Elftes Capitel.

[142] Noch befangen von den Visionen der Nacht, wurde der junge Graf am folgenden Morgen munter.

Im Laufe des Vormittags gedachte er das Dorf Werst zu verlassen, um sich nach Karlsburg zu begeben.

Nach kurzem Besuche der Industrieorte Petroseny und Livadzel gedachte sich Franz einen ganzen Tag in Karlsburg aufzuhalten, bevor er für etwas längere Zeit nach der Hauptstadt Siebenbürgens weiter zöge. Von hier sollte ihn dann die Eisenbahn nach dem Herzen Ungarns, dem letzten Ziele seiner Reise führen.

Franz war aus dem Gasthause herausgetreten und lustwandelte, ein Fernglas vor den Augen, auf der Terrasse, von der aus er tief erregt die Umrisse der Burg betrachtete, die die aufsteigende Sonne auf dem Plateau des Orgall schon erkennbar beleuchtete.

Sein Gedankengang war etwa folgender: wenn er nun nach Karlsburg kam, sollte er da das den Bewohnern von Werst gegebene Versprechen einlösen und die Polizei davon benachrichtigen, was auf dem Karpathenschlosse vorging?

Als der junge Graf sich verpflichtet hatte, dem Dorfe seinen Frieden wieder zu sichern, geschah das in der festen Ueberzeugung, daß die Burg einer Rotte von Verbrechern als Schlupfwinkel diene, oder daß doch verdächtige Gesellen, die ein Interesse daran hatten, nicht entdeckt zu werden, es zu Stande gebracht hätten, jede Annäherung anderer Personen zu vereiteln.

Im Laufe der Nacht hatte sich Franz das freilich anders überlegt. In seinen Gedanken hatte sich ein Wechsel vollzogen, und jetzt zauderte er. In der That war ja der letzte Abkömmling der Familie von Gortz, der Baron Rudolph, seit fünf, Jahren verschwunden und Niemand hätte wissen können, was aus ihm geworden war. Zwar hatte sich das Gerücht verbreitet, daß er gestorben sei, angeblich bald nach seinem Weggang von Neapel, doch ob das begründet war, dafür gab es keine Beweise. Vielleicht lebte der Baron von[142] Gortz noch heute, und wenn er lebte, warum sollte er dann nicht nach dem Schlosse seiner Ahnen zurückgekehrt sein? Warum könnte Orfanik, scheinbar sein einziger Vertrauter, ihn nicht dahin begleitet haben und könnte dieser seltsame Gelehrte nicht der Urheber und Veranstalter der Erscheinungen sein, die das Land ringsum fortwährend in Angst und Schrecken setzten? Dergleichen Gedanken stiegen, einer aus dem andern sich entwickelnd, in Franz von Telek auf.

Eine derartige Vermuthung erschien gewiß ziemlich naheliegend, und wenn der Baron Rudolph von Gortz und Orfanik in der Burg Zuflucht gesucht hatten, so begriff es sich auch, daß sie diese unzugänglich zu machen bemüht gewesen wären, um darin das einsame Leben zu führen, das ihren Gewohnheiten und Charakteren entsprach.

War das aber der Fall, so fragte es sich doch, wie der junge Graf sich dann verhalten sollte, da er ja keine rechten Gründe hatte, sich in die Privatangelegenheiten des Barons von Gortz zu mischen. Noch wog er hierüber das Für und Wider ab, als sich Rotzko auf der Terrasse zu ihm gesellte.

Den alten bewährten Diener glaubte er mit dem, was ihm eben durch den Kopf ging, bekannt machen zu sollen.

»Herr Graf, antwortete Rotzko, die Möglichkeit liegt allerdings vor, daß der Baron von Gortz der Urheber aller jener Teufeleien und Spukgeschichten ist; nun, wenn das zutrifft, so mein' ich, daß wir uns darum nicht zu kümmern haben. Die Hasenfüße in Werst mögen zusehen, wie sie sich mit der Geschichte abfinden, wir haben doch wahrlich nicht die Pflicht, den albernen Aufruhr im Dorfe zu dämpfen.

– Ja, ja, sagte Franz, wenn ich's mir recht überlege, glaub' ich, daß Du Recht hast, braver Rotzko.

– Ich glaube das auch, antwortete einfach der Soldat.

– Was den Meister Koltz und die Anderen angeht, so wissen sie jetzt, was sie zu thun haben, um sich von den vermeintlichen Geistern der Burg zu befreien.


Er betrachtete die Umrisse der Burg. (S. 142.)
Er betrachtete die Umrisse der Burg. (S. 142.)

– Natürlich, Herr Graf, sie brauchen ja nur die Polizei von Karlsburg davon zu unterrichten.

– Nach dem Frühstück brechen wir auf, Rotzko.

– Es wird Alles bereit sein.

– Vor dem Abstieg nach dem Thale der Sil werden wir jedoch einen Umweg über den Plesa machen.


»Reisen Sie recht glücklich!« (S. 148.)
»Reisen Sie recht glücklich!« (S. 148.)

– Warum das, Herr Graf?

– O, ich möchte das berüchtigte Karpathenschloß wenigstens einmal in der Nähe sehen.

– Was kann das aber nützen?

– Es ist eben eine Laune, Rotzko, ein plötzlicher[143] Einfall, der uns keinen halben Tag aufhalten wird.«

Rotzko schien etwas verstimmt über diesen Entschluß, der ihm so völlig zwecklos vorkam. Er sachte Alles, was den jungen Grafen zu lebhaft an die[144]

Vergangenheit erinnern konnte, von diesem abzuhalten. Diesmal war das vergeblich; er begegnete heute einem unwiderruflichen Entschlusse seines Herrn.

Franz fühlte sich wie durch einen unwiderstehlichen Einfluß nach der Burg hingezogen. Ohne daß er sich darüber Rechenschaft gab, stand diese Anziehung vielleicht mit dem Traum in Verbindung, in dem er das Klagelied la Stilla's von deren eigener Stimme gehört hatte.

Aber hatte er denn wirklich geträumt? Jetzt legte er sich doch diese Frage vor, da ihm einfiel, daß in derselben Gaststube des »König Mathias« der Versicherung der Leute nach schon einmal eine Stimme zu vernehmen gewesen war – jene Stimme, deren Drohung Nic Deck so unklugerweise mißachtet hatte. Bei der geistigen Verfassung, in der der junge Graf sich befand, kann es deshalb nicht Wunder nehmen, daß er sich nach dem Karpathenschlosse begeben und wenigstens bis zum Fuße der alten Mauern emporsteigen wollte, doch ohne die Absicht, in jene einzudringen.

Selbstverständlich hielt es Franz von Telek für angezeigt, den Bewohnern von Werst gegenüber nichts von seiner Absicht verlauten zu lassen. Diese Leute wären im Stande gewesen, sich an Rotzko heranzudrängen, um diesem jede Annäherung an die Burg auszureden, und darum hatte er seinem Diener streng untersagt, von seiner Absicht zu sprechen. Wenn man sie die Dorfstraße nach dem Silthale zu gehen sah, bezweifelte gewiß Niemand, daß sie den Weg nach Karlsburg einschlagen wollten. Von der Höhe der Terrasse aus hatte er aber bemerkt, daß noch ein anderer Weg vom Fuße des Retyezát nach dem Rücken des Vulcan führte. Dadurch wurde es möglich, bis zum Kamme des Plesa hinauf zu kommen, ohne das Dorf wieder zu berühren und folglich, ohne vom Meister Koltz oder einem Anderen gesehen zu werden.

Gegen Mittag und nachdem er ohne Widerspruch die etwas gepfefferte Rechnung des Gastwirthes beglichen – die ihm dieser mit dem verbindlichsten Lächeln übergab – rüstete sich Franz von Telek fortzugehen.

Meister Koltz, die hübsche Miriota, Magister Hermod, Doctor Patak, der Schäfer Frik und eine Anzahl anderer Dorfbewohner waren herbeigeströmt, um ihm Lebewohl zu sagen.

Selbst der junge Forstwächter hatte sein Zimmer verlassen können, und man erklärte, daß er bald wieder ganz auf den Füßen sein werde – was der Exkrankenwärter einzig seiner Kunst zuschrieb.[147]

»Ich mache Ihnen mein Compliment, Nic Deck, wandte sich der Graf an diesen, Ihnen und Ihrer Verlobten.

– Und wir nehmen das mit herzlichem Dank an, erwiderte das junge Mädchen, vor Glück erröthend.

– Reisen Sie recht glücklich! setzte der junge Forstwächter hinzu.

– Ja, das wünschte ich auch, antwortete Franz von Telek, dessen Stirn sich etwas verdüsterte.

– Wir möchten Sie auch noch bitten, Herr Graf, ließ Meister Koltz sich vernehmen, die Schritte nicht zu vergessen, die Sie bei der Polizei in Karlsburg thun wollten.

– Ich werde nichts vergessen, Meister Koltz, versicherte Franz. Sollte ich jedoch auf meiner Reise aufgehalten werden, so kennen Sie ja das einfache Mittel, sich Ihrer beunruhigenden Nachbarschaft zu entledigen, und dann wird ja das Schloß der guten Einwohnerschaft von Werst keine Angst mehr einflößen.

– Das ist wohl leicht gesagt... murmelte der Magister.

– Und auch leicht gethan, entgegnete Franz. Noch vor Ablauf von achtundvierzig Stunden können die Gendarmen mit allen Wesen, die sich nur in der Burg verbergen mögen, aufgeräumt haben....

– Mit Ausnahme des Falles, daß das wirkliche Geister wären, bemerkte der Schäfer Frik.

– Selbst in diesem Falle, erklärte Franz mit kaum bemerkbarem Achselzucken.

– Wenn Sie uns damals begleitet hätten, Herr Graf, warf der Doctor Patak ein, den Nic Deck und mich, dann würden Sie vielleicht nicht so sprechen!

– Das sollte mich wundern, Doctor, versetzte Franz, und selbst wenn ich wie Sie mit den Füßen im Schloßgraben festgehalten worden wäre....

– Mit den Füßen... ja, ja, Herr Graf, oder mit den Stiefeln! Und wenn Sie nicht gerade behaupten wollen, daß ich... bei dem Zustand, in dem ich mich befand... nur... geträumt hätte...

– Ich behaupte gar nichts, werther Herr, unterbrach ihn Franz, und es fällt mir gar nicht ein, erklären zu wollen, was Ihnen unerklärlich vorkommt. Halten Sie sich jedoch versichert, daß die Stiefeln der Gendarmen, wenn diese Leute dem Karpathenschlosse einen Besuch abstatten, daß deren Stiefeln,[148] die an Disciplin gewöhnt sind, sich nicht am Erdboden festwurzeln werden, wie die Ihrigen.«

Nach dieser an den Doctor gerichteten Erklärung nahm der junge Graf noch einmal den Dank und die Huldigung des Wirthes vom »König Mathias« entgegen, der sich »so geehrt fühlte, die Ehre gehabt zu haben, den hochzuverehrenden Herrn Franz von Telek...« u. s. w. Als er dann noch dem Meister Koltz, Nic Deck, dessen Braut und den auf dem Platze versammelten Leuten einen letzten Gruß zugewinkt, gