Neuntes Capitel.
Ein geschlossenes Haus.

[143] Sechs Lieues von St. Denis erhebt sich der Flecken St. Charles am Nordufer des Richelieu in der Grafschaft St. Hyacinthe, welche an die von Montreal grenzt. Folgt man dem Richelieu, einem der bedeutendsten Zuflüsse des St. Lorenzo, stromaufwärts, so gelangt man nach der kleinen Stadt Sorel, wo der »Champlain« während seiner letzten Fahrt vor Anker gegangen war.

Jener Zeit stand noch, einige Hundert Schritte vor der Biegung, welche die Hauptstraße von St. Charles da macht, wo sie zwischen den ersten Häusern des Fleckens verläuft, ein kleines, vereinzeltes Häuschen.

Es war eine bescheidene, ja dürftige Wohnstatt, welche nur aus dem Erdgeschoß mit einer Thür und zwei Fenstern bestand, in deren abgegrenztem Vorraum das Unkraut wucherte. Meist war die Thür verschlossen; auch die Fenster wurden niemals geöffnet, nicht einmal hinter den Läden mit voller Füllung, welche stets geschlossen gehalten wurden. Das Licht des Tages konnte so allein durch zwei an der, nach einem Garten zu gelegenen Hinterfront des Häuschens befindliche Fenster Eingang finden.

Dieser Garten bildete ein Viereck mit hohen von Glaskraut überwucherten Mauern und mit einem von halb verfallenem Steingeländer eingefaßten Brunnen. Hier wuchsen auf der Fläche etwa eines Fünftel Ackers verschiedene Gemüse; dort vegetirten etwa ein Dutzend Obstbäume, Birn-, Nuß- und Apfelbäume, welche alle der Sorge der Natur überlassen waren. Ein kleiner Hühnerhof, der in den Garten hereinreichte und auf der anderen Seite das Haus berührte, beherbergte fünf bis sechs Hühner, welche die für den täglichen Bedarf nöthige Menge Eier lieferten.

Das Innere dieses Hauses enthielt nur drei Räume mit wenigen Möbeln – und zwar nur, was von diesen unumgänglich nöthig erschien. Der eine dieser Räume zur Linken des Eingangs diente als Küche, die beiden anderen zur Rechten als Schlafzimmer. Die enge, sie trennende Hausflur bildete den Verbindungsgang zwischen Vorraum und Garten.[143]

Ja, dieses Haus war sehr dürftig und klein; man glaubte es aber herauszufühlen, daß der oder die Bewohner gerade gewünscht haben mochten, unter solchen ärmlichen Verhältnissen zu leben. Die Bewohner von St. Charles irrten hiermit auch nicht. Klopfte einmal ein Bettler an die Thür des »geschlossenen Hauses« – wie es im Orte allgemein genannt wurde – so ging er gewiß nicht ohne ein kleines Almosen davon.

Das »geschlossene Haus« hätte ebenso gut das »mildthätige Haus« heißen können, denn die Mildthätigkeit äußerte sich hier zu jeder Stunde.

Wer dasselbe bewohnte?... Eine einzelne, stets schwarz gekleidete und von langem Witwenschleier umhüllte Frau. – Sie verließ nur selten das Haus – ein- oder zweimal die Woche, wenn sie ausgehen mußte, um irgend etwas einzukaufen, oder des Sonntags, um in die Kirche zu gehen. Handelte es sich um einen Einkauf, so wartete sie damit bis es Nacht oder mindestens ganz dunkel geworden war, schlüpfte dann durch die düsteren Straßen längs der Häuser hin, trat rasch in einen Laden, sprach mit leiser Stimme nur wenige Worte, bezahlte ohne zu feilschen und kehrte gesenkten Kopfes, die Augen zur Erde gerichtet, wieder um, als ob das arme Wesen sich geschämt hätte, von Anderen gesehen zu werden. Ging sie zur Kirche, so geschah das nur ganz früh, zur ersten Messe. Sie hielt sich dann abseits, in einer wenig erleuchteten Ecke, wo sie, wie ganz in sich zurückgezogen, kniete. Unter dem sie verhüllenden Schleier verhielt sie sich fast erschreckend still und regungslos. Man hätte sie für todt halten können, wenn sich nicht zuweilen ein schmerzlicher Seufzer ihrer Brust entrungen hätte. In ärmlichen, drückenden Verhältnissen schien diese seltsame Frau zwar nicht zu leben, und doch mußte sie allem Anscheine nach höchst unglücklich sein. Ein- oder zweimal hatten gute Seelen ihr beispringen, ihre Dienste anbieten, ihr Interesse er wecken und ihr einige Worte der Theilnahme zuflüstern wollen. Doch da hüllte sie sich nur tiefer in ihre Trauerkleidung und wich zurück, als ob sie selbst ein Gegenstand des Schreckens gewesen wäre.

