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[60] Eines Sonntags, es war am 26. Mai, beschlossen die jungen Leute jedoch, sich eine Zerstreuung zu gönnen. Das Wetter ließ sich herrlich an; eine von den Cordilleren her wehende frische Brise mäßigte die Hitze. Alles lud zu einem Ausfluge über Land ein. Benito und Manoel forderten das junge Mädchen auf, sie bei einem Spaziergange durch die großen Wälder am rechten Ufer des Amazonenstromes, gegenüber der Fazenda, zu begleiten.
Man wollte damit von der wirklich reizenden Umgebung von Iquitos Abschied nehmen. Die beiden jungen Männer erschienen als Jäger, aber nicht in der Absicht, ihre Begleiterinnen zu verlassen, um dem Wilde nachzuspüren, dafür sorgte gewiß schon Manoel, und die jungen Mädchen, denn Lina konnte sich von ihrer Herrin doch niemals trennen, als einfache Spaziergängerinnen, welche vor einem Ausfluge von zwei bis drei Stunden nicht zurückschreckten.
Weder Joam Garral noch Yaquita konnten sich der Gesellschaft anschließen. Einerseits war die Jangada noch nicht gänzlich vollendet und es erschien nicht rathsam, das im mindesten zu verzögern; andererseits hatten Yaquita und Cybele, wenn sie auch das ganze weibliche Personal der Fazenda unterstützte, nicht eine Stunde zu verlieren.
Minha nahm das Angebot mit größtem Vergnügen an. Nach dem Frühstück des genannten Tages, gegen elf Uhr, begaben sich die beiden jungen Männer und die zwei jungen Mädchen nach dem Ufer am Zusammenflusse der beiden Wasserläufe. Einer der Schwarzen begleitete sie. In einer »Uba«, wie sie auf der Farm tagtäglich gebraucht wurden, kam die Gesellschaft an den Inseln Iquitos und Parianta vorüber und ging am rechten Ufer des Amazonenstromes wieder an's Land.
Das Fahrzeug lief unter einem Bogen prächtiger baumartiger Farren ein, über dem sich in etwa dreißig Fuß Höhe noch ein Kranz sammtgrüner Zweige mit seinen, mit Pflanzenspitzen besetzten Blättern erhob.
»Von jetzt an, lieber Manoel, begann das junge Mädchen, ist es meine Pflicht, hier im Walde meine Gäste zu begrüßen, denn Du bist doch ein Fremdling[60] in dem Gebiete des oberen Amazonenstromes. Wir dagegen sind hier zu Haus, und Du wirst mich nicht hindern, meine Pflichten als Herrin des Hauses zu erfüllen!
– Liebe Minha, antwortete der junge Mann, Herrin des Hauses wirst Du in unserer späteren Heimat Belem nicht minder sein als in Iquitos und da unten so wie hier...
– Ei was, Manoel, und Du, Schwesterchen, fiel Benito ein, Ihr seid doch wahrlich nicht hierher gekommen, um Euch Zärtlichkeiten zu sagen!... Vergeßt einmal auf ein paar Stunden, daß Ihr verlobt seid!
– Nicht eine Stunde! Nicht einen Augenblick! versetzte Manoel.
– Auch nicht, wenn Minha Dir das befiehlt?
– Minha wird das nicht befehlen!
– Nun, wer weiß? sagte Lina lachend.
– Ja, Lina hat Recht! erklärte Minha, während sie Manoels Hand leise drückte. Versuchen wir, es zu vergessen!... Löschen wir jede Erinnerung an unser Verhältniß aus! Mein Bruder wünscht es!... Alles ist gebrochen Alles. So lange dieser Spaziergang dauert, sind wir nicht mehr verlobt. Ich bin ebensowenig die Schwester Benitos! Du bist nicht ferner dessen Freund...
– Das wäre! rief Benito.
– Herrlich, herrlich! Jetzt sind Fremde hier! jubelte die junge Mulattin in die Hände klatschend.
– Fremde, die sich zum ersten Male sehen, fügte Minha hinzu, sich zufällig begegnen und begrüßen...
