Zweites Capitel.
Helena Campbell.

[16] Das von den Brüdern Melvill und Miß Campbell bewohnte Landhaus lag eine (englische) Meile von dem freundlichen Städtchen Helensburgh, am Ufer des Gare-Loch, einer jener pittoresken Einbuchtungen, welche sich hier und dort am linken Clyde-Ufer in's Land hineinziehen.

Während des Winters hausten die Brüder Melvill und ihre Nichte in einem alten Hôtel der West-George-Street, im aristokratischen Viertel der Neustadt von Glasgow, unsern des Blythswood-Square. Hier hielten sie sich sechs Monate lang im Jahre auf, wenn sie nicht eine Laune Helena's – der sich die Brüder ohne Widerrede fügten – auf lange Zeit von der Heimat weg, nach den Küstenländern Italiens, Spaniens oder Frankreichs entführte. Während dieser Reisen sahen sie nur noch mit den Augen des jungen Mädchens, gingen dahin, wohin es ihr zu gehen beliebte, verweilten, wo es ihr gefiel zu bleiben, und bewunderten nur, was sie gerade bewunderte. Wenn Miß Campbell dann ihr Album, in welchem sie ihre Bleistiftzeichnungen oder mit der Feder ihre Reiseeindrücke aufbewahrte, geschlossen hatte, begaben sie sich friedlich wieder auf den Rückweg nach dem Vereinigten Königreiche und bezogen, nicht ohne eine gewisse Befriedigung, die behaglich vornehme Wohnung in der West-George-Street.

Schon war der Monat Mai drei Wochen alt, und Bruder Sam und Bruder Sib fühlten ein unstillbares Verlangen, auf's Land überzusiedeln. Das ergriff sie gerade in dem Augenblicke, wo Miß Campbell den nicht weniger lebhaften Wunsch zu erkennen gab, gleichzeitig mit Glasgow dem Geräusche einer großen Industriestadt, dem geschäftlichen Treiben, welches zuweilen bis in das Quartier des Blythswood-Square fluthete, zu entfliehen, endlich einen weniger verräucherten Himmel wieder zu sehen und eine minder mit Kohlensäure überladene Luft zu athmen, als den Himmel und die Luft dieser alten Metropole, deren commercielle Bedeutung die Tabaksgrafen, »Tabacco-Lords«, vor Jahrhunderten begründet haben.

Das ganze Haus, Herren und Dienerschaft, reiste also nach dem, höchstens zwanzig Meilen entfernten Landsitze ab.[16]

Es ist ein hübscher Ort, das Städtchen Helensburgh. Man hat es zu einer Gesundheitsstation gemacht, welche vielfach von denen aufgesucht wird, welche in der glücklichen Lage sind, ihre gewohnten Spaziertouren am Clyde mit einem Ausfluge nach dem, von allen Vergnügungsreisenden hochgeschätzten Lac Katrine oder nach dem Lac Lomond zu vertauschen.


Das Landhaus »Helenenburgh«. (S. 17.)
Das Landhaus »Helenenburgh«. (S. 17.)

Eine Meile von diesem kleinen Städtchen entfernt, am Ufer des Gare-Loch hatten die Brüder Melvill den reizendsten Platz ausgewählt, um daselbst ihr Landhaus zu errichten.[17]

Es lag hier versteckt in prächtigen Bäumen, mitten in einem Netze klarer Wasseradern, auf wechselndem Terrain, das sich zur Anlegung eines Parkes ganz vorzüglich eignete. Erquickende schattige Partien, frisch grünender Rasen, verschiedene Baumgruppen, Blumenbeete, Wiesen, auf denen ein ausgezeichnetes Futter für die zur Belustigung gehaltenen Lämmer wuchs, Teiche mit klaren dunklen Wasserflächen, bevölkert von wilden Schwänen, von jenen graziösen Vögeln, über welche Wordsworth gesagt hat: »Der Schwan schwimmt zweimal – Der Schwan und sein Schattenbild!« kurz, was die Natur nur vereinigt bieten kann, um das Auge zu ergötzen, ohne daß des Menschen Hand viel daran zu schaffen hat – so war der Sommersitz der reichbegüterten Familie beschaffen.

Wir dürfen nicht vergessen hinzuzufügen, daß der, über dem Gare-Loch liegende Theil des Parkes eine wirklich entzückende Aussicht bot. Jenseits des beschränkten Golfs zur Rechten wurde der Blick zuerst gefesselt von der Halbinsel Rosenheat, auf der sich eine dem Herzog von Argyle gehörige Villa in italienischem Styl erhob.

Zur Linken begleitete die Häuserreihe des Städtchens Helensburgh die Wellenlinie des Strandes, ragten zwei oder drei Thürme empor, streckte sich der elegante Pier aus, der als Anlageplatz für Dampfboote in den See hinausgebaut ist, und stieg endlich der hügelige Hintergrund, den da und dort verstreute freundliche Besitzungen belebten, terrassenförmig in die Höhe. Geradeaus, am linken Ufer des Clyde, bildeten Port-Glasgow, die Ruinen des Schlosses Newark und Greenock mit seinem buntbewimpelten Mastenwalde ein abwechslungsreiches Panorama, von dem sich das Auge nur ungern trennte.

