[75] Kurz vor zwölf Uhr rief die Glocke des Dampfbootes zu dem Landungsplatze an der Wolga eine große Menschenmenge zusammen, weil sich daselbst nicht nur Die einfanden, welche wirklich abreisten, sondern auch Die, welche hatten abreisen wollen. Die Kessel des »Kaukasus« besaßen schon hinreichende Dampfspannung. Ueber dem Schlote kräuselten sich nur leichte Rauchwirbel, während aus dem Dampfrohre und um die Sicherheitsventile der weiße Dampf brodelte.
Selbstverständlich überwachte die Polizei die Abfahrt des Steamers und schritt unerbittlich gegen die Reisenden ein, welche sich nicht als ausreichend legitimirt zum Verlassen der Stadt erwiesen.
Zahlreiche Kosaken ritten den Kai auf und ab, bereit, die Polizeiagenten zu unterstützen, nirgends machte sich indessen ihre Intervention nöthig und Alles verlief ohne offenen Widerstand.
Rechtzeitig ertönte das letzte Glockensignal; die Taue wurden gelöst, die mächtigen Räder des Dampfers peitschten das Wasser mit ihren beweglichen Schaufeln, und schnell glitt der »Kaukasus« zwischen den beiden Stadttheilen, welche Nishny-Nowgorod bilden, dahin.
Michael Strogoff und die junge Liefländerin hatten sich mit eingeschifft und waren ohne Schwierigkeiten an Bord gekommen. Man erinnert sich,[75] daß der auf den Namen Nicolaus Korpanoff ausgestellte Podaroshna den Kaufmann berechtigte, sich auf der Reise durch Sibirien begleiten zu lassen. Unter dem Schutze der kaiserlichen Polizei reisten hier also Bruder und Schwester.
Still saßen Beide auf dem Hinterdeck und sahen die durch den Erlaß des Gouverneurs so aufgeregte Stadt ihren Augen entfliehen.
Michael Strogoff hatte kein Wort zu dem jungen Mädchen gesprochen, keine Frage an sie gestellt. Er wartete es ab, daß sie reden würde, wenn es ihr passend erschien. Ihr war es ja von Wichtigkeit, diese Stadt zu verlassen, in der sie ohne das wunderbare Dazwischentreten ihres unerwarteten Beschützers gefangen zurückgeblieben wäre. Sie sprach zwar nicht, aber ihre Augen dankten ihm.
Die Wolga, die Rha der Alten, wird für den bedeutendsten Strom ganz Europas gehalten, und es erstreckt sich ihr Lauf auf nicht weniger als 4000 Werst (= 4300 Kilom.). Das etwas ungesunde Wasser derselben wird bei Nishny-Nowgorod durch die Einmündung der Oka, eines schnell fließenden Nebenstromes aus den mittelrussischen Provinzen, wesentlich verbessert.
Man hat die Gesammtheit der Kanäle und Wasserläufe Rußlands mit einem riesigen Baume verglichen, dessen Zweige sich in allen Theilen des Czarenreiches verästeln. Die Wolga ist es, welche den Stamm dieses Baumes darstellt, den Stamm, der seinerseits wiederum mit siebenzig Mündungen in dem Küstengebiete des Kaspischen Meeres wurzelt. Sie ist von Rjes, einen Stadt im Gouvernement Tver, aus, d.h. im größten Theile ihres Laufes schiffbar.