– Mein Fräulein... sagte Manoel, sich vor Minha verneigend.
– Mit wem habe ich die Ehre, mein Herr? fragte das junge Mädchen im größten Ernste.
– Manoel Valdez, der sich glücklich schätzen würde, wenn Ihr Herr Bruder ihn vorstellen wollte...
– Ach, zum Kukuk mit diesen Formalitäten! fiel Benito ein; das war eine recht dumme Idee von mir. Spielt nur lieber Brautleute so viel Ihr wollt, jetzt und immer!
– Immer!« sagte Minha, der dieses Wort so unwillkürlich entfuhr, daß Lina nur noch herzlicher lachte.
Ein recht inniger Blick Manoels belohnte das junge Mädchen für diese Unvorsichtigkeit ihrer Zunge.[61]
»Wenn wir weiter gingen, würden wir weniger plaudern! Vorwärts!« meinte Benito, um der Verlegenheit seiner Schwester ein Ende zu machen.
Minha schien aber solche Eile gar nicht zu haben.
»Verzeihe, lieber Bruder, erwiderte sie, Du hast gesehen, daß ich Dir gehorchen wollte. Du wolltest Manoel und mir die Verpflichtung auferlegen, uns zu vergessen, um Deinen Spaziergang nicht zu beeinträchtigen. Nun, ich habe auch eine Gegenforderung an Dich, um dem meinigen nicht zu schaden. Du wirst mir, ob gern oder nicht, das Versprechen geben, Du, Benito, in eigener Person, jetzt ebenfalls zu vergessen...
– Zu vergessen?
– Zu vergessen, daß Du leidenschaftlicher Jäger bist, mein Herr Bruder!
– Wie, Du wolltest mir verwehren...
– Ich verbiete Dir, nach unseren hübschen Vögeln zu schießen, nach den Pagageien, Sittichen, den Caciques, Kurukus und anderen, die so lustig durch die Wälder flattern. Das Verbot gilt ebenso für eßbares Wild, mit dem wir heute doch nichts anfangen könnten. Sollte uns ein Onça, ein Jaguar oder anderes Raubthier zu nahe kommen, hast Du freie Hand!
– Aber ich bitte Dich..., entgegnete Benito.
– Wo nicht, nehme ich Manoels Arm; dann wandeln wir, wie es uns gefällt, weiter, verlieren uns, und Dir wird nichts Anderes übrig bleiben, als uns nachzulaufen!
– Nun, Dir wär's wohl recht, wenn ich meiner Schwester nicht nachgäbe? sagte Benito, seinen Freund Manoel ansehend.
– Warum denn nicht! antwortete der junge Mann.
– Nein, nun erst recht nicht, rief Benito, ich folge dem Gebote, ich gehorche Dir zum Possen! Also vorwärts!«
Von dem Neger begleitet wandelten nun alle Vier unter den herrlichen Bäumen dahin, durch deren dichtes Blätterwerk die Sonne keinen Eingang fand.
Es giebt kaum einen schöneren Anblick, als ihn diese Partie des rechten Ufers am Amazonenstrome bietet. Hier erheben sich bunt durcheinander so viele verschiedene Baumarten, daß man auf einer Quadratmeile wohl hundert Varietäten dieser schönen Pflanzenfamilien finden könnte. Ein Forstmann würde auch leicht erkannt haben, daß hier noch kein Holzfäller mit Beil und Axt gearbeitet hatte, das wäre selbst nach Jahrhunderten bemerkbar gewesen. Jüngere Bäume, selbst solche von hundert Jahren, konnten nicht dasselbe Bild bieten[62] wie die ursprünglichen Stämme, deshalb nämlich, weil ihre Umhüllung mit Lianen und anderen Parasiten einen deutlichen Unterschied gezeigt hätte; ein Eingeborner wenigstens wäre sich auf den ersten Blick darüber klar gewesen.
Scherzend und lachend schlüpfte die lustige Gesellschaft in dem hohen Grase, durch Dickichte und Buschwerk dahin. Mit dem Abatis bahnte der Neger, wo es nöthig wurde, erst den Weg, theilte das zu dicht verworrene Gezweig und scheuchte Tausende von Vögeln dabei auf.
