Zweites Capitel.
Die ersten Stunden.

[198] Kaum verschwand den Zurückbleibenden die Pirogue, welche Joam Garral oder vielmehr Joam Dacosta – denn diesen Namen müssen wir ihm wohl wieder beilegen – forttrug, aus den Blicken, als Benito auf Manoel zuging.

»Was weißt Du? fragte er.

– Ich weiß, daß Dein Vater unschuldig ist! Ja, unschuldig, wiederholte Manoel, und daß vor dreiundzwanzig Jahren über ihn ein Todesurtheil gefällt worden war wegen eines Verbrechens, das er nicht begangen hatte.

– Er hat Dir das Alles mitgetheilt, Manoel?

– Alles, lieber Benito, erwiderte der junge Mann. Der ehrenhafte[198] Fazender wollte nicht, daß seine Vergangenheit für Den ein Räthsel sein sollte, der durch die Vermählung mit seiner Tochter als zweiter Sohn in seine Familie einzutreten wünschte.

– Und die Beweise für seine Unschuld? Wird mein Vater im Stande sein, solche beizubringen?

– Diesen Beweis, Benito, liefert schon genügend ein dreiundzwanzigjähriges ehrliches und geehrtes Leben, schon der Entschluß Joam Dacosta's, selbst vor den Richter zu treten und zu sagen: »Hier bin ich! Ich ertrag' es nicht mehr, solche falsche Rolle zu spielen, und mag mich nicht mehr unter einem Namen verbergen, der nicht der meinige ist. Ihr hattet einen Unschuldigen verurtheilt, jetzt gebt ihm seine Ehre wieder!«

– Und Du hast, als mein Vater so zu Dir sprach, an der Wahrheit seiner Worte niemals gezweifelt?

– Keinen Augenblick, mein Bruder!« antwortete Manoel.

Die beiden jungen Männer reichten einander die Hände und besiegelten ihre Uebereinstimmung durch einen herzlichen Druck.

Benito begab sich hierauf zu dem Padre Passanha.

»Padre, begann er, geleiten Sie meine Mutter und Schwester nach ihren Zimmern – verlassen Sie dieselben heute nicht! Hier – das wissen Sie – zweifelt Niemand an der Unschuld meines Vaters, Niemand!... Morgen werden wir den Chef der Polizei aufsuchen. Er wird uns den Eintritt in das Gefängniß nicht verwehren. Nein, das wäre zu grausam! Dort sehen wir unseren Vater und werden mit ihm überlegen, welche Schritte zu thun seien, um seine Befreiung von so schwerer Anklage zu erwirken!«

Yaquita war zuerst einer Ohnmacht nahe gewesen; wenn der unerwartete Schlag die muthige Frau aber auch fast niederschmetterte, so gewann sie doch bald wieder die Herrschaft über sich; als Yaquita Dacosta mußte sie ja dieselbe bleiben, wie früher als Yaquita Garral.


Manao (S. 195.)
Manao (S. 195.)

Sie zweifelte nicht im Geringsten an der Schuldlosigkeit ihres Gatten, ja, es kam ihr nicht einmal der Gedanke, Joam Garral deshalb zu tadeln, weil er sie unter fremdem Namen geheiratet hatte. Vor ihrer Erinnerung stand nur das lange Leben voll reinen Glückes, das ihr dieser ehrenwerthe, unrechter Weise verdächtigte Mann bescheert hatte. Ja, am nächsten Tage wollte sie an die Thür seines Kerkers eilen und diese nicht eher verlassen, als bis sie sich vor ihr geöffnet hätte.[199]

Der Padre Passanha führte sie und ihre Tochter, welche sich der Thränen nicht erwehren konnte, hinweg, und alle Drei zogen sich in das Wohnhaus zurück.

Die beiden jungen Männer blieben allein.

»Und jetzt, lieber Manoel, nahm Benito wieder das Wort, jetzt mußt Du mir Alles mittheilen, was mein Vater Dir anvertraut hat.

– Ich habe keine Ursache, Dir etwas zu verhehlen, Benito.