Die Schiffe der Speditions-Gesellschaft zwischen Perm und Nishny-Nowgorod legen die 350 Werft (373 Kilom.) lange Strecke zwischen letzterer Stadt und Kasan sehr schnell zurück. Freilich laufen die Dampfer dabei mit der Strömung, die ihrer eigenen Schnelligkeit noch mit zwei Meilen per Stunde zu Hilfe kommt. Erreichen sie aber die Einmündung der Kama, so vertauschen sie den Strom mit diesem Flusse, den sie dann bis Perm stromaufwärts fahren müssen. Alles in Allem gerechnet und trotz seiner mächtigen Maschine konnte der »Kaukasus« nicht mehr als sechzehn Werst in der Stunde zurücklegen. Bei nur einstündigem Aufenthalt in Kasan nahm die Fahrt von Nishny-Nowgorod bis Perm doch sechzig bis zweiundsechzig Stunden in Anspruch.[76]
Der Steamer besaß übrigens sehr bequeme Einrichtungen für die Passagiere, welche, je nach Gefallen oder nach ihren Mitteln in drei verschiedenen Klassen befördert wurden. – Michael Strogoff hatte zwei Cabinen erster Klasse belegt, um seiner Begleiterin zu gestatten, sich in die ihrige zurück zu ziehen und allein zu sein, soviel es ihr beliebte.
Heute war der »Kaukasus« von Passagieren aller Art überfüllt. Eine große Anzahl asiatischer Handelsleute mochte es für gerathen erachtet haben, Nishny-Nowgorod mit erster Gelegenheit zu verlassen. In der für die erste Klasse reservirten Abtheilung des Dampfers begegnete man Armeniern in langen Gewändern und einer Mitra ähnlichen Kopfbedeckungen – Juden, mit ihren hohen, konischen Mützen, – reichen Chinesen in Landestracht, mit sehr weitem, blauem, violettem oder auch schwarzem, an der Vorder- und Rückseite offenem Oberkleide und bedeckt von einem zweiten, weitärmeligen Ueberwurf, der in seinem Schnitte an den Talar der Popen erinnerte, – Türken mit dem nationalen Turban, – Indier mit viereckiger Mütze, einem einfachen Stricke als Gürtel, von denen einige Stämme, vorzüglich aber die Shikapuris, den ganzen Handel Centralasiens in der Hand haben, – endlich Tartaren mit buntgestickten Stiefeln und über der Brust reichverzierten Kleidern. Diese Kaufleute alle mußten im Schiffsraume oder auf dem Verdeck ihr umfängliches Gepäck unterbringen, dessen Transport ihnen gewiß theuer zu stehen kam, da sie vorschriftsmäßig nur zwanzig Pfund Freigepäck mitführen durften.
Im Vordertheile des »Kaukasus« befanden sich noch weit zahlreichere Passagiere, nicht allein Ausländer, sondern auch Russen, denen die Verordnung nach den Heimatsstädten der Provinz zurückzukehren nicht verbot.
Dort saßen oder standen Mujiks umher mit Kappen oder Mützen auf dem Kopfe, bekleidet mit einer Art Hemd aus kleincarrirtem Stoffe unter dem Pelze; Bauern aus den Wolgadistricten, die blauen Beinkleider in den Stiefeln, das Hemd von röthlichem Baumwollengewebe mit einem Strick gegürtet, und mit flacher Kappe oder Filzmütze. Einige Frauen in geblümten Baumwollkleidern trugen Schürzen mit möglichst lebhaften Farben und grellroth gemusterte Tücher um den Kopf. Hieraus setzten sich meist die Passagiere der dritten Klasse zusammen, welche die Aussicht auf eine langdauernde Rückfahrt nicht sonderlich zu belästigen schien. Jedenfalls war dieser Theil des Decks dicht mit Menschen besetzt. Die Insassen des Hinterdecks vermieden es[77] auch, sich unter Jene zu mischen, deren Bereich übrigens durch Bezeichnung auf den Klappen der Luken begrenzt war.
Mit der vollen Kraft seiner Schaufeln eilte der »Kaukasus« indessen zwischen den Ufern der Wolga dahin. Er kreuzte sich mit vielen durch Remorqueure stromaufwärts geschleppten Booten, welche noch allerlei Waaren nach Nishny-Nowgorod beförderten. Dann schwammen Holzflöße daher, so lang wie die unmeßbaren Sargassobündel im Atlantischen Ocean, und bis zum Versinken beladene Flachschiffe die bis zum Dahlbord im Wasser gingen. Uebrigens sehr unnütze Waarentransporte, insofern ja die Messe bald nach ihrem Anfang plötzlich geschlossen worden war.