Minha hatte ganz recht daran gethan, für die kleine gefiederte Welt, welche zwischen den hohen Gipfeln flatterte, einzutreten. Hier wimmelte es geradezu von den schönsten Exemplaren der tropischen Fauna. Grüne Papageien, schreiende Sittiche erschienen wie natürliche Früchte der riesigen Bäume. Blaue, rothe glänzende Kolibris aller Art, »Tisauras« mit langen, scheerenförmigen Schwänzen glichen abgerissenen Blüthen, welche der Wind von einem Zweige zum anderen trug. Orangefarbene, an den Flügeln braun geränderte Amseln, goldstreifige Feigendrosseln und rabenschwarze »Sabias« pfiffen und zwitscherten unaufhörlich durcheinander. Der lange Schnabel des Pfefferfressers pickte an den goldigen Trauben der, »Guiriris«. Brasilianische Grünspechte wiegten das kleine purpurgetüpfelte Köpfchen hin und her. Es war eine herrliche Augenweide.
Die ganze Vogelwelt aber schwieg und suchte sich zu verbergen, wenn in den Baumkronen der »Alma de gato« (Katzenseele, ein hellgelber Specht) gleich einer verrosteten Wetterfahne knarrte. Und wenn dieser stolz, mit ausgebreiteten Schwanzfedern umherschwebte, so entfloh er doch, sobald höher oben ein »Gaviao«, ein großer Adler mit schneeweißem Kopfe, der Schrecken der gefiederten Waldbewohner, sichtbar wurde.
Minha machte Manoel aufmerksam auf diese Wunder der Natur, die er in den civilisirteren Provinzen des Ostens in ihrer Ursprünglichkeit nicht wieder finden konnte. Manoel lauschte dem jungen Mädchen mehr mit den Augen als mit dem Ohre. Uebrigens ertönte das Geschrei und der Gesang der unzähligen Vögel oft so laut, daß er sie gar nicht hätte verstehen können. Nur das herzhafte Lachen Linas vermochte zuweilen all' dieses Glucksen, Piepen, Heulen, Pfeifen und Rucksen zu übertönen.
Nach einer Stunde war kaum eine Meile zurückgelegt worden. Mit der weiteren Entfernung vom Ufer veränderte sich auch der Anblick der Bäume. Animalisches Leben herrschte nun weniger in der Nähe des Erdbodens als siebenzig bis achtzig Fuß darüber, wo ganze große Heerden von Affen einander
in den Zweigen jagten und verfolgten. Hier drang an einzelnen Stellen wohl auch einmal ein Sonnenstrahl bis zum Unterholz hinab. In den Tropenwäldern scheint das Licht wirklich kaum eine zum Leben[63] nothwendige Rolle zu spielen. Die Luft allein genügt zur Ausbildung der größten wie der kleinsten Gewächse, der Bäume und der niedrigen Pflanzen, welche die zur Bewegung ihrer Säfte nothwendige Wärme nicht aus der umgebenden Luft,
sondern aus dem Schoße der Erde beziehen, wo sie sich wie in einer ungeheueren Calorifere ansammelt. Und wie oft war man versucht, von den Bromelias, Serpentinen, Orchideen,[64] den Cacteen und allen den Parasiten, welche unter dem großen einen kleinen Wald für sich bilden, prächtige Insecten abzupflücken, als ob es Blumen wären, blauflügelige, schillernde Nestors, goldglänzende, grüngestreifte Leilusfalter, Aggripinas, Nachtfalter von zehn Zoll Länge mit blätterartigen Flügeln; ferner »Maribundas«-Bienen, eine Art lebender, in Gold gefaßter Smaragden; dazu Legionen von leuchtenden Coleopteren, »Valagumen« mit bronzenem Brustschilde und grünen Flügeldecken, aus deren Augen ein gelblicher Lichtschein hervorstrahlt, und welche mit Einbruch der Nacht den ganzen Wald mit ihrem vielfarbigen Geflimmer erleuchten.[65]
»O wie herrlich, wie wunderbar schön! rief entzückt das junge Mädchen.
– Aber, Minha, erwiderte Benito, Du bist ja hier zu Haus, oder hast das doch gesagt, und nun prahlst Du mit Deinen Schätzen!
– Spotte nur, Brüderchen! antwortete Minha. Es wird mir wohl gestattet sein, die Schönheiten der Heimat zu bewundern, nicht wahr, Manoel? Sie kommen ja aus Gottes Hand und sind Eigenthum eines Jeden!
– Laß nur Benito lachen! sagte Manoel, er verstellt sich jetzt und schwärmt gelegentlich ganz ebenso in Bewunderung der Schönheit der Natur. Freilich, wenn er die Flinte unter dem Arme hat, dann Adieu Poesie!
– So sei doch auch jetzt Poet, lieber Bruder! bemerkte das junge Mädchen.
– Ei gewiß, ich bin also Poet! versetzte Benito. O, du entzückende Natur u. s. w.«
Minha hatte durch ihr Verbot des Gebrauchs der Flinte Benito freilich eine harte Entbehrung auferlegt. An Wild fehlte es in dem Walde nicht, und es wäre genug Gelegenheit zu einem schönen Schusse gewesen.
An minder dichten Stellen, wo der Blick weiterhin reichte, erschien zuweilen ein Pärchen vier bis fünf Fuß hoher Strauße, von der Familie der »Naudus«. Sie trabten dahin in Begleitung der von ihnen unzertrennlichen »Seriemas«, einer Art Truthühner, welche eine weit schmackhaftere Speise abgeben als die großen Vögel, deren Escorte sie bilden.
»Das habe ich nun von meinem voreiligen Versprechen! grollte Benito, während er auf einen Wink seiner Schwester das Gewehr, das er schon angeschlagen hatte, wieder unter den Arm nahm.
Die Seriemas sollten überhaupt geschont werden, sagte Manoel, denn sie vernichten viele Schlangen.
– So wie man die Schlangen schonen sollte, versetzte Benito, weil sie viele schädliche Insecten vertilgen, und diese, weil sie die noch schädlicheren Blattläuse verzehren. Von diesem Standpunkt aus gesehen, würde man Alles schonen müssen!«
Die Selbstüberwindung des jungen Jägers sollte aber auf eine noch weit härtere Probe gestellt werden. Flüchtige Hirsche und graziöse Rehe eilten durch den Wald, denen eine gut gezielte Kugel schnell Halt geboten hätte. Da und dort zeigten sich milchkaffeefarbige Truthühner, Peccaris, eine Art wilder, von Feinschmeckern sehr geschätzter Schweine, Agoutis, ähnlich den Kaninchen und[66] Hafen Mittelamerikas, Gürtelthiere mit mosaikähnlichem Schuppenpanzer, zur Ordnung der Zahnlosen gehörig.
Benito bewies schon mehr als die Tugend des Gehorsams, eher konnte man sagen, einen wirklichen Heroismus, wenn ihm unter Anderem gar ein Tapir, ein »Antas«, wie diese Thiere in Brasilien genannt werden, vor Augen kam, einer jener, an den Ufern des Amazonenstromes und seiner Nebenflüsse fast kaum noch vorkommenden verkleinerten Elephanten, jener Dickhäuter, welchen die Jäger ihrer Seltenheit wegen so eifrig nachstellen und welchen ihr Fleisch, das dasjenige des Ochsen an Güte weit übertrifft und von dem die Nackentheile einen, jeder königlichen Tafel würdigen Braten liefern, so hohen Werth verleiht.
Wahrlich, die Flinte brannte ihm in der Hand; treu seinem Versprechen aber ließ der junge Mann die Waffe in Ruhe.
Inzwischen entschuldigte er sich doch bei seiner Schwester, daß ihm ein Schuß wider seinen Willen abbrennen könnte, wenn ihm ein. »Tamandoa assa« gar zu nahe käme, einer jener merkwürdigen großen Ameisenbären, dessen Erlegung in den cynegetischen Annalen stets als Meisterschuß gepriesen wird.
