschont blieben, wenn man sich unter den obwaltenden Verhältnissen dieses Ausdruckes bedienen darf; mit und auf ihnen blieben auch zehn Spanier übrig, welche nicht im entferntesten ahnten, was vorgegangen war.

Diese Spanier, andalusische Majos (d.s. Gebirgsbewohner Andalusiens mit bunter, phantastischer Tracht und verrufene Raufer), unwissend von Natur, träge aus Liebhaberei, aber immer bei der Hand, Naraja oder Guitarre zu spielen, von Profession Ackerbauer, hatten einen gewissen Negrete zum Anführer, dessen Kenntnisse die der Uebrigen nur deshalb ein wenig übertrafen, weil er früher etwas in der Welt umhergekommen war. Als sie sich auf dem Felsen von Ceuta allein sahen, kamen sie in nicht geringe Verlegenheit. Wohl war die Hansa sammt ihrem Besitzer zur Stelle, und sie hätten gewiß keine Gewissensbisse darüber empfunden, sich zur Heimfahrt dieses Schiffes zu bemächtigen, nur fand sich leider kein Seemann unter ihnen. Nun konnten sie selbstverständlich doch nicht ewig auf diesem Felseneilande bleiben, und so[172] zwangen sie nach Aufzehrung ihrer Vorräthe Hakhabut, sie an Bord seines Schiffes aufzunehmen.

Mittlerweile erhielt Negrete den Besuch der beiden englischen Officiere von Gibraltar, dessen im Vorhergehenden Erwähnung geschah. Was damals zwischen den Engländern und den Spaniern gesprochen wurde, wußte der Jude nicht. Jedenfalls veranlaßte Negrete in Folge dieses Besuches Hakhabut, unter Segel zu gehen, um ihn und seine Genossen nach dem nächsten Punkte der marokkanischen Küste überzuführen. Der Jude sah sich gezwungen, diesem Ansinnen zu entsprechen; bei seiner Gewohnheit aber, aus Allem Nutzen zu ziehen, stipulirte er mit den Spaniern einen Preis für die Ueberfahrt, den diese eben so schnell bewilligten, als sie fest entschlossen waren, keinen Real zu bezahlen.

Am 3. Februar segelte die Hansa ab. Bei dem herrschenden Westwinde war die Tartane leicht zu führen. Man brauchte eben nur den Wind in den Rücken derselben blasen zu lassen. So hatten die improvisirten Seeleute also nur die Segel aufzuziehen, um ohne ihr Wissen nach der einzigen Stelle der Erdkugel zu gelangen, welche ihnen noch eine Zuflucht zu bieten vermochte.

In Folge dessen bekam denn Ben-Zouf eines schönen Morgens ein Fahrzeug zu Gesicht, welches der Dobryna keineswegs ähnelte, und das der Wind ganz sanft in den Hafen des Cheliff, an der ehemaligen rechten Seite des Flusses, hineintrieb.

Ben-Zouf unterzog sich des Berichtes über die Geschichte des Juden unter der Hinweisung, daß die noch sehr wohl assortirte Ladung der Hansa den Bewohnern der Insel von größtem Nutzen sein werde. Jedenfalls würde man Mühe haben, sich mit Isaak Hakhabut auseinanderzusetzen; unter den gegebenen Verhältnissen erschien es jedoch gewiß nicht ungerechtfertigt, dessen Waarenvorräthe zum allgemeinen Besten zu requiriren, da er sie doch nicht verkaufen konnte.

»Bezüglich der Streitfrage zwischen dem Eigenthümer der Hansa und seiner Passagiere, fügte Ben-Zouf noch hinzu, habe ich die Verabredung getroffen, daß dieselben nach dem Ermessen Sr. Excellenz des Herrn General-Gouverneurs ›bei Gelegenheit der nächsten Inspectionsreise‹ ihre Erledigung finden sollte.«

Hector Servadac konnte bei Ben-Zouf's Bericht ein Lächeln nicht unterdrücken. Er versprach jedoch dem Juden Hakhabut, daß ihm Gerechtigkeit[173] werden solle, was endlich seine endlosen Beschwörungen »des Gottes Israel's, Abraham's und Jakob's« verstummen ließ.

»Wie könnten diese Leute aber überhaupt bezahlen? fragte Graf Timascheff, als der Jude zurückgetreten war.

– O, sie besitzen Geld, antwortete Ben-Zouf.

– Spanier ... Geld! erwiderte Graf Timascheff. Das ist kaum zu glauben.

– Und doch ist es an dem behauptete Ben-Zouf, ich sah mit eigenen Augen englische Münzen in ihren Händen.

– Aha, bemerkte Kapitän Servadac, der sich des Besuches der beiden englischen Officiere in Ceuta erinnerte. Doch immerhin. Das wird später geordnet werden. – Wissen Sie, Graf Timascheff, daß die Gallia jetzt sehr verschiedene Repräsentanten der Bewohnerschaft des alten Europa trägt?

– Gewiß, Kapitän, antwortete Graf Timascheff, auf diesem Bruchstücke der früheren Erdkugel wandeln jetzt die Nationalitäten Frankreichs, Rußlands, Italiens, Spaniens, Englands und Deutschlands. Letzteres freilich ist durch jenen Juden nicht gerade am glücklichsten vertreten.

– Darüber enthalte ich mich am liebsten jeden Urtheils!« bemerkte Kapitän Servadac.

Fußnoten

1 Deine Gunst und eine Cigarre, ein Glas Xeres, mein Roß und meine Büchse, was giebt's noch Besseres in der Welt. (Nach der Uebersetzung von Ch. Davillier.)


2 Bei den Alcarrazas, Chiclana, dem blühenden Weizen, Trebujena, den schönsten Mädchen, San Lucar de Barrameda.


Quelle:
Jules Verne: Reise durch die Sonnenwelt. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXV–XXVI, Wien, Pest, Leipzig 1878, S. 174.
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