Die von dem Wellenschlage des Dampfers überspülten Ufer der Wolga zeigten sich mit großen Entenschwärmen besetzt, welche mit betäubendem Geschnatter aufflogen. Darüber hinaus weideten auf den dürren, von Birken, Weiden und Espen umrahmten Ebenen einzelne rothbraune Kühe. Heerden von Schafen mit bräunlichem Fell und ganze Haufen von weißen und schwarzen Schweinen und Ferkeln. Einige mit magerem Buchweizen oder dürftigem Korn bestandene Felder dehnten sich bis über kleine Landerhebungen aus, welche indeß nirgends eine bemerkenswerthe Aussicht bildeten. In diesen einförmigen Landstrichen hätte der Stift des Zeichners, wenn er pittoreske Bilder suchte, gewiß nichts zu thun gefunden.
Zwei Stunden nach der Abfahrt des Kaukasus wandte sich die junge Liefländerin an Michael Strogoff und fragte:
»Du gehst nach Irkutsk, Bruder?
– Ja, Schwester, erwiderte der junge Mann. Wir haben Beide den nämlichen Weg. Wo ich hindurchkomme, wirst auch Du hindurchkommen.
– Morgen, Bruder, sollst Du erfahren, warum ich die Küste der Ostsee verließ, um nach jenseits der Berge des Ural zu ziehen.
– Ich frage nach Nichts, Schwester.
– Du sollst Alles wissen, antwortete das junge Mädchen, auf deren Lippen ein schmerzliches Lächeln spielte. Eine Schwester darf ihrem Bruder nichts verheimlichen. Heute könnte ich aber nicht! ... Die Anstrengung, die Verzweiflung haben meine Kräfte verzehrt.
– Willst Du in Deiner Cabine ausruhen? fragte Michael Strogoff.
– Ja ... ja ... und morgen ...
– So komm ...!«[78]
Er brach den Satz ab, so als hätte er ihn mit dem ihm noch unbekannten Namen seiner Begleiterin schließen wollen.
»Nadia, sagte sie und reichte ihm die Hand.
– Komm, Nadia, und verfüge über Deinen Bruder Nicolaus Korpanoff ohne alle Umstände.«
Er geleitete das junge Mädchen nach ihrer Cabine nahe dem Salon des Hintertheils.
Michael Strogoff kehrte nach dem Deck zurück und mischte sich, begierig zu hören, doch ohne sich an den Gesprächen zu betheiligen, unter die Gruppen der Passagiere, aus deren Worten er Das oder Jenes zu vernehmen hoffte, was seine Reiseprojecte vielleicht zu beeinflussen im Stande wäre. Sollte er zufällig selbst gefragt und zu einer Antwort genöthigt werden, so wollte er sich für den Kaufmann Nicolaus Korpanoff ausgeben, den der »Kaukasus« nur nach der Grenze zurücktrug, denn Niemand sollte vermuthen, daß ihn eine specielle Mission berechtigte, nach Sibirien zu reisen.
Die Ausländer auf dem Dampfer konnten offenbar nur von den Tagesereignissen, jener Verordnung und ihren Folgen, sprechen. Die armen Leute, welche kaum die Strapazen einer Reise durch das innere Asien hinter sich hatten, sahen sich gezwungen, wieder umzukehren, und wenn sie ihrem Zorn nicht in lautem Ausbruche Luft machten, so lag die Ursache nur darin, daß sie das nicht wagten. Eine respectvolle Furcht hielt sie zurück. Möglicher Weise befanden sich zur Ueberwachung der Reisenden auch auf dem »Kaukasus« geheime Polizisten; da galt es, die Zunge im Zaum zu halten, denn diese Austreibung war der Einsperrung in einer Festung doch immer noch vorzuziehen. Deshalb schwiegen auch die meisten Gruppen oder flüsterten sich die Worte gegenseitig nur so vorsichtig zu, daß daraus im Zusammenhange nichts zu entnehmen war.