Glücklicherweise ließ sich aber kein Ameisenbär sehen, so wenig wie Panther, Leoparden, Jaguars, Guepards, Cuguars u. s. w., welche man in Südamerika gewöhnlich unter dem Namen Onças zusammenfaßt und die man sich nicht so nahe auf den Leib kommen lassen darf.
»So spazieren zu gehen, begann da Benito, einen Augenblick stehen bleibend, das ist zwar ganz schön und gut, aber ohne Zweck und Ziel dahinzuschlendern...
– Ohne Zweck und Ziel, unterbrach ihn seine Schwester, unser Zweck ist zu sehen, zu bewundern, zum letzten Male diese Urwälder Centralamerikas, die wir in Para nicht wiederfinden werden, zu besuchen und ihnen Lebewohl zu sagen!
– Da kommt mir ein Gedanke! ließ sich plötzlich Lina vernehmen.
– Ein Gedanke Linas, meinte Benito kopfschüttelnd, kann doch nur auf einen tollen Streich hinauslaufen!
– Es ist nicht recht von Dir, lieber Bruder, warf das junge Mädchen ein, in dieser Weise über Lina abzusprechen, vorzüglich wenn sie einen Zweck unseres Spazierganges angeben will, dessen Mangel Du eben bedauertest.
– Und um so mehr, fügte die junge Mulattin hinzu, als ich überzeugt bin, daß mein Vorschlag Ihnen gefallen wird.[67]
– Und worin besteht dieser? fragte Minha.
– Sie sehen doch Alle dort die Liane?«
Lina wies bei diesen Worten nach einer Liane von der Art der »Cipos«, die eine gewaltige Mimose umschlang, deren federleichte Blätter sich schon bei der leisesten Berührung zusammenfalten.
»Nun, und was ist damit? fragte Benito.
– Ich schlage vor, erklärte Lina, wir versuchen, dieser Liane bis an's Ende nachzugehen!...
– Wahrlich, das ist ein Gedanke, ein Ziel! rief Benito. Dieser Liane zu folgen, welche Hindernisse das auch bieten mag, sich weder durch Dickichte und Buschwerk, noch durch Felsen, Bäche, Wasserfälle, überhaupt durch nichts abhalten zu lassen; wenn es nöthig wäre, selbst...
– Ja, ja, Du hast Recht, lieber Bruder, unterbrach ihn Minha; Lina ist doch immer eine kleine Närrin!
– Ei, ei! antwortete ihr Bruder, Du sagst blos, daß Lina eine Närrin sei, um nicht auszusprechen, daß Benito ein Narr sein müsse, da er jenem Vorschlage zustimmt.
– Nun, meinetwegen, wir wollen einmal närrisch sein, wenn es Allen paßt! erklärte Minha. Wir gehen also dieser Liane nach!
– Du fürchtest dabei nicht... begann Manoel.
– Immer noch Einwendungen! rief Benito. Du würdest nicht so sprechen, und schon längst auf dem Wege sein, wenn Minha Dich am Ziele erwartete.
– Ich schweige, erklärte Manoel, ich sage kein Wort und gehorche. Wir gehen der Liane nach!«
Alle brachen freudig auf, wie Kinder, wenn es in die Ferien geht.
Er konnte sie weit wegführen, dieser Pflanzenfaden, wenn sie dabei verharrten, ihm wie einem Ariadnefaden bis zum Ende zu folgen – abgesehen davon, daß der Faden der Erbin von Minos dazu diente, aus dem Labyrinthe herauszukommen, während dieser hier nur weiter in ein solches verlockte.
Die betreffende Liane, ein Cipo, bekannt unter dem Namen »rothe Japicanga«, gehörte zur Familie Smilax, deren Länge zuweilen mehrere Meilen beträgt. Doch die Ehre war bei diesem Versuche ja nicht verpfändet.