– So sage, was hatte Torres an Bord der Jangada überhaupt für einen Zweck?[200]

– Er wollte Joam Dacosta die Lösung des Räthsels aus seinem früheren Leben verkaufen.

– Demnach hatte Torres, als wir ihn in den Wäldern von Iquitos trafen, schon damals die Absicht gehabt, sich mit meinem Vater in nähere Verbindung zu setzen?

– Daran ist kaum zu zweifeln, bestätigte Manoel. Der Schurke befand sich eben auf dem Wege nach der Fazenda, um dort ein von langer Hand vorbereitetes, schmähliches Tauschgeschäft abzuschließen.


Der »Sumaumeira«, jener Riese des Pflanzenreiches. (S. 197.)
Der »Sumaumeira«, jener Riese des Pflanzenreiches. (S. 197.)

[201] – Und als wir gegen ihn äußerten, sagte Benito, daß mein Vater nebst der ganzen Familie im Begriff sei, über die Grenze zu gehen, hat er seinen Plan plötzlich geändert?...

– Gewiß, Benito. Schon weil Joam Dacosta, wenn er auf brasilianisches Gebiet übertrat, mehr in seiner Gewalt war, als auf dem Boden Perus. Das erklärt hinlänglich, warum wir Torres in Tabatinga wieder trafen, wo er unsere Ankunft erwartete, wo er uns auflauerte.

– Und ich Unglückseliger, rief Benito, sich selbst anklagend, ich mußte so unvorsichtig sein, ihm einen Platz auf der Jangada anzubieten!

– Liebster Bruder, redete Manoel ihm zu, mach' Dir darüber keine Vorwürfe. Torres würde eher oder später sich an uns anzuschließen gewußt haben. Er war nicht der Mann dazu, die einmal gefundene Fährte aus den Augen zu verlieren. Entgingen wir ihm in Tabatinga, so hätte er in Manao unseren Weg gekreuzt.

– Gewiß, Manoel, damit hast Du wohl Recht! Doch jetzt handelt es sich nicht mehr um das Vorhergegangene, sondern um die Gegenwart... fort mit nutzlosen Selbstvorwürfen! Halten wir die Augen offen für das Nothwendigste!«...

Benito strich sich bei diesen Worten mit der Hand über die Stirn, so als suchte er sich alle Einzelheiten dieser traurigen Angelegenheit wieder vor Augen zu führen.

»Wie in aller Welt, fragte er, konnte Torres davon Kenntniß erlangt haben, daß mein Vater vor dreiundzwanzig Jahren wegen jenes abscheulichen Verbrechens in Tijuco verurtheilt worden war?

– Das weiß ich nicht, erwiderte Manoel, und Alles bestärkt mich in dem Glauben, daß das auch Deinem Vater selbst unbekannt ist.

– Und dennoch wußte Torres von dem Namen Garral, unter dem Joam Dacosta sich verbarg?

– Offenbar.

– Er wußte auch, daß mein Vater in Peru, in Iquitos, seit so langen Jahren Zuflucht gesucht und gefunden hatte?

– Ohne Zweifel, versicherte Manoel; wie er das jedoch erfahren haben mag, kann ich nicht begreifen.

– Noch eine Frage, sagte Benito. Welchen Vorschlag hat Torres wohl meinem Vater während der kurzen Verhandlung gemacht, nach welcher wir ihn an's Land setzten?[202]

– Er hatte gedroht, bei der Behörde Anzeige zu machen, daß Joam Garral jener vermißte Joam Dacosta sei, im Fall er sich weigerte, seine Verschwiegenheit zu erkaufen.

– Und um welchen Preis?

– Um den Preis der Hand seiner Tochter! antwortete Manoel ohne Zögern, aber bleich vor Zorn.

– Der Unselige hätte es gewagt... rief Benito.

– Du weißt selbst, lieber Benito, welche Antwort Dein Vater auf dieses schmähliche Ansinnen ertheilte.