Die Einwohner von St. Charles kannten diese Fremde, man hätte sagen können, diese Einsiedlerin, sonst ganz und gar nicht. Vor zwölf Jahren war sie nach dem Flecken gekommen, um das für ihre Rechnung zu sehr niedrigem Preise erkaufte Haus zu beziehen, denn die Gemeinde, der dasselbe gehörte, hatte es schon seit längerer Zeit ausgeboten und fand doch Niemand, der es haben wollte.[144]

Eines Tages hörte man, daß die neue Besitzerin während der Nacht angekommen und in ihre Wohnung gezogen sei, ohne daß sie Jemand hätte eintreten sehen. Man wußte nicht, wer ihr beim Transport des dürftigen Mobiliars geholfen haben mochte; sie miethete auch keine Magd, um ihr im Haushalte beizustehen. Niemals konnte Jemand bis zu ihr eindringen. So lebte sie jetzt, und so hatte sie seit ihrer Ankunft in St. Charles in strenger, fast klösterlicher Abgeschiedenheit gelebt. Die Mauern des geschlossenen Hauses glichen auch wirklich denen eines Klosters, das noch kein Unbefugter jemals betreten hatte.[145]

Die Bewohner des Fleckens suchten auch gar nicht das Leben dieser Frau zu durchschauen oder die Geheimnisse ihrer Existenz zu entschleiern. Während der ersten Tage nach ihrer Uebersiedlung hierher steckte man wohl ein wenig die Köpfe zusammen und es entstanden manche Redereien über die Besitzerin des geschlossenen Hauses.


Dieses Haus war dürftig und klein. (S. 144.)
Dieses Haus war dürftig und klein. (S. 144.)

Man vermuthete das und jenes, bald aber beschäftigte man sich nicht weiter mit ihr. Soweit es ihre Mittel gestatteten, erwies sie sich mildthätig gegen die Armen des Landes, und schon das sicherte ihr die Achtung Aller.

Ziemlich groß, doch etwas gebeugt, wohl mehr durch Kummer als durch das Alter, mochte die Fremde jetzt etwa fünfzig Jahre zählen. Unter dem Schleier, der sie zur Hälfte bedeckte, verbarg sich ein Gesicht, welches schön gewesen sein mußte, dafür zeugten noch die hohe Stirn und die schwarzen feurigen Augen. Ihr Scheitel freilich war ganz weiß; ihr Blick schien verschleiert von den unstillbaren Thränen, die denselben so lange gebadet hatten. Jetzt war der Ausdruck dieser sonst sanften und lächelnden Physiognomie der einer düsteren Entschlossenheit, eines unbeugsamen Willens.

Hätte die öffentliche Neugier sich etwas mehr befleißigt, das geschlossene Haus zu überwachen, so wäre der Beweis zu erbringen gewesen, daß sie sich doch nicht unbedingt jedem Gaste verschloß.

Drei- oder viermal des Jahres, allemal in der Nacht, öffnete sich die Pforte vor einem, manchmal vor zwei Fremden, welche freilich keine Vorsicht außer Acht ließen, ungesehen hierher und auch wieder fort zu kommen. Niemand hätte sagen können, ob sie nur wenige Stunden oder mehrere Tage in diesem Hause verweilten. Wenn sie es wieder verließen, so geschah das jedenfalls vor dem Tagesgrauen.