Diese Aussicht gewann noch an Reiz, wenn man den Hauptthurm des Landhauses erstieg, von wo aus eine weite Strecke bis zum Horizonte zu überschauen war.

Diesen viereckigen Thurm, mit leichten, an drei Ecken seiner Plattform angesetzten Ausbauten, mit seinen Zinnen und Schießscharten, den auch ein Gürtel ausgezahnter Steine umschloß, überragte an der vierten Ecke noch ein achtseitiges Thürmchen. Hier erhob sich die Flaggenstange, welche man in dieser Gegend überhaupt auf dem Dache jedes Hauses ebenso wiederfindet, wie am Hintertheil der Schiffe des Vereinigten Königreichs. Diese Art Donjon von neuem Datum beherrschte also sämmtliche zur eigentlichen »Cottage« gehörenden Baulichkeiten mit ihren unregelmäßigen Dächern, den fast nach Gutdünken angebrachten Fenstern, den vielgestaltigen Giebeln und die Façade unterbrechenden Vorbauten, mit den[18] die Fenster umrahmenden Gesimsen und den am oberen Ende verzierten Schornsteinen, Alles in Allem geschmackvolle Phantasien, welche die angelsächsische Architektur überhaupt liebt.

Hier auf der Plattform des oberen Thurmes, unter der Nationalflagge, welche sich bei der Brise entfaltete, verträumte Miß Campbell gern manche Stunde des Tages. Sie hatte sich da oben ein reizendes Plätzchen zurecht gemacht, wo sie – in der freien Luft wie auf einer Sternwarte – bei jeder Witterung, geschützt vor Wind, Sonnenbrand und Regen, lesen, schreiben und schlummern konnte. Hier mußte man sie meistentheils suchen Befand sie sich nicht hier, so lustwandelte sie ihrer Neigung folgend in den Alleen des Parkes, allein oder in Begleitung der Frau Beß, wenn ihr feuriges Roß sie nicht durch die umliegende Landschaft trug, wobei ihr der getreue Patridge folgte, der sein Pferd tüchtig antreiben mußte, um hinter der jungen Herrin nicht zurückzubleiben.

Aus der zahlreichen Dienerschaft der Cottage müssen wir vorzüglich die beiden genannten Leute hervorheben, welche schon von Jugend auf mit der Familie Campbell gewissermaßen verwachsen waren.

Elisabeth, die »Luckie«, die Mutter – wie man die Hausverwalterin in den Hochlanden Schottlands gern nennt – zählte jener Zeit ebenso viele Jahre, als sie Schlüssel an ihrem gewaltigen Bunde trug, und deren waren nicht weniger als siebenundvierzig. Sie stellte eine wirklich umsichtige, ordentliche, ernste, gesetzte Herrscherin des Hauswesens vor, das hier auch in allem Umfange ihrem Ressort angehörte. Vielleicht meinte sie gar, die beiden Brüder Melvill, obwohl diese älter waren als sie, selbst aufgezogen zu haben; jedenfalls widmete sie wenigstens der Miß Campbell mütterliche Sorgfalt.

Neben dieser schätzenswerthen Intendantin figurirte der Schotte Patridge, ein seinen Herren unter allen Bedingungen ergebener Diener, der noch dem alten Clan treu geblieben war. Unveränderlich bekleidet mit dem nationalen Costüm der Bergschotten, trug er die bunte hohe Mütze, den Schurz aus großgewürfeltem Wollenstoff, der ihm über den kurzen Rock bis zu den Knien herabhing, den Pouch, eine Art Beutel aus langen Fasern, die hohen, durch rautenförmig geflochtene Schnüre gehaltenen Gamaschen und die gebräuchliche Fußbekleidung mit Sandalen aus Rindsleder.

Eine Frau Beß als Wirthschafterin, und einen Patridge als Schutz des Hauses, was konnte es mehr bedürfen, um sich hienieden der Sicherheit häuslicher Ruhe zu erfreuen?[19]

Der Leser wird bemerkt haben, daß Patridge bei Beantwortung der Fragen der Brüder Melvill, als er von dem jungen Mädchen sprach, nur »Miß Campbell« sagte.

Hätte der wackere Schotte sie nämlich »Miß Helena«, also bei ihrem Taufnamen genannt, so würde er sich eines groben Verstoßes gegen die Regeln schuldig gemacht haben, welche die gesellschaftliche Stellung der Personen bezeichnen – eine Verletzung des Anstandes, die man speciell mit dem Wort »Snobismus« zu kennzeichnen pflegt.