– Gewiß, Manoel, gewiß! Die einem Ehrenmanne einzige mögliche Antwort er gab Torres den Laufpaß! Damit ist die Sache aber leider nicht abgethan; ist mein Vater nicht auf Torres' Denunciation hin verhaftet worden?

– Ja wohl.

– Nun, bei Gott, rief Benito, den Arm drohend gegen das linke Ufer erhebend, ich muß Torres auffinden, ich muß erfahren, wie er in den Besitz dieses Geheimnisses gelangt ist. Er muß mir sagen, ob er es von dem wirklichen Urheber jenes Verbrechens erhalten hat – er wird sich nicht weigern, mir Rede zu stehen – und wenn er das doch wagte, so weiß ich, was mir zu thun übrig bleibt.

– Was zu thun übrig bleibt, aber Dir nicht mehr als mir! fügte Manoel zwar etwas kälter, aber nicht minder entschlossen hinzu.

– Nein, Manoel, nein!... nur mir allein!

– Wir sind jetzt Brüder, Benito, entgegnete Manoel, die Rache gehört uns Beiden!«

Benito erwiderte nichts. Offenbar war sein Entschluß in dieser Frage schon gefaßt.

Da trat der Steuermann Araujo, der den Strom in der Nähe betrachtet hatte, an die beiden jungen Männer heran.

»Haben Sie sich entschieden, fragte er, ob die Jangada bei der Insel Muras verankert bleiben oder in den Hafen von Manao geführt werden soll?«

Hierüber mußte man jedenfalls vor Anbruch der Nacht schlüssig werden und das Für und Wider also sofort erwägen.

Die Neuigkeit von der Verhaftung Joam Dacosta's mußte sich in der Stadt wohl bereits verbreitet haben Unzweifelhaft reizte sie die Neugier der Bewohner Manaos. Konnte sie aber nicht auch noch mehr erregen als bloße[203] Neugier wegen des Verurtheilten, wegen des Urhebers des schmachvollen Verbrechens in Tijuco, das seiner Zeit in Aller Munde gewesen war? Wenn das Volk nun gar unruhig wurde und seinem Abscheu gegen jene Unthat, welche noch nicht einmal gesühnt schien, Ausdruck gab? Wenn das zu befürchten war, so schien es doch rathsamer, die Jangada bei der Insel Muras, am rechten Stromufer und einige Meilen von Manao entfernt, liegen zu lassen.

Die Entscheidung schwankte mehrfach nach der einen und anderen Seite.

»Nein, rief endlich Benito, wenn wir hier bleiben, so hieße das, meinen Vater verlassen und an seiner Unschuld zweifeln; es erschiene, als fürchteten wir, mit ihm gemeinschaftliche Sache zu machen. Wir müssen nach Manao gehen und das ohne Zögern!

– Du hast Recht, Benito, antwortete Manoel, laß uns dahin aufbrechen!«

Araujo nickte ebenfalls beistimmend mit dem Kopfe und traf die nothwendigen Maßregeln, um von der Insel abzustoßen. Dieses Manöver erheischte einige Vorsicht. Es galt ja, in schräger Linie durch den Amazonenstrom und auch noch gegen die Wassermassen des Rio Negro anzufahren, welche sich zwölf Meilen weiter flußabwärts durch dessen weite Einmündung wälzten.

Die an der Insel befestigten Taue wurden gelöst. In die Strömung zurückgeschoben, begann die Jangada langsam in schräger Richtung weiter zu treiben. Araujo benutzte verständig die natürlichen Bogen der sich an Landvorsprüngen brechenden Strömung, um das ungeheuere Floß in gewünschtem Kurse zu erhalten, wozu die langen Bootshaken noch weiter beitrugen.

Zwei Stunden später schwamm die Jangada am anderen Ufer des Amazonenstromes, etwas oberhalb der Mündung des Rio Negro, wo die einen Strudel bildende Strömung sie nach dem unteren Ufer der weiten Bucht an der linken Seite jenes Nebenstromes hintrieb.

Um fünf Uhr endlich lag die Jangada fest vertaut längs dieses Uferlandes, nicht im Hafen von Manao selbst, den sie nur durch mühsames Ankämpfen gegen das schnell dahineilende Wasser hätte erreichen können, aber doch auch nur eine kleine Meile unterhalb desselben.

Der Holztrain ruhte jetzt auf den schwarzen Fluthen des Rio Negro, dicht an einer erhöhten Uferwand mit braunroth knospenden Cecropias und einer Art Schutzwand aus jenen geradstengligen, »Froxas« genannten Rosenbüschen, aus denen die Indianer sich Schußwaffen herzustellen pflegen.[204]

Einzelne Bewohner der Stadt lustwandelten am Strande. Allem Anscheine nach mochte sie die Neugier bis nach dem Ankerplatze der Jangada verlockt haben. Die Nachricht von der Verhaftung Joam Dacosta's verbreitete sich gewiß schnell in der Ortschaft; die Neugier der Manaoenser verleitete diese jedoch nicht bis zur Indiscretion, sie hielten sich wenigstens in anständiger Entfernung.

Benito gedachte eigentlich noch denselben Abend an's Land zu gehen; Manoel rieth ihm aber davon ab.

»Warte bis morgen, sagte er, schon kommt die Nacht, und es scheint mir besser, wir verlassen die Jangada während derselben nicht.

– Du hast Recht, also morgen!« antwortete Benito.

Eben trat Yaquita, gefolgt von ihrer Tochter und dem Padre Passanha, aus dem Wohnhause. Wenn Minha noch in Thränen schwamm, so waren die Augen ihrer Mutter trocken, und Energie und Entschlossenheit sprach aus deren ganzer Erscheinung. Man fühlte es heraus, daß diese Frau jetzt zu Allem bereit war, ebenso ihre Pflicht zu thun, wie ihr Recht zu beanspruchen.

Yaquita ging langsam auf Manoel zu.

»Manoel, hören Sie, was ich Ihnen zu sagen habe, denn ich darf nicht zögern, dem Drange meines Gewissens Genüge zu thun.

– Ich höre!« antwortete Manoel.

Yaquita sah ihm voll und frei in's Angesicht.

»Als Sie gestern, fuhr sie fort, ein Gespräch mit Joam Dacosta, meinem Manne, hatten, kamen Sie darauf zu mir und nannten mich: Meine Mutter! Sie ergriffen die Hand Minhas und sagten zu ihr: Mein Weib! Sie wußten da schon Alles; die Vergangenheit Joam Dacosta's lag klar vor Ihren Augen.

– Gewiß, gab Manoel zur Antwort, und Gott soll mich strafen, wenn ich deshalb einen Augenblick....

– Halt, halt, Manoel, ich glaube Ihnen, unterbrach ihn Yaquita, gestern war Joam Dacosta jedoch noch nicht verhaftet. Jetzt hat sich die Lage sehr wesentlich verändert. Wie schuldlos er auch sein mag, mein Gatte befindet sich in den Händen des Gerichtes; seine Vergangenheit wird öffentlich bekannt; Minha ist die Tochter eines zum Tode Verurtheilten...

– Minha Dacosta oder Minha Garral – ist darin ein Unterschied? rief Manoel leidenschaftlich; bleibt meine Minha nicht dieselbe?

– Manoel!« schluchzte das junge Mädchen.[205]

Sie wäre sicher umgesunken vor Erregung, wenn Linas Arme sie nicht gehalten hätten.

»Mutter, sagte Manoel, wenn Sie sie nicht tödten wollen, so nennen Sie mich Ihren Sohn!

– Mein Sohn, mein Kind!«

Das war Alles, was Yaquita antworten konnte, und wieder stürzten die mühsam zurückgehaltenen Thränen ihr aus den Augen.

Alle kehrten nach dem Wohnhause zurück. Langsam schlich die lange, lange Nacht den schwer Geprüften hin, und keine Stunde Schlaf ließ sie den Gram und Schmerz des letzten Tages vergessen.

Quelle:
Jules Verne: Die Jangada. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXXIX–XL, Wien, Pest, Leipzig 1883, S. 198-206.
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