Der Cipo verlief ununterbrochen von einem Baume zum andern, schlang sich hier um einen Stamm und schlängelte sich dort guirlandenartig zwischen den Zweigen hin, ging von einem Drachenblut- auf einen Palisanderbaum,[68] von einem riesigen Kastanienbaume, der »Bertholettia excelsa« auf eine jener Weinpalmen, jener, »Baccabas« über, deren Zweige von Agassiz ganz treffend mit grün gesprenkelten Korallenstäben verglichen worden sind. Weiter lief der Faden über »Tucumas« hin, über eine Feigenbaumart, die sich wie hundertjährige Oelbäume regelmäßig um sich selbst winden und von denen man in Brasilien nicht weniger als dreiundvierzig Arten zählt; über verschiedene Sorten Euphorbiaceen, welche Kautschuk liefern; über »Gualtes«, das sind Palmen mit glattem, feinem eleganten Schafte; über Cacaobäume, welche an den Ufern der Wasserläufe im Becken des Amazonenstromes wild wachsen, sowie über verschiedene Melastomen, von denen einige lebhafte rosenrothe Blüthen zeigen, andere wieder Rispen von weißlichen Beeren tragen.
Wie oft mußte die heitere Gesellschaft aber Halt machen, wenn der leitende Faden verloren schien. Welche Mühe verursachte es manchmal, ihn aus dem Gewirr parasitischer Gewächse wieder herauszufinden!
»Da, da! rief Lina, ich sehe ihn!
– Du irrst, erwiderte Minha, das ist er nicht, das ist eine andere Liane.
– Doch, Lina hat Recht! bestätigte Benito.
– Nein, Lina hat Unrecht!« erwiderte natürlich Manoel.
Da gab es denn sehr ernste, gründliche Debatten, wo Jeder auf seiner Ansicht beharrte.
Zuletzt blieb nichts anderes übrig, als daß Benito von der einen und der Schwarze von der anderen Seite die Bäume erkletterten und nach den von dem Cipo umschlungenen Zweigen zu gelangen suchten, um dessen Verlauf zweifellos nachzuweisen.
Ein Vergnügen war es freilich kaum zu nennen, so unter dem Zweiggewirr der Bäume umherzukriechen, durch das sich die Liane schlängelte, inmitten der »Karatas« (eine Bromelienart) mit langen, scharfen Dornen, der Orchideen mit röthlichen Blüthen und violetten handbreiten Unterlippen, oder der »Onicidien«, welche noch schlimmer verfitzt erscheinen als ein Garnknaul unter den Pfoten einer jungen Katze.
Senkte sich die Liane dagegen zum Erdboden herab, so war es nicht minder schwierig, sie unter den dichtstehenden Lycopoden, den großblättrigen Heliconien, den Calliandras mit rothen Troddeln, den Rhipsalen, welche sich um dieselbe wiederum wie der Draht um eine elektrische Rolle schlingen, zwischen den Knoten der großen, weißen Trichterwinden, unter den fleischigen Stengeln[69] der Vanille, überhaupt unter dem Gemisch von Passionsblumen, Brindillen, wildem Wein und dergleichen festzuhalten und zu verfolgen.
Fand man dann den Cipo richtig wieder, da gab es einen hellen Jubel und schnell wurde die unterbrochene Wanderung wieder aufgenommen.
Seit einer Stunde schon liefen die jungen Leute so weiter und weiter, doch nichts deutete darauf hin, daß sie sich ihrem eigensinnig verfolgten Ziele näherten. Man schüttelte zuweilen tüchtig an der Liane, diese gab aber nicht nach; höchstens flogen dabei Hunderte von Vögeln auf und Affengesellschaften sprangen, wie um den Weg zu zeigen, von einem Baume zum andern.
Sperrte ein Dickicht den Weg, so brach der Abatis Bahn und Alle drängten sich so gut es ging hindurch. Schlängelte sich die Liane gleich einer Schlange über einen grün bewachsenen Felsen, so kletterte man hinauf und über denselben hinweg.
Bald öffnete sich eine Art Lichtung. Hier in der freien Luft, die ihr ebenso nöthig ist wie die Sonnenstrahlen, stand eine Banane, der den Tropen allein eigenthümliche Baum, der, wie Humboldt sagt, »den Menschen in der Kindheit der Civilisation begleitet hat, der Ernährer der Bewohner in den heißen Zonen,« vereinzelt in der Mitte.