Konnte Michael Strogoff aber von dieser Seite nichts vernehmen, oder schwiegen die Leute wohl auch ganz und gar – denn man kannte ihn ja nicht, – so traf sein Ohr dafür der Laut einer Stimme, welche ziemlich unbesorgt zu sein schien, ob sie gehört wurde oder nicht.
Der Mann mit der hellen Stimme sprach russisch, aber mit fremdem Accente, und sein mehr zugeknöpfter Nachbar antwortete ihm in derselben Mundart, welche offenbar auch seine Muttersprache nicht war.[79]
»Wie! rief der Erste, wie, auf diesem Schiffe, Herr College, Sie den ich bei dem Feste des Kaisers in Moskau und dann erst in Nishny-Nowgorod wieder sah?
– Gewiß, ich selbst! entgegnete trocken der Andere.
– Nun, frei heraus gesagt, ich erwartete nicht, daß Sie mir so unmittelbar, so auf den Fersen folgen würden.
– Ich folge Ihnen nicht, mein Herr, ich gehe Ihnen voraus.
– Vorausgehen! Vorausgehen! Wir wollen wenigstens sagen, wir marschiren gleichen Schrittes in der Front, wie zwei Soldaten bei der Parade, und vorläufig könnten wir übereinkommen, Keiner dem Anderen zuvor zu kommen.
– Ich werde es doch thun!
– Das wird sich erst auf dem Kriegsschauplatze zeigen; doch bis dahin können wir, zum Teufel, doch Reisegenossen sein. Später werden wir noch Zeit genug finden, gelegentlich Rivalen zu werden.
– Feinde!
– Meinetwegen auch Feinde! Ihre Worte, Herr College, besitzen eine Klarheit des Ausdrucks, welche mich höchst angenehm berührt. Bei Ihnen weiß Einer doch, woran er ist.
– Nun, was ist daran so schlimm?
– O nichts, gar nichts! Erlauben Sie, daß auch ich mir die Freiheit nehme, unseren gegenseitigen Standpunkt festzustellen.
– Nach Belieben.
– Sie gehen nach Perm ... wie ich?
– Wie Sie.
– Und begeben sich von Perm aus wahrscheinlich nach Jekaterinburg, auf dem besten und sichersten Wege zur Ueberschreitung des Uralkammes.
– Wahrscheinlich.
– Nach Ueberschreitung der Grenze werden wir in Sibirien, d.h. inmitten des überfallenen Gebietes sein.
– So ist es.
– Nun dann, aber auch erst dann wird es Zeit sein, zu sagen: ›Jeder für sich und Gott mit ...‹
– Gott mit mir!
[80]
– Gott mit Ihnen! Ganz allein! Sehr schön! Da wir indeß noch acht neutrale Tage vor uns haben und es unterwegs voraussichtlich keine Neuigkeiten regnen dürfte, so lassen Sie uns Freunde sein, bis wir zu Rivalen werden.
– Zu Feinden!
– Ja wohl, das ist richtiger: Zu Feinden! Bis dahin können wir aber in Uebereinstimmung handeln und brauchen uns gegenseitig nicht zu verzehren![81]
Ich verspreche Ihnen überdies, Alles für mich zu behalten, was ich etwa sehe ...
– Und ich Alles, was ich etwa höre.
– Abgemacht?
– Abgemacht!
– Ihre Hand darauf?
– Hier ist sie!«
Und die Hand des ersten Sprechers, d.h. fünf weit offene Finger, schüttelte kräftig die beiden Finger, welche der Zweite phlegmatisch hinhielt.
»Was ich noch sagen wollte, begann der Erste, es gelang mir noch, den Inhalt der Verordnung diesen Morgen um 10 Uhr 17 Minuten an meine Cousine zu telegraphiren.
– Und ich habe dem Daily-Telegraph dieselbe Nachricht um 10 Uhr 13 gesendet.
– Bravo, Herr Blount!
– Zu gütig, Herr Jolivet!