Niemand konnte also bezweifeln, daß diese seltsame Frau noch irgend welche Beziehungen mit der Außenwelt unterhielt. Ein solcher Fall trat in der Nacht des 30. September 1837 gegen elf Uhr ein. Die große, die ganze Grafschaft St. Hyazinthe von Ost nach West durchziehende Landstraße führt nach St. Charles und über dieses hinaus. Sie war zu jener Stunde menschenleer. Tiefe Dunkelheit umhüllte den eingeschlummerten Flecken. Kein Bewohner desselben konnte die beiden Männer sehen, welche auf dieser Straße herankamen, bis zu dem geschlossenen Hause schlichen, die Gitterthür des kleinen Vorhofes öffneten und dann in einer Weise an die Thür klopften, daß sich schon daraus ein verabredetes Erkennungszeichen verrieth.[146]

Die Thür öffnete sich und verschloß sich sofort wieder. Die beiden nächtlichen Besucher traten in das erste Zimmer zur Rechten, dessen schwache, von einer Art Nachtlicht erzeugte Beleuchtung außerhalb des Hauses nicht wahrgenommen werden konnte.

Die Insassin gab beim Erscheinen der beiden Männer gar keine Verwunderung zu erkennen. Diese drückten sie in die Arme und kamen ihr überhaupt mit rein kindlicher Zärtlichkeit entgegen.

Es waren Johann und Joann, jene Frau aber ihre Mutter, Bridget Morgaz. Niemand hätte daran gezweifelt, daß diese unglückliche Familie Canada verlassen habe, um in irgend einer Provinz Nord- oder Südamerikas oder gar in einem fernen Winkel Europas ein verborgenes Dasein zu fristen. Die von dem Verräther erlangte Geldsumme mußte ausreichen, ihm ein bequemes Leben zu sichern, wohin er sich auch zurückziehen mochte. Nahm er dann einen falschen Namen an, so entging er auch der Verachtung, die seinem eignen Namen in der ganzen Welt folgte.

Der Leser weiß schon, daß diese Vermuthungen irrige waren. Eines Abends hatte Simon Morgaz sich mit eigener Hand gerichtet, und kein Mensch ahnte, daß sein Leichnam an einer verlorenen Stelle des Nordufers am Ontario-See ruhte.

Bridget Morgaz, Johann und Joann hatten die ganze Furchtbarkeit ihrer Lage schnell begriffen. Waren die Mutter und die Söhne auch völlig schuldlos an dem Verbrechen des Gatten und Vaters, so herrschte auch gegen sie gewiß ein so grausames Vorurtheil, daß sie nirgends Mitleid und Vergebung gefunden haben würden. In Canada, wie an jedem anderen Punkte der Welt, mußte ihr Name allein ein nie schweigender, einstimmiger Vorwurf für sie bleiben. Sie beschlossen also auf diesen Namen zu verzichten, ohne an die Annahme eines anderen nur zu denken. Wozu hatten die Unglücklichen, denen das Leben nur noch Schmach und Schande zu bringen versprach, das auch nöthig?

Die Mutter und die Söhne entwichen aber doch nicht sofort aus dem Vaterlande. Ehe sie Canada verließen, hatten sie noch eine Aufgabe zu erfüllen, und dieser Aufgabe wollten sie sich, selbst um den Preis des Lebens, alle Drei widmen.

Ihre einzige Absicht ging nämlich dahin, das wieder gut zu machen, was Simon Morgaz an seinem Vaterlande verbrochen hatte. Ohne jenen von dem hinterlistigen Rip veranstalteten Verrath hätte die Verschwörung von 1825[147] die beste Aussicht auf Erfolg gehabt. Nach Gefangennahme des Gouverneurs und der englischen Truppenführer hätten die wenigen Soldaten der franco-canadischen Bevölkerung, die sich in Masse zu erheben bereit war, kaum Widerstand leisten können. Eine ehrlose Handlung hatte aber das Geheimniß der Verschwörung preisgegeben, und Canada war unter den Händen seiner Bedrücker geblieben.

Johann und Joann wollten also das durch den Verrath ihres Vaters unterbrochene Werk wieder aufnehmen. Bridget, deren muthige Entschlossenheit ganz der schrecklichen Lage gewachsen war, wies sie selbst darauf hin, daß das der einzige Zweck ihres Lebens sein könne. Sie verstanden das, die beiden Brüder, die jener Zeit erst siebzehn und achtzehn Jahre zählten. Und sie widmeten sich mit Leib und Seele dieser Aufgabe der Vergeltung.