»Machen wir nun endlich Halt? fragte Manoel.
– Nein, und tausendmal nein! erwiderte Benito... Nicht eher als bis wir das Ende der Liane in der Hand halten.
– Es scheint mir aber doch Zeit zu sein, bemerkte Minha, auch an den Rückweg zu denken.
– Ach, liebste Herrin, noch ein Stückchen, nur ein Stückchen weiter! bat Lina.
– Immer, immer weiter!« sagte Benito.
Wiederum eilten die Unbesonnenen in den Wald hinein, der hier etwas dünner wurde und das Fortkommen erleichterte.
Der Cipo schlug überdies eine mehr nördliche Richtung ein und schien sich nach dem Strome zurückzuwenden. So konnte man ihm besser folgen, da man sich dem rechten Ufer näherte, an dem der Rückweg bequemer sein mußte. Eine Viertelstunde später standen Alle in einer Schlucht vor einem kleineren Zuflusse des Amazonenstromes still. Ueber den Wasserlauf aber streckte sich eine Brücke aus »Bejucos-Lianen«, verstärkt von netzartig verflochtenen Zweigen. Der Cipo theilte sich hier in zwei Stränge und führte gleichsam als Geländer von dem einen Ufer zum andern.[70]
Benito, der den Uebrigen stets voraus war, hatte schon den schwankenden Boden der natürlichen Brücke betreten.
Manoel wollte das junge Mädchen zurückhalten.
»Bleib' hier, bleib' hier, Minha! bat er. Benito mag weiter gehen, wenn es ihm beliebt, wir erwarten ihn hier zurück.
– O nein, kommen Sie Alle, drängte Lina. Keine Furcht! Die Liane scheint dünner zu werden. Wir siegen noch, wir finden ihr Ende!«
Ohne Zögern eilte die junge Mulattin Benito nach.
»Das sind doch wahre Kinder! meinte Minha. Komm', lieber Manoel, wir müssen doch wohl mitgehen.«
So überschritten denn Alle die Brücke, welche über der Schlucht wie eine Schaukel schwankte, und verschwanden auf's Neue unter dem Blätterdache der riesigen Bäume.
Kaum zehn Minuten mochten sie so dem endlosen Cipo in der Richtung nach dem Strome gefolgt sein, als Alle wiederum – und diesesmal nicht ohne Grund – Halt machten.
– Sind wir endlich am Ende dieser entsetzlichen Liane? fragte das junge Mädchen.
– Das zwar nicht, erwiderte Benito, doch erscheint es mir gerathen, nur vorsichtig weiter zu gehen. Da, seht!...«
Benito wies bei diesen Worten auf den Cipo, der in dem Gezweig eines hohen Feigenbaumes verloren, offenbar heftig hin und her gezerrt wurde.
»Ja, aber was ist das? fragte Manoel.
– Wahrscheinlich zerrt ein Thier daran, dem wir uns nicht unbesonnen nähern dürfen!«.
Benito machte sein Gewehr schußfertig, gab den Anderen durch Zeichen zu verstehen, daß sie zurückbleiben sollten, und wagte sich, aufmerksam lauschend, zehn Schritte weiter vor.
Manoel, die beiden jungen Mädchen und der Schwarze blieben unbeweglich auf dem Platze zurück.
Plötzlich hörten sie einen Aufschrei Benitos, den sie auf einen Baum zuspringen sahen. Alle eilten nach derselben Seite hin.
Da bot sich ihnen ein unerwartetes und keineswegs angenehmes Schauspiel.
Die Liane um den Hals geschlungen, hing ein Mann, von dessen letzten Zuckungen im Todeskampfe die Erschütterungen der Liane hergerührt hatten.[71]
Benito aber hatte sich schon auf den Unglücklichen gestürzt und den Cipo mit dem Messer durchschnitten. Der Erhenkte glitt auf die Erde nieder. Manoel beugte sich über denselben, um ihn, wenn es nicht zu spät war, in's Leben zurückzurufen.
»Ach, der arme Mann! murmelte Minha.