– Bis ich mich revanchire!
– Dürfte Ihnen schwer fallen!
– Man versucht eben Alles!«
Bei diesen Worten grüßte der französische Correspondent vertraulich den englischen Reporter, der ihm mit vollem britannischen Stolze dankte.
Diese beiden Neuigkeitsjäger, welche ja weder Russen, noch Fremde von asiatischer Herkunft waren, traf die Verordnung des Generalgouverneurs nicht. Sie reisten also ab, und wenn sie Nishny-Nowgorod zu derselben Stunde verließen, so geschah das, weil der nämliche Instinct sie vorwärts trieb. Ganz natürlich bedienten sie sich also derselben Fahrgelegenheit und folgten bis zu den sibirischen Steppen demselben Wege. Ob als einfache Reisegefährten, als Freunde oder Feinde, noch hatten sie acht Tage »bis zum Aufgang der Jagd« vor sich. Dann hieß es: Dran und drauf! Jetzt hatte Jolivet die ersten Zwischenvorschläge gemacht und der Brite sie, wenn auch so kühl als möglich, angenommen.
Jedenfalls saßen Beide, der Franzose immer offenherzig bis zur Schwatzhaftigkeit, der Engländer immer verschlossen, an derselben Tafel und probirten, zu sechs Rubel die Flasche, einen sogenannten echten Cliquot, offenbar den Abkömmling des frischen Birkensaftes der Umgegend.[82]
Als Michael Strogoff Alcide Jolivet und Harry Blount so reden hörte, sprach er für sich:
»Das sind ein paar neugierige und indiscrete Leute, denen ich auf der Reise jedenfalls noch ferner begegne. Mir scheint es geboten, sich diese drei Schritt vom Leibe zu halten.«
Die junge Liefländerin erschien nicht bei Tische. Sie schlummerte in ihrer Cabine und Michael Strogoff wollte sie nicht wecken lassen. Der Abend kam heran, ohne daß sie wieder auf Deck erschienen wäre.
Mit der langen Dämmerung gewann die Atmosphäre eine wohlthuende Frische, an welcher sich nach der Hitze des Tages Alle gern erquickten. Selbst in vorgeschrittener Nachtstunde dachten die Meisten gar nicht daran, die Salons oder Cabinen aufzusuchen. Auf die Bänke gestreckt, athmeten sie behaglich in dem Luftzuge, den die schnelle Bewegung des Schiffes erregte. Der Himmel verfinsterte sich in dieser Jahreszeit und in diesen Breiten zwischen Abend und Morgen nicht allzu sehr und erleichterte es dem Steuermann, zwischen den vielen Schiffen hindurch zu gleiten, welche die Wolga stromauf und stromab befuhren.
Inzwischen ward es, da gerade Neumond war, in der Zeit von elf und ein Uhr doch nahezu Nacht. Die meisten Deckpassagiere schliefen schon und das Schweigen wurde nur durch das regelmäßige Klatschen der Schaufelräder unterbrochen.
Eine eigenthümliche Unruhe hielt Michael Strogoff wach. Er ging, doch meist nur auf dem Hinterdeck, auf und ab. Einmal jedoch streifte er auch über den Maschinenraum hinaus. Er befand sich damit in der für die Passagiere zweiter und dritter Klasse bestimmten Abtheilung.
Dort schlief Alles nicht nur auf den Bänken, sondern auch auf Ballen und Gepäckstücken, selbst auf dem Brettboden des Verdecks. Nur die Matrosen der Wache standen auf dem Vordercastell. Zwei Laternen, eine grüne und eine rothe, vom Backbord und vom Steuerbord, warfen einige schiefe Strahlen auf die Wand des Dampfers.
Es erforderte eine gewisse Aufmerksamkeit, die ganz beliebig umher liegenden Schläfer nicht zu treten. Es waren das meist Mujiks, denen bei ihrer Gewöhnung an ein hartes Lager auch das Verdeck des Schiffes schon genügte, die aber doch Jeden schlecht empfangen hätten, der sie vorzeitig durch einen Fußtritt erweckte.[83]
Michael Strogoff hütete sich also wohl, an Jemanden zu stoßen. Bei seiner Wanderung bis an das Ende des Schiffes hatte er keine andere Absicht, als sich durch eine längere Promenade des Schlafes zu erwehren.
Auf dem Vorderdeck angelangt, wollte er schon die Stufen nach dem Vordercastell hinaufsteigen, als er neben sich sprechen hörte. Er hielt an. Die Stimmen schienen aus einer Gruppe Passagiere zu kommen, welche mit allerhand Shawls und Decken verhüllt dasaß, die er aber bei der Dunkelheit nicht weiter zu erkennen vermochte. Nur manchmal gelang es ihm ein wenig, wenn dem Rauchfange des Dampfers zwischen den schwarzen Wolken einige röthliche Flammen entstiegen; dann schien es, als wirbelten Funken mitten durch die Gruppe oder als erglänzten Tausende von Metallflitterchen in dem ungewissen Lichte.
Michael Strogoff wollte schon weiter gehen, als er einige Worte deutlicher vernahm und noch dazu in dem auffallenden Idiome, das schon auf dem Meßplatze in vergangener Nacht an sein Ohr gedrungen war.
Unwillkürlich drängte es ihn, zu lauschen. In dem Schatten des Vordercastells konnte er nicht gesehen werden, so wenig, wie er die mit einander redenden Fahrgäste eigentlich sehen konnte. Er mußte sich demnach begnügen, zu horchen.
Die anfänglich gewechselten Worte besaßen, – wenigstens für ihn, – keine besondere Bedeutung, doch genügten sie ihm, unzweifelhaft die Stimmen der Frau und des Mannes wieder zu erkennen, die er schon in Nishny-Nowgorod gehört hatte. Er verdoppelte seine Aufmerksamkeit. Es schien nicht unmöglich, daß jene Tsigauen, von deren Gespräch er einige Brocken aufgefangen, jetzt nach der Austreibung sammt ihren Landsleuten, an Bord des »Kaukasus« Passage genommen hätten.
Wie gut es war, daß er horchte, ergab sich aus folgenden in tartarischer Mundart gewechselten Worten:
»Man sagt, es sei ein Courier auf dem Wege von Moskau nach Irkutsk.
– Das sagt man wohl, Sangarre, aber dieser Bote wird entweder zu spät oder auch gar nicht ankommen!«
Michael Strogoff fühlte, wie diese ihn persönlich so nahe angehende Antwort ihn durchzuckte. Er versuchte sich zu vergewissern, ob der Mann und[84] die Frau, welche eben sprachen, dieselben seien, die er unter ihnen vermuthete, aber die tiefe Dunkelheit vereitelte seine Bemühungen.
Bald nachher war Michael Strogoff unbemerkt wieder nach dem Hinterdeck gelangt und setzte sich, den Kopf in die Hände gestützt, nieder. Man hätte meinen sollen, er schliefe.
Er schlief aber weder, noch dachte er überhaupt daran. Er überlegte sich vielmehr, nicht ohne eine gewisse Besorgniß, was er gehört hatte.
»Wer in aller Welt weiß von meiner Abreise und wer hat ein Interesse daran, sie zu kennen?«
Buchempfehlung
Die keusche Olympia wendet sich ab von dem allzu ungestümen jungen Spanier Cardenio, der wiederum tröstet sich mit der leichter zu habenden Celinde, nachdem er ihren Liebhaber aus dem Wege räumt. Doch erträgt er nicht, dass Olympia auf Lysanders Werben eingeht und beschließt, sich an ihm zu rächen. Verhängnisvoll und leidenschaftlich kommt alles ganz anders. Ungewöhnlich für die Zeit läßt Gryphius Figuren niederen Standes auftreten und bedient sich einer eher volkstümlichen Sprache. »Cardenio und Celinde« sind in diesem Sinne Vorläufer des »bürgerlichen Trauerspiels«.
68 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro