[224] Die Vorgänge auf der Farm von Chipogan machten erklärlicher Weise überall großes Aufsehen. Von der Grafschaft Laprairie aus hatte sich die Nachricht davon durch die Provinzen Canadas verbreitet. Die öffentliche[224] Meinung fand kaum eine bessere Gelegenheit, sich offen kundzugeben. Handelte es sich doch nicht allein um einen Zusammenstoß zwischen Polizei und »Bewohnern« des Landes – einen Zusammenstoß, bei dem die Vertreter der Behörden und die Kronfreiwilligen den Kürzeren gezogen hatten. Ernster war jedenfalls der Umstand, der die Absendung einer Polizeimacht nach Chipogan veranlaßt hatte. Johann ohne Namen war eben wieder im Lande aufgetaucht. Der Minister Gilbert Argall wollte ihn, auf die Meldung von seinem Aufenthalte in der Farm, verhaften lassen. Dieser Versuch mißglückte; die Person, in der sich der nationale[225] Widerstand verkörperte, war frei und man ahnte, daß der Mann in nächster Zeit schon Gebrauch von seiner Freiheit machen werde.
Wohin Johann ohne Namen sich nach seinem Weggange von Chipogan gewendet, konnten die eifrigsten, die peinlichsten und strengsten Nachforschungen nicht aufklären. Sein dermaliger Aufenthaltsort war und blieb Geheimniß. Immerhin verzweifelte Rip, wenn er über den Mißerfolg seiner Maßregeln natürlich auch verbittert war, keineswegs daran, sich noch dafür zu rächen. Außer dem persönlichen Interesse kam hierbei ja auch die Ehre seines Hauses ins Spiel; er wollte die Partie fortsetzen, bis sie für ihn gewonnen wäre. Die Colonialregierung wußte ja, woran sie mit ihm war, und hatte ihm niemals ihr Vertrauen entzogen, noch es an Unterstützung fehlen lassen. Jetzt kannte Rip übrigens den jungen Patrioten, dem er Auge in Auge gegenüber gestanden hatte, und er brauchte nicht mehr als Blinder seinen Spuren nachzugehen.
Seit dem gescheiterten Angriff auf Chipogan waren vierzehn Tage – vom 7. bis zum 23. – vergangen. Die letzte Woche des November nahte schon ihrem Ende, und Rip hatte trotz seiner Bemühungen eigentlich noch nichts erzielt.
Nach den Vorfällen, deren Schauplatz die Farm gewesen war, hatte sich übrigens Folgendes zugetragen:
Am nächsten Tage hatte sich Thomas Harcher gezwungen gesehen, Chipogan zu verlassen. Nachdem er die dringlichsten Angelegenheiten in aller Eile nothdürftig geordnet, war er mit seinen Söhnen tief in die Wälder der Grafschaft Laprairie eingedrungen und hatte sich nach Ueberschreitung der amerikanischen Grenze in einem nahegelegenen Dorfe aufgehalten, voller Ungeduld der Wendung entgegensehend, welche die Ereignisse in Canada nehmen sollten. St. Albans am Ufer des Champlain-Sees bot ihm alle wünschenswerthe Sicherheit; die Söldlinge Gilbert Argall's konnten ihn hier nicht erreichen.
Wenn die von Johann ohne Namen vorbereitete Volksbewegung Erfolg hatte, wenn Canada, indem es seine Selbstbestimmung erlangte, der angelsächsischen Unterdrückung ledig ward, wollte Thomas Harcher ruhig nach Chipogan zurückkehren. Scheiterte die Bewegung aber, so konnte er hoffen, daß man mit der Zeit die früheren Vorfälle vergessen werde. Ohne Zweifel mußte nämlich eine Amnestie frühere Thaten ungeschehen machen, und Alles verlief dann allmählich wieder wie früher.
Vorläufig war mindestens eine Herrin in der Farm zurückgeblieben. Während des Winters, der ja doch die Landarbeit unterbrach, konnten die Interessen des[226] Herrn de Vaudreuil auch unter der Leitung Catherine Harcher's nicht geschädigt werden.
Pierre und seine Brüder übten natürlich nach wie vor ihr Geschäft als Jäger in den benachbarten Gebieten der canadischen Colonie, und nach sechs Monaten verhinderte sie voraussichtlich nichts, wieder zum Fischfang zwischen den beiden Ufern des St. Lorenzo auszuziehen.