– Herr Manoel, Herr Manoel, rief Lina, er athmet noch, sein Herz schlägt noch – Sie müssen ihn retten!
– Das hoffe ich auch, antwortete Manoel, doch ich glaube, es war die höchste Zeit.«[72]
Der Gehenkte war ein Mann von etwa dreißig Jahren, ein sehr ärmlich gekleideter, entsetzlich abgemagerter Weißer, der offenbar sehr viel gelitten hatte.
Ihm zu Füßen lag eine leere Kürbisflasche, ein Kugelsänger aus Palmenholz, an dem an Stelle der Kugel ein Schildkrötenkopf mittelst Faden befestigt war.
– Nein, sich aufzuhängen, sich aufzuhängen, wiederholte Lina, und noch so jung! Was mag ihn dazu getrieben haben?«
Manoels Bemühungen gelang es inzwischen, den armen Teufel wieder zum Leben zu bringen. Er schlug die Augen auf und stieß plötzlich ein so heftiges[73] »Hum« hervor, daß die erschreckte Lina durch einen zweiten Schrei darauf antwortete.
»Wer seid Ihr, lieber Freund? fragte Benito.
– Nun, wie mir scheint, ein Ex-Gehenkter!
– Und Ihr Name?
– Gedulden Sie sich einen Augenblick, ich muß mich erst besinnen, erwiderte der Mann, mit der Hand über die Stirne streichend. Ah, richtig, ich heiße Fragoso und kann Sie, wenn es Ihnen beliebt, noch frisiren, rasiren, überhaupt das Haar nach allen Regeln der Kunst behandeln. Ich bin Barbier oder vielmehr einer der verzweifeltsten aller Figaros!...
– Wie konnten Sie aber auf den Gedanken kommen...?
– Ja, was meinen Sie, entgegnete Fragoso lachend, ein Augenblick der Verzweiflung, den ich gewiß später bedauert hätte, wenn das in der andern Welt möglich ist. Wenn man jedoch achthundert Meilen weit durch das Land laufen soll ohne eine Pataque in der Tasche, das ist auch keine schöne Zuversicht! Ich hatte eben den Muth verloren und einem Anderen wär's vielleicht nicht besser gegangen!«
Fragoso war übrigens eine recht ansprechende Erscheinung. Man sah, je mehr er sich erholte, daß er sonst ein lustiger Patron sein mochte; er gehörte zu den umherziehenden Barbieren, die längs der Ufer des oberen Amazonenstromes ein Nomadenleben führen, von Dorf zu Dorf wandern und ihr Geschäft unter den Negern und Negerinnen, Indianern und Indianerinnen betreiben, bei denen sie in hohem Ansehen stehen.
Der arme verlassene Figaro hatte seit vierzig Stunden keinen Bissen gegessen, sich im Walde verirrt und einen Augenblick den Kopf verloren... Das Uebrige ist bekannt.
»Lieber Mann, sagte Benito, Sie werden mit uns nach der Fazenda von Iquitos gehen.
– Wie Sie befehlen und mit dem größten Vergnügen! antwortete Fragoso. Sie haben mich aus der Schlinge befreit, nun gehöre ich ganz Ihnen. Sie hätten mich nicht abschneiden sollen!
– Nun, liebe Herrin, begann Lina, thaten wir recht daran, unseren Spaziergang so weit auszudehnen?
– Das will ich meinen! bestätigte das junge Mädchen.[74]
– Wahrhaftig, sagte Benito, das hätte ich mir nicht träumen lassen, daß wir am Ende des Cipo einen Menschen finden sollten.
– Und noch dazu einen Barbier in der Noth, der sich eben aufbaumeln wollte!« setzte Fragoso hinzu.
Der arme Teufel wurde, als er sich wieder beruhigt hatte, von dem Vorgefallenen unterrichtet. Er dankte Lina herzlich für den guten Gedanken, dieser Liane nachzugehen, und Alle schlugen den Weg zur Fazenda ein, wo Fragoso so aufgenommen wurde, daß er weder Lust noch Veranlassung hatte, auf sein trauriges Vorhaben zurückzukommen.
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