In der That trägt die letzte, respective die einzige Tochter einer vornehmen Familie niemals ihren Taufnamen. Wäre Miß Campbell die Tochter eines Pairs gewesen, so würde sie »Lady Helena« genannt worden sein; der Zweig der Campbells aber, zu dem sie gehörte, war nur in Seitenlinie und ziemlich entfernt verwandt mit der directen Linie des Paladin Sir Colin Campbell, dessen Ahnen bis zu den Kreuzzügen zurückreichen. Seit mehreren Jahrhunderten schon hatten sich aus dem gemeinsamen Stamme Zweige getrennt, von der Linie des ruhmreichen Ahnherrn, an welchen die Clans von Argyle, von Breadalbane, von Lochnell und Andere anknüpfen; so entfernt sie diesen auch stand, fühlte Helena doch von ihrem Vater her in ihren Adern ein wenig Blut rollen von dem Blute jener weitberühmten Familie.

Außer eine stammesechte Miß Campbell war sie jedoch auch eine wahre Schottin, eine jener edlen herrlichen Töchter von Thule mit blauen Augen und blonden Haaren, deren von Findon oder Edwards gemaltes Porträt, wenn es unter die Minnas, Brendas, Amy Robsarts, Flora Mac-Ivors, Diana Vernons, die Miß Wardour, Catherine Glovers oder Mary Avenels placirt wurde, die »Keepsakes« (Erinnerungszeichen und Sammlungen) nicht verunziert hätte, in denen die Engländer die schönsten weiblichen Typen ihres großen Romanciers zusammenzustellen lieben.

Wirklich, sie war reizend, diese Miß Campbell. Jedermann bewunderte ihr hübsches Gesicht mit den blauen Augen – dem Blau der schottischen Seen, wie man gern sagte – ihre mittelgroße, aber elegante Figur, den etwas stolzen Gang, ihre meist etwas träumerische Physiognomie, wenn nicht ein leicht ironischer Anflug ihre Züge belebte, endlich überhaupt die ganze von Grazie und Vornehmheit zeugende Erscheinung.

Und Miß Campbell war nicht allein schön, sie war auch gutherzig. Reich durch ihre beiden Onkels, vermied sie es doch stets, prahlsüchtig zu erscheinen[20] Mitleidigen Herzens, bemühte sie sich vielmehr, das alte, gaëlische Sprichwort zu bestätigen: »Möchte die Hand, welche sich öffnet, stets voll sein!«

Vor Allem hing sie mit ganzem Herzen an ihrer heimatlichen Provinz, an ihrem Clan und ihrer Familie, mit einem Worte, sie war mit Leib und Seele eine echte Schottin. Sie hätte ohne Bedenken dem niedrigsten Sawney den Vortritt vor dem größten und reichsten John Bull zugestanden, die patriotischen Fibern ihres Herzens erzitterten wie die Saiten einer Harfe, wenn von der Stimme eines Bergbewohners im Lande ein nationaler Pibroch der Hochländer an ihr Ohr schlug.

De Maistre hat gesagt: »Es gibt in uns zwei Wesen: »Ich und der Andere«.

Dieses »Ich« der Miß Campbell drückte sich aus in dem ernsten, überlegenden Wesen, welches das Erdenleben ebenso vom Standpunkt der Pflichten, wie der Rechte in's Auge faßte. Der »Andere« verrieth sich in der romantischen, etwas zum Aberglauben neigenden Natur, welche die wunderbaren Sagen liebt, die in der Heimat Fingal's naturgemäß so leicht auftauchen. Etwas verwandt mit den Lindamires, den vielbewunderten Heroinen der Ritterromane, durchstreifte sie die benachbarten Thäler und Schluchten, um dem »Dudelsack von Strathdearne« zu lauschen, wie die Hochländer den Wind nennen, wenn er durch einsame Alleen hinweht.

Bruder Sam und Bruder Sib liebten ganz gleichmäßig jenes »Ich« und jenes »Andere« der Miß Campbell; doch wir dürfen nicht verheimlichen, daß wenn das Erstere sie durch seine Vernunft entzückte, das Andere sie zuweilen ganz außer Fassung brachte durch unerwartete Antworten, durch launenhafte Fernblicke und durch plötzliche Seitensprünge in das Reich der Träume.

War es nicht dieser zweite Theil ihrer Natur gewesen, der auf den Vorschlag der Brüder eine so bizarre Antwort gegeben hatte?

»Mich verheiraten!« würde das »Ich« gesagt haben. Herrn Ursiclos heiraten!... Wollen sehen... davon können wir ja später sprechen.

– Niemals, so lange ich noch nicht den Grünen Strahl gesehen!« hatte die »Andere« in ihr eingewendet.

Die Brüder Melvill sahen einander verblüfft an, während Miß Campbell in dem großen gothischen Lehnstuhle in der Fensternische es sich bequem machte.

»Was versteht sie unter dem Grünen Strahl? fragte der Bruder Sam.

– Und warum will sie den Grünen Strahl sehen?« antwortete der Bruder Sib.

Warum? Das werden wir sofort erfahren.[21]

Quelle:
Jules Verne: Der grüne Strahl. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XLII, Wien, Pest, Leipzig 1887, S. 16-22.
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