Thomas Harcher hatte nur zu recht daran gethan, sich in Sicherheit zu bringen. Schon nach vierundzwanzig Stunden war Chipogan durch eine Abtheilung regulärer Truppen, welche von Montreal kamen, militärisch besetzt. Catherine Harcher, welche für ihren Mann und ihre älteren Söhne nichts mehr zu fürchten hatte, ließ sich dadurch nicht außer Fassung bringen. Die Polizei, welche auf Befehl des General-Gouverneurs möglichst Nachsicht übte, ließ sie das Vergangene nicht entgelten. Im Uebrigen wußte die energische Frau, sich und den Ihrigen seitens der Soldaten schon den nöthigen Respect zu verschaffen.
Mit der Villa Montcalm lag es ganz ebenso wie mit der Farm von Chipogan, doch begnügte sich die Behörde, dieselbe überwachen zu lassen, ohne sie direct zu besetzen. Herr de Vaudreuil, der ja nachgewiesenermaßen für den jungen Patrioten Partei ergriffen, hatte sich auch gehütet, nach seiner Wohnung auf der Insel Jesus zurückzukehren, zumal da ein Haftbefehl gegen ihn vom Polizeiminister Gilbert Argall ergangen war. Wäre er nicht entflohen, so hätte man ihn im Gefängniß von Montreal eingekerkert und er hätte nicht in die Reihen der Aufständischen treten können, wenn es zum Kampfe kam. Wahrscheinlich hatte er bei einem seiner politischen Freunde Zuflucht gefunden; jedenfalls aber hatte er sich dahin mit größter Vorsicht begeben, denn es war unmöglich, das Haus zu entdecken, das ihm jetzt Obdach bieten mochte.
Clary de Vaudreuil kehrte allein nach der Villa Montcalm zurück. Von hier aus blieb sie in Verbindung mit den Herren Vincent Hodge, Farran, Clerc und Grammont.
Betreffs Johanns ohne Namen wußte sie, daß dieser sich in St. Charles bei seiner Mutter in Sicherheit gebracht hatte. Zu wiederholten Malen erhielt sie übrigens durch Freundeshand mehrere Briefe von ihm; doch wenn Johann sich in denselben meist nur über die politische Lage aussprach, fühlte sie recht gut heraus, daß auch noch eine andere Empfindung das Herz des jungen Patrioten beunruhigte.
Wir hätten nun schließlich mitzutheilen, was aus Meister Nick und seinem Schreiber geworden war.[227]
Der Leser hat nicht vergessen, welchen Antheil die Huronen bei dem Ereignisse auf der Farm von Chipogan nahmen. Ohne ihre Einmischung wären die Freiwilligen nicht zurückgedrängt worden und Johann ohne Namen wäre den Leuten Rip's in die Hände gefallen.
Doch wer hatte jene Intervention der Mahogannis veranlaßt? War es der friedfertige Notar von Montreal gewesen?... Nein, gewiß nicht! Sein Bemühen war ja einzig und allein auf die Verhütung jedes Blutvergießens gerichtet gewesen, er hatte sich nur in das Getümmel gewagt, um die kämpfenden Parteien aufzuhalten. Wenn sich die Krieger von Walhatta gerade in dem Augenblicke in den Kampf einmengten, so erfolgte das nur deshalb, weil Nicolas Sagamore, dem die Belagerer übel genug mitspielten, Gefahr lief, von diesen ebenfalls als Rebell behandelt zu werden. Da war es denn ganz natürlich, daß die indianischen Krieger zur Vertheidigung ihres Häuptlings herbeieilten. Hierdurch wurde freilich erst das Zurückweichen und die Versprengung der Angreifer gerade zur Zeit bewirkt, wo diese die Thür der Wohnung zu forciren im Begriff waren. Von hier aus betrachtet, war es ja nur ein Schritt bis zu seiner Verhaftung, und Meister Nick mußte mit Recht fürchten, daß dieser Schritt zum Nachtheile seiner eigenen Person nicht ausbleiben werde.
Hieraus ergibt sich, daß der würdige Notar alle Ursache hatte, sich wegen einer einfachen Schlägerei gelegentlich einer Verhaftung, die ihn gar nichts anging, sehr schwer compromittirt zu sehen. In der löblichen Absicht, nach seiner Expedition in Montreal nicht eher zurückzukehren, als bis sich die Wogen der Erregung über jene tumultuarischen Vorgänge einigermaßen gelegt hätten, ließ er sich ohne viel Widerstreben nach dem Dorfe Walhatta in den Wigwam seiner Ahnen entführen. Sein Bureau blieb also während eines Zeitraums, dessen Dauer unmöglich abzuschätzen war, geschlossen. Wohl mußte seine Kundschaft darunter leiden und die alte Dolly zur Verzweiflung getrieben werden. Doch was war andres zu thun? Es schien doch immer noch besser, Nicolas Sagamore inmitten seines Mahoganni-Stammes, als Meister Nick im Gefängniß von Montreal zu sein, auf welch' Letzterem die Beschuldigung der thatsächlichen Auflehnung gegen die Vertreter der Staatsgewalt lastete.
Selbstverständlich war Lionel seinem Herrn und Meister nach jenem, in den dichten Wäldern der Grafschaft Laprairie verlorenen Indianerdorfe gefolgt. Er hatte sich in bester Form gegen die Freiwilligen geschlagen und hätte einer harten Strafe nicht entgehen können. Doch wenn Meister Nick in petto lamentirte,[228] so jubelte Lionel über die Wendung, welche die Sache genommen hatte. Er bedauerte es keineswegs, Johann ohne Namen, den Helden, dem alle französischen Canadier zujauchzten, vertheidigt zu haben. Er hoffte sogar auf eine noch weitere Entwicklung der Dinge und darauf, daß sich die Indianer offen zu Gunsten der Insurgenten erklären würden. Meister Nick war ja nicht mehr Meister Nick, sondern wohlbestallter Huronenhäuptling; Lionel war nicht mehr sein zweiter Schreiber, sondern die rechte Hand des letzten der Sagamores.
Es war vielleicht zu befürchten, daß der General-Gouverneur auch die Mahogannis wegen ihrer damaligen Einmischung in Chipogan zur Strafe ziehen wollte, doch legte die einfache Klugheit, welche die Umstände ihm aufdrängten, dem Lord Gosford eine gewisse Zurückhaltung auf. Repressalien seinerseits hätten den eingebornen Indianerstämmen nur Gelegenheit geboten, ihren Brüdern zu Hilfe zu kommen und sich in Masse zu erheben – eine unter den vorliegenden Verhältnissen immerhin zu fürchtende Erschwerung der Sachlage. Aus diesem Grunde hielt es Lord Gosford für angezeigt, die Krieger von Walhatta ebensowenig wie deren neuen Häuptling, der nach dem Rechte der Erbfolge an ihre Spitze gerufen worden war, zu verfolgen, und so wurden Meister Nick und Lionel an ihrem neuen Zufluchtsorte nicht weiter belästigt.
Im Uebrigen behielt Lord Gosford das Verhalten der Reformer, welche unablässig die Kirchspiele von Ober- und Unter-Canada aufzuwiegeln strebten, mit größter Aufmerksamkeit im Auge. Gerade der Bezirk von Montreal wurde von der Polizei mit schärfster Wachsamkeit beobachtet, da diese eine aufständische Bewegung in den benachbarten Kirchspielen von Richelieu erwartete. Wenn es unmöglich wäre, derselben ganz zuvorzukommen, so waren doch alle Maßregeln getroffen, eine solche im Keime zu ersticken. Die Truppen der königlichen Armee, über welche John Colborne verfügen konnte, hatten ihre Cantonnements in den Gebieten der Grafschaft Montreal und der angrenzenden Grafschaften bezogen. Die Anhänger der Reform wußten also recht gut, daß ihnen ein ernster Kampf bevorstand. Doch das vermochte ihren Eifer nicht zu zügeln. Die nationale Sache, so hofften sie, werde schon die gesammte franco-canadische Bevölkerung mit sich fortreißen. Diese erwartete nur noch das Signal zu den Waffen zu eilen, seit die Vorgänge in Chipogan die Anwesenheit Johanns ohne Namen außer Zweifel gestellt hatten. Wenn der volksthümliche Held jenes noch nicht gegeben, so lag das nur daran, daß die antiliberalen Beschlüsse, deren sich derselbe seitens des britischen Cabinets versah, bisher noch nicht gefaßt worden waren.[229]
Bis dahin hörte Johann niemals auf, von dem geheimnißvoll geschlossenen Hause aus, in dem er seine Mutter aufgesucht hatte, aufmerksam die Stimmung der Massen zu beobachten. Während der seit seinem Eintreffen in St. Charles verflossenen sechs Wochen war auch der Abbé Joann wiederholt mitten in der Nacht erschienen, um ihn zu besuchen. Durch seinen Bruder blieb er über die politische Lage stets unterrichtet. Was er von den zu Gewaltmaßregeln drängenden Beschlüssen der englischen Kammern hoffte, das heißt, die Aufhebung der Verfassung von 1791 und, daran anschließend, die Auflösung oder Vertagung der canadischen Volksvertretung, bestand bisher nur im Projecte.
In seinem Eifer war Johann wohl schon zwanzigmal nahe daran, das geschlossene Haus zu verlassen, um mit offenem Visir durch die Grafschaft zu ziehen und die Patrioten aufzurufen, in der Hoffnung, daß die Einwohnerschaft der Städte und des platten Landes sich auf seine Stimme erheben werde, daß Alle den besten Gebrauch von den Waffen machen würden, mit denen er bei Gelegenheit der letzten Fischzugsfahrt auf dem St. Lorenzo die reformistischen Sammelpunkte hatte versehen können. Wurden die Königstreuen gleich zu Anfang durch eine große Uebermacht erdrückt, so blieb, seiner Ansicht nach, der Regierung keine andere Wahl als sich zu unterwerfen. Der Abbé Joann hatte ihm aber von einem solchen Versuch abgeredet, indem er ihm nachwies, daß ein anfänglicher Fehlschlag verderblich werden und voraussichtlich die auf die Zukunft gesetzten Hoffnungen gänzlich zu Schanden machen müsse. In der That waren die rings um Montreal vereinigten Truppen bereit, sich sofort nach jedem beliebigen Punkte der angrenzenden Grafschaften, wo die Empörung nur ausbrechen mochte, zu begeben.
Es galt also mit äußerster Vorsicht zu handeln und es erschien besser, zu warten, bis die allgemeine Entrüstung durch die tyrannischen Maßnahmen des Parlaments und durch die Quälereien der Kronbeamten den höchsten Gipfel erreicht hätte. Daher kamen jene Verzögerungen, welche sich unabsehbar zum größten Leidwesen der Söhne der Freiheit verlängerten.
Als Johann von Chipogan entfloh, rechnete er darauf, daß der Monat October nicht vergehen werde, ohne daß es zu einem allgemeinen Aufstand in ganz Canada käme.
Auch am 23. October deutete noch nichts darauf hin, daß diese Erhebung nahe bevorstehe, als die von Johann vorhergesehene Gelegenheit es zu einer ersten Kundgebung kommen ließ.[230]
Entsprechend dem Berichte der drei neuerdings von der englischen Regierung ernannten Commissäre hatte sich das Haus der Lords und das der Gemeinen beeilt, folgende Vorschläge anzunehmen: Verwendung der Colonialeinkünfte ohne weitere Vollmacht seitens der canadischen Volksvertretung, Versetzung der hervorragendsten reformistischen Abgeordneten in Anklagezustand, Abänderung der Verfassung dahin, daß der französische Wähler einem doppelt so hohen Census wie der englische unterliege, und endlich Unverantwortlichkeit der Minister gegen die Kammer.
Diese ungerechten und gewaltthätigen Maßregeln erregten das ganze Land; die ganze franco-canadische Race fühlte sich in ihren patriotischen Empfindungen aufs tiefste verletzt. Das war mehr als die Bürger vertragen konnten, und die Kirchspiele von beiden Ufern des St. Lorenzo traten zu Meetings zusammen.
Am 15. September findet in Laprairie eine Versammlung statt, welcher auch ein Abgesandter Frankreichs, der von seiner Regierung Verhaltungsbefehle gegenüber dieser Angelegenheit empfangen hatte, und außerdem der Geschäftsträger der Vereinigten Staaten in Quebec beiwohnte.
In St. Scholastique, in St. Ours und vor Allem in den Grafschaften Unter-Canadas verlangt man die sofortige Losreißung von Großbritannien, fordert die Reformer auf, von Worten zu Thaten überzugehen, und entscheidet man sich dafür, die Hilfe Amerikas anzurufen.
Eine Kasse wird gegründet, um die geringfügigsten wie die größten Zuwendungen zur Durchführung der nationalen Sache zu sammeln.
Verschiedene Abtheilungen ziehen mit fliegendem Banner umher, auf dem sich mit hellem Jubel begrüßte Inschriften, wie:
»Flieht Ihr Tyrannen! Das Volk ist aufgestanden!«
»Ein Bund der Völker – der Schrecken der Großen!«
»Lieber ein baldiger Kampf, als die Unterdrückung durch eine corrumpirte Staatsgewalt!« – befinden.
Eine schwarze Fahne mit Todtenkopf und gekreuzten Gebeinen darunter enthielt die Namen der verabscheuten Gouverneure Craig, Dalhousie, Aylmer und Gosford. Endlich zeigt ein weißes Banner zu Ehren Frankreichs auf der einen Seite den von Sternen umgebenen amerikanischen, auf der anderen den canadischen Adler mit dem Ahornzweige im Schnabel und mit den Worten:
»Unsere Zukunft! Frei wie die Himmelsluft!«[231]
Man erkennt hieraus, bis zu welchem Grade die Geister schon erhitzt waren. England kann die Befürchtung hegen, daß die Colonie mit einem Schlage das Band zerreißt, das sie mit ihm verbindet. Die Vertreter seiner Autorität in Canada ergreifen die umfassendsten Maßregeln in Voraussicht eines erbitterten Kampfes, versteifen sich aber darauf, da nur die Schliche einer Fraction zu erkennen, wo es sich um die heiligsten nationalen Empfindungen handelt.
Am 23. October findet eine Versammlung in St. Charles statt, in demselben Flecken, in dem Johann ohne Namen sich zu seiner Mutter geflüchtet und welcher der Schauplatz von beklagenswerthen Ereignissen werden sollte. Die sechs Grafschaften Richelieu, St. Hyazinthe, Rouville, Chambly, Verchère und Acadien haben hierzu ihre Vertreter geschickt. Dreizehn Abgesandte nehmen bei dieser Gelegenheit das Wort, und unter ihnen Papineau, der gerade jenerzeit auf dem Gipfel seiner Popularität stand. Mehr als sechs tausend Personen, Männer, Frauen und Kinder, strömen aus dem Umkreise von zehn Lieues zusammen und lagern sich auf einer großen, dem Doctor Duvert gehörigen Wiese rings um eine mit der Freiheitsmütze gekrönte Säule. Und um Jedermann zu zeigen, daß auch militärische Elemente mit den bürgerlichen gemeinschaftliche Sache machen, schwingt eine Compagnie Milizen ihre Waffen am Fuße jener Säule.
Nach anderen mehr Feuer und Flamme speienden Rednern hielt Papineau einen Vortrag, der vielleicht etwas zu gemäßigt erschien, da er anrieth, sich mit allen Maßnahmen auf gesetzlichem Boden zu halten. Der Doctor Nelson, als Vorsitzender der Versammlung, antwortete ihm auch unter wahnsinnigen Beifallsrufen mit den Worten: »daß die Zeit herangekommen sei, die Löffel einzuschmelzen, um Kugeln daraus zu gießen.« Das bekräftigte Doctor Côte, der Vertreter von Acadien, noch mit den entschlossenen und aufreizenden Worten:
»Die Zeit der Verhandlungen ist vorüber! Jetzt gilt es unsere Feinde mit Blei zu begrüßen!«
Dreizehn Vorschläge gelangen zur Annahme, während die Hurrahs des Volkes sich mit den Gewehrsalven der Miliz vermischen.
Diese Vorschläge, welche O. David in seiner Schrift »Die Patrioten« wiedergibt, enthalten zuerst einen Hinweis auf die unveräußerlichen Menschen rechte, erläutern dann das Recht und die Nothwendigkeit, sich gegen eine tyrannische Regierung aufzulehnen, suchen die Soldaten der englischen Armee zur Fahnenflucht zu verleiten, ermuntern das Volk, den Behörden und den von der[232] Regierung ernannten Milizofficieren den Gehorsam zu verweigern und endlich sich gleich den Söhnen der Freiheit zu organisiren.
Zuletzt bewegen sich Papineau und seine Gefährten im feierlichen Aufzuge an der symbolischen Säule vorüber, während durch einen Chor junger Leute mit lauter Stimme ein Hymnus gefangen wird.
Jetzt schien es, als ob die Begeisterung den höchsten Grad erreicht hätte, und doch sollte sie sich noch weiter steigern, als nach einigen Minuten größerer Ruhe eine neue Persönlichkeit auf den Schauplatz trat. Es war das ein junger[233] Mann mit leidenschaftlichen Blicken und energischen Gesichtszügen. Er erklimmt den Sockel der Säule, und so die Tausende von Theilnehmern an der Versammlung von St. Charles überragend, schwingt seine Hand die Fahne der canadischen Unabhängigkeit. Verschiedene erkennen ihn wieder. Vor ihnen aber hat der Advocat Grammont seinen Namen ausgerufen und unter dröhnenden Hurrahs wiederholt die Menge: »Johann ohne Namen! Johann ohne Namen!«
Johann kam eben aus dem geschlossenen Hause. Zum ersten Male seit dem letzten Waffentanze im Jahre 1834 zeigte er sich hier öffentlich; nachdem er dann seinen Namen dem der übrigen Politiker hinzugefügt, verschwand er wieder... Man hatte ihn jedoch einmal wieder gesehen, und die Wirkung davon war eine ungeheuere.
Die einzelnen Ereignisse, welche sich in St. Charles zugetragen hatten, verbreiteten sich mit Windeseile über ganz Canada. Man könnte sich nur schwer eine Vorstellung machen von der ermuthigenden Wirkung, die sie erzeugten. In den meisten Kirchspielen des Bezirks wurden nun weitere Versammlungen abgehalten. Vergebens suchte der Bischof von Montreal, Mgr. Lartigue, die Gemüther zu besänftigen, indem er sie zu evangelischer Mäßigung und zum Verharren auf dem Boden der Gesetze ermahnte. Der Ausbruch stand jetzt nahe bevor. Sowohl Herr de Vaudreuil in seinem Versteck als auch Clary in der Villa Montcalm waren durch zwei Billets, deren Unterschrift ihnen den Absender verrieth, davon benachrichtigt worden. Dieselbe Mittheilung hatten Thomas Harcher und seine Söhne in St. Albans, jenem amerikanischen Dorfe erhalten, in dem sie des Augenblickes harrten, die Grenze wieder zu überschreiten.
Zu dieser Jahreszeit hatte sich der Winter schon mit der dem amerikanischen Klima eigenthümlichen Schroffheit angemeldet. Hier bieten die endlosen Ebenen dem aus den Polargegenden herabbrausenden Sturme keine Hindernisse, und der nach Europa zu abweichende Golfstrom erwärmt sie nicht mit seinem segenspendenden Gewässer. Hier fehlte es also sozusagen an jedem Uebergang zwischen der Wärme des Sommers und der Kälte der Winterperiode. Fast ohne Unterlaß strömte der Regen herab, nur selten unterbrochen von einem flüchtigen, doch jeder Wärme beraubten Sonnenstrahl. Binnen wenigen Tagen hatten die bis zum äußersten Ende ihrer Zweige kahl gewordenen Bäume die Erde mit einer Unmenge von Blättern bedeckt, über welche sich im ganzen Gebiete Canadas bald darauf eine dichte Schneeschicht ablagern sollte. Doch weder die Wucht des[234] Sturmes, noch die kalte Temperatur des Klimas sollte die Patrioten abhalten, sich auf das erste Signal zu erheben.
Unter solchen Verhältnissen kam es – am 6. November – zwischen den beiden Parteien in Montreal zu einem ersten Zusammenstoße.
Am ersten Montage jeden Monats versammelten sich die Söhne der Freiheit in den größeren Städten zu einer öffentlichen Kundgebung. An genanntem Tage beabsichtigten die Patrioten von Montreal dieser Demonstration eine weiter hinausreichende Wirkung zu verleihen. Es wurde deshalb ein Zusammentreffen im Herzen der Stadt selbst, zwischen den Mauern eines an die Straße St. Jacques stoßenden Hofes, verabredet.
Auf diese Nachricht hin ließen die Mitglieder des Doric-Clubs einen Anschlag des Inhalts verbreiten, daß die Stunde gekommen sei, »die Rebellion in ihrem Keime zu ersticken«. Die Loyalisten, die Constitutionellen und die Bureaukraten wurden veranlaßt, sich auf dem Place-d'Armes einzufinden.
Die Volksversammlung wurde am bestimmten Tage und Orte abgehalten. Papineau erntete hier wie der den gewohnten stürmischen Beifall; auch andere Redner, wie Brown, Guimet, Eduard Rodier riefen begeisterte Zustimmung hervor.
Plötzlich fiel ein Hagel von Steinen in den Hof, die Loyalisten waren es, welche die Patrioten angriffen. Nur mit Stöcken bewaffnet, bildeten letztere vier Colonnen, stürmten nach außen, warfen sich auf die Mitglieder des Doric-Club und drängten diese im ersten Anlauf bis nach dem Place-d'Armes zurück. Jetzt knallten von verschiedenen Seiten auch Pistolenschüsse. Brown erhielt einen gefährlichen Schuß, der ihn zu Boden streckte, und einem der entschiedensten Reformer, dem Chevalier de Lorimier, wurde der Schenkel durch eine Kugel zerschmettert.
Obwohl sie zurückgeschlagen worden waren, hielten sich die Mitglieder des Doric-Club noch nicht für besiegt. Unter dem Beifall der Bureaukraten und dem Bewußtsein, daß ihnen die Rothröcke bald zu Hilfe kommen mußten, zerstreuten sie sich in die Straßen von Montreal, warfen mit Steinen die Fenster von Papineau's Haus ein und zerstörten die Druckpressen des »Vindicator«, eines liberalen Blattes, welches schon seit längerer Zeit für die franco-canadische Sache in die Schranken trat.
In Folge dieses Handgemenges wurden die Patrioten von den Behörden in schlimmster Weise gemaßregelt. Auf Anordnung des Lord Gosford ergehende Haftbefehle zwangen die bedeutendsten Führer, vorläufig zu flüchten. Uebrigens[235] öffneten sich diesen alle Häuser, um ihnen Obdach zu bieten. Herr de Vaudreuil, der gleichfalls mit seiner Person eingetreten war, mußte den geheimen Zufluchtsort wieder aufsuchen, wo ihn die Polizei seit den Ereignissen von Chipogan vergeblich zu entdecken bemüht war.
Dasselbe war mit Johann ohne Namen der Fall, obwohl dieser bald darauf unter folgenden Umständen wieder erschien.
Nach dem blutigen Zusammentreffen am 6. November waren einige hervorragende Bürger in der Umgebung von Montreal inhaftirt worden, unter Anderen ein gewisser Denaray und der Doctor Davignon von St. Jean d'Iberville, und diese beiden wollte eine Cavallerieabtheilung im Laufe des 22. November nach der Stadt bringen.
Einer der kühnsten Parteigänger der nationalen Sache, der Vertreter der Grafschaft Chambly, L. M. Viger – »der schöne Viger«, wie man ihn in den Reihen der Aufständischen nannte – erhielt von der Verhaftung seiner beiden Freunde Nachricht. Der Mann, der ihm diese überbrachte, war ihm bisher unbekannt.
»Wer sind Sie? fragte er.
– Darauf kommt ja nichts an, antwortete jener Mann. Die in einem Wagen gefesselten Gefangenen werden unverzüglich durch das Kirchspiel Longueuil kommen, und sie müssen befreit werden!
– Sie sind allein?
– Meine Freunde erwarten mich.
– Wo werden diese uns treffen?
– Unterwegs.
– Ich folge Ihnen.«
Das geschah denn auch. An Hilfsmannschaften fehlte es weder Viger noch seinem Begleiter. Sie gelangten nach dem Eingange von Longueuil, gefolgt von einer Anzahl von Patrioten, die sie noch vor dem Dorfe zurückließen. Es mußte jedoch etwas von ihrem Vorhaben verlautet haben, denn schon kam eine Abtheilung königlicher Truppen herbei, um den den Wagen begleitenden Reitern Unterstützung zu gewähren. Ihr Anführer ließ den Einwohnern ansagen, daß das Dorf, im Fall sie sich Viger anschlössen, in Flammen aufgehen würde.
»Hier ist nichts zu machen, sagte der Unbekannte, als er von diesen Maßnahmen hörte. Kommen Sie...
– Wohin denn? fragte Viger.[236]
– Folgen Sie mir nur bis zwei Meilen von Longueuil, antwortete er. Wir wollen den Bureaukraten keinen Anlaß geben, hier Wiedervergeltung zu üben. Diese wird so wie so früher oder später nicht ausbleiben.
– Brechen wir auf!« sagte Viger.
Gefolgt von ihren Leuten, schlugen Beide wieder den Weg über die Felder ein.
Sie gelangten bis zur Farm Trudeau und nahmen in einem benachbarten Felde Stellung. Es war hohe Zeit. In der Entfernung einer Viertelmeile erhob sich eine Staubwolke, welche die Annäherung der Gefangenen und ihrer Bedeckungsmannschaft ankündigte.
Der Wagen kam an. Sofort begab sich Viger zu dem Anführer der Abtheilung:
»Halt, sagte er, und liefert uns im Namen des Volkes die Gefangenen aus!
– Achtung, rief der Officier, sich nach seinen Leuten umkehrend. Macht schnell!...
– Halt!« wiederholte der Unbekannte.
Plötzlich stürmte ein Mann heran, um sich dieses zu bemächtigen. Es war ein Agent des Hauses Rip & Cie. – Einer von Denen, die in der Farm von Chipogan mit gewesen waren.
»Johann ohne Namen! rief er, sobald er des jungen Proscribirten ansichtig wurde.
– Johann ohne Namen!« wiederholte Viger, der seinem Begleiter zu Hilfe eilte.
Plötzlich ertönten in unaufhaltsamem Ausbruche begeisterte Rufe.
In dem Augenblicke, wo er seinen Leuten Befehl gegeben, sich Johanns ohne Namen zu bemächtigen, wurde der Officier von einem kräftigen Canadier zurückgestoßen. Letzterer war quer über das Feld herangestürmt, während die Anderen, die noch hinter der Hecke bereit standen, auf Viger's Befehle warteten – Befehle, welche dieser mit lautschallender Stimme sehr vielfach ertheilte, als könne er wenigstens über hundert Kämpfer verfügen.
Während dessen war Johann ohne Namen an den Wagen herangekommen und ihn umgaben verschiedene seiner Anhänger, welche ebenso entschlossen waren, ihn zu vertheidigen, wie die Herren Denaray und Davignon zu befreien.
Nachdem er sich wieder erhoben, commandirte der Officier Feuer. Sechs bis sieben Flinten krachten. Viger wurde von zwei Kugeln getroffen, zum Glück nicht[237] tödtlich, da eine derselben ihm nur das Bein gestreift und die andere ihm die Spitze des kleinen Fingers weggerissen hatte. Er antwortete mit einem Pistolenschuß und traf den Anführer der Begleitmannschaft ins Knie.
Jetzt scheuten auch die Pferde der Mannschaft, von denen einige durch Schüsse verletzt waren, und rasten davon. Die Königlichen, welche glaubten, es vielleicht mit tausend Mann zu thun zu haben, zerstreuten sich über das Land. Der Wagen war befreit, und Johann ohne Namen und Viger sprangen nach dessen Thür, um diese aufzureißen. Die Gefangenen wurden erlöst und im Triumph nach dem Dorfe Boucherville geleitet.
Als Viger und die Anderen aber nach dem Scharmützel Johann ohne Namen suchten, war er nicht mehr da. Gewiß hatte er gehofft, bis zum Ausgang der Sache sein Incognito zu bewahren, und gewiß hätte ihn nichts vermuthen lassen, daß er sich hier einem Agenten Rip's gegenüber befand und seine Person den anderen Betheiligten bekannt werden würde. Sobald der kurze Kampf vorbei war, hatte er sich denn auch beeilt, wieder zu verschwinden, ohne daß Jemand gesehen hatte, nach welcher Seite er sich wandte. Jedenfalls rechneten aber die Patrioten einer wie der andere fest darauf, ihn zur Stunde des beginnenden Kampfes, der über die canadische Unabhängigkeit entscheiden sollte, wieder erscheinen zu sehen.
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