Bridget Morgaz, von Anfang an entschlossen, nur von dem zu leben, was ihr von dem früheren Vermögen übrig blieb – wollte nichts von dem im Taschenbuche des Selbstmörders vorgefundenen Geld behalten. Diese Summe konnte und sollte zu nichts Anderem verwendet werden, als für die Bedürfnisse der nationalen Sache. So entstand das geheimnißvolle, den Händen des Meister Nick übergebene Depot. Ein Rest wurde zurückbehalten, um von Johann unmittelbar unter die Reformer vertheilt zu werden.

So hatten die Comités 1831 und 1835 die nöthige Summe zum Ankauf von Waffen und Schießbedarf erhalten, und 1837 wurde der Ueberrest jener zur Aufbewahrung gegebenen Summe dem Comité in der Villa Montcalm zugewendet und den Händen des Herrn de Vaudreuil anvertraut. Das war Alles, was von dem Preise des Verräthers noch übrig geblieben war.

In dem Hause zu St. Charles, wohin ihre Mutter sich zurückgezogen, sahen die Söhne sie im Geheimen, wenn ihnen das möglich wurde. Schon seit mehreren Jahren hatte Jeder seinen eigenen Weg eingeschlagen, um das nämliche Ziel zu erreichen.

Joann, der Aeltere, hatte sich gesagt, daß für ihn doch jedes irdische Glück verwelkt sei; unter dem Einflusse religiöser Vorstellungen, welche dem Allen entsprang, hatte er Priester, aber streitbarer Priester werden wollen. Er war in den Orden des heiligen Sulpice mit der Absicht eingetreten, die unwiderruflichen Rechte seiner Heimat mit dem Worte lebendig zu erhalten. Eine natürliche Beredtsamkeit im Verein mit einem glühenden Patriotismus zog die Bevölkerung der kleinen Städte und des Landes zu ihm heran. In der letzten[148] Zeit war sein Ruhm nur noch gewachsen und stand eben jetzt auf der höchsten Stufe.

Johann hatte sich der reformatorischen Bewegung zwar nicht mit der Macht der Rede, aber mit der That angeschlossen.

Obwohl der Aufstand 1831 ebensowenig geglückt war, wie der von 1835, so hatte sich sein Ansehen doch keineswegs vermindert. Die große Menge betrachtete ihn als den geheimnißvollen Anführer der Söhne der Freiheit. Er erschien zur Stunde, wo er mit seiner Person eintreten mußte, und verschwand ebenso, um sein Werk weiterzuführen. Der Leser weiß, zu welch' hohem Ansehen er sich in der Partei der liberalen Opposition emporgeschwungen hatte. Es schien fast, als ob die Sache der Unabhängigkeit in den Händen eines einzelnen Mannes, jenes Johann ohne Namen, wie er sich selbst nannte, läge und als ob die Patrioten von ihm allein das Zeichen zu einem neuen Aufstande erwarteten.

Die Stunde desselben war schon nahe. Noch einmal, bevor sie sich in dieses Unternehmen einließen, hatten Johann und Joann, welche der Zufall in Chambly zusammengeführt hatte, sich nach dem geschlossenen Hause begeben wollen, um ihre Mutter – vielleicht zum letzten Male – wiederzusehen.

Jetzt waren sie nun da, bei ihr, und saßen an ihrer Seite. Sie hielten ihre Hand und sprachen mit gedämpfter Stimme. Johann und Joann erklärten ihr, wie die Dinge jetzt lagen. Der Kampf mußte entsetzlich werden, wie jeder Verzweiflungskampf.

Durchdrungen von den Empfindungen, von denen ihr Herz überwallte, gab sich Bridget der Hoffnung hin, daß das Verbrechen des Vaters endlich durch die Söhne seine Sühne finden werde. Dann nahm sie das Wort:

»Mein Johann und mein Joann, sagte sie, ich muß wohl Eure Hoffnungen theilen, muß wohl an den Erfolg glauben.

– Ja, Mutter, wir dürfen daran glauben, antwortete Johann. Binnen wenigen Tagen wird die Bewegung ausbrechen...

– Und Gott gebe uns den Sieg, der jeder gerechten Sache zukommt, setzte Joann hinzu.

– Ja, Gott leihe uns seine Hilfe, erwiderte Bridget, und vielleicht werde ich endlich das Recht haben zu beten für...«

Bisher war niemals, nein, niemals ein Gebet gekommen über die Lippen dieser unglücklichen Frau für die Seele Desjenigen, der einst ihr Gatte gewesen war.[149]

»Mutter, sagte Joann, meine liebste Mutter...

– Und Du, mein Sohn, unterbrach ihn Bridget, hast Du jemals für Deinen Vater gebetet, der Du Diener des vergebenden Gottes bist?«

Joann senkte den Kopf ohne zu antworten.

Bridget fuhr fort:

»Meine Kinder, bisher habt Ihr Eure Schuldigkeit gethan, vergeßt aber nicht, wenn Ihr Euch opfert, so habt Ihr nur Eure Pflicht erfüllt. Und selbst, wenn unser Land Euch einmal unsere Unabhängigkeit verdankt, so darf der Name, den wir früher trugen, der Name Morgaz...

– Doch nicht mehr existiren, meine Mutter, vollendete Johann den Satz, für ihn giebt es keine Rehabilitation. Man kann ihm die Ehre nicht wieder geben, so wenig, wie man die Patrioten wieder zum Leben erwecken kann, die der Verrath unseres Vaters dem Schaffot überlieferte. Was wir, Joann und ich, thun, das geschieht nicht, um die an unserem Namen haftende Schmach abzuwaschen... Das, das wäre unmöglich!... Nein, für einen Handel wie diesen bemühen wir uns nicht. Unsere Bestrebungen gehen nur dahin, das unserem Lande geschehene Unrecht wieder gut zu machen, nicht das, welches uns selbst getroffen hat... nicht wahr, Joann?

– Ja, bestätigte der junge Geistliche. Wenn Gott auch vergeben kann, so weiß ich doch, daß das den Menschen versagt ist, und so lange die Ehre noch eine sociale Anforderung bleibt, wird unser Name zu denen gehören, welche die Verachtung der Allgemeinheit trifft.

– Man wird also niemals vergessen können?... sagte Bridget, die ihre Söhne auf die Stirn küßte, als hätte sie das untilgbare Schandmal darauf verlöschen wollen.

– Vergessen! rief Johann. Geh' nur einmal nach Chambly, Mutter, und Du wirst sehen, ob die Vergessenheit...

– Johann, unterbrach ihn Joann schnell, schweig still!

– Nein, Joann... unsere Mutter muß es wissen!... Sie hat Seelenstärke genug, um Alles zu hören, und ich kann ihr nicht die Hoffnung auf Wiedererlangung allgemeiner Achtung, welche unmöglich ist, lassen!«

Und mit leiser Stimme, in abgebrochenen Worten, berichtete er, was nur wenige Tage vorher in dem Flecken Chambly, der Wiege der Familie Morgaz, und vor den Ruinen seines Vaterhauses geschehen war.[150]

Bridget hörte ihm zu, ohne daß eine Thräne ihre Augen netzte. Sie hatte schon das Weinen verlernt.

Doch sollte es denn wahr sein, daß eine solche Lage ohne Ende andauern konnte? War es möglich, daß die Erinnerung an einen Verrath unvergeßlich und daß die Verantwortung für ein Verbrechen auch auf Unschuldigen lasten blieb? Stand es denn im menschlichen Bewußtsein geschrieben, daß der Fleck, der auf den Namen einer Familie gefallen, niemals wieder verwischt werden konnte?

Eine kurze Zeit wurde zwischen der Mutter und den beiden Söhnen kein Wort gewechselt; sie sahen einander nicht einmal an, und ihre Hände hatten sich von einander gelöst. Alle litten schrecklich. Ueberall also, nicht allein in Chambly, würden sie Parias sein, »Outlaws«, welche die Gesellschaft von sich stößt, welche sie sozusagen außerhalb der Gemeinschaft der Menschen hinstellt.

Gegen drei Uhr nach Mitternacht dachten Johann und Joann daran, ihre Mutter zu verlassen. Sie wollten jedenfalls wieder fortgehen, ohne die Gefahr, gesehen zu werden. Ihre Absicht ging auch dahin, sich gleich vor der Ortschaft zu trennen. Es schien von Wichtigkeit, daß sie Niemand zusammen auf der Straße sah, auf welcher sie durch die ganze Grafschaft zogen. Niemand sollte wissen, daß die Thür des geschlossenen Hauses sich diese Nacht vor den einzigen Besuchern, welche je seine Schwelle überschritten, geöffnet hatte.

Die beiden Brüder hatten sich erhoben. Im Augenblicke einer Trennung, welche vielleicht ewig andauern sollte, empfanden sie es doppelt, wie die Bande der Familie sie aneinander knüpften. Zum Glück hatte Bridget keine Ahnung davon, daß auf den Kopf Johanns ein Preis ausgesetzt war.


Sie waren da, bei ihr, und saßen an ihrer Seite. (S. 149.)
Sie waren da, bei ihr, und saßen an ihrer Seite. (S. 149.)

Wenn das auch Joann bekannt war, so hatte diese schreckliche Nachricht mindestens noch nicht in die Einsamkeit des geschlossenen Hauses zu dringen vermocht. Johann wollte seiner Mutter natürlich nichts davon sagen; was hätte es auch nützen können, deren Schmerzen noch zu verschlimmern, und hätte Bridget es zu anderem Zwecke erfahren, als um die Angst und Sorge, ihren Sohn niemals wiederzusehen, nur noch zu vergrößern?

Der Augenblick der Trennung war gekommen.

»Wohin wendest Du Dich, Joann? fragte Bridget.

– Nach den Kirchspielen im Süden, antwortete der junge Priester. Dort denke ich die Stunde abzuwarten, mich meinem Bruder anzuschließen, wenn dieser sich an die Spitze der canadischen Patrioten gesetzt hat.[151]

– Und Du, Johann?

– Ich begebe mich nach dem Pachthofe zu Chipogan, in der Grafschaft Laprairie, erklärte Johann. Dort werd' ich meine Genossen finden, und dort müssen wir noch die letzten Maßregeln besprechen... inmitten jener reinen Familienfreuden, die uns versagt sind, meine geliebte Mutter! Die braven Leute daselbst haben mich wie einen Sohn aufgenommen.... Sie würden ihr Leben für das meinige hingeben!... Und doch, wenn sie erführen, wer ich bin, welchen Namen ich trage...! Ach, wie elend sind wir doch, wir, deren[152] Berührung schon als eine Schande gilt!... Sie werden aber nichts erfahren... weder sie noch irgend Jemand!«

Johann war auf den Stuhl zurückgesunken und preßte, vernichtet von einer Last, die er alle Tage schwerer fühlte, die Hände vor das Gesicht.


Im Dorfe Walhatta. (S. 157.)
Im Dorfe Walhatta. (S. 157.)

»Steh' auf, Bruder, sagte Joann. Sieh, das bringt Dir Versöhnung, daß Du stark genug bist, um leiden zu können!... Komm', steh' auf, wir wollen weiterziehen!

– Und wann werde ich Euch wiedersehen, Kinder? fragte Bridget.[153]

– Hier nicht mehr, liebste Mutter, antwortete Johann. Wenn wir obsiegen, so verlassen wir alle Drei dieses Land... und gehen weit, weit weg... wo Niemand uns erkennen kann. Wenn wir Canada seine Unabhängigkeit wiedergeben, so soll es doch nimmer erfahren, was es den Söhnen Simon Morgaz' schuldet... Nein... niemals!

– Und wenn Alles verloren ist? fuhr Bridget fort.

– Dann, meine gute, liebste Mutter, dann sehen wir uns weder in diesem Lande, noch in einem anderen wieder... dann sind wir nicht mehr unter den Lebenden!«

Die beiden Brüder warfen sich zum letzten Male in die Arme ihrer Mutter. Dann öffnete sich die Thür und schloß sich wieder.

Noch etwa hundert Schritte machten Johann und Joann auf der Landstraße zusammen, dann trennten sie sich mit einem letzten Blicke auf das geschlossene Haus, in dem eine Mutter für ihre Söhne betete.

Quelle:
Jules Verne: Die Familie ohne Namen. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LVII–LVIII, Wien, Pest, Leipzig 1893, S. 143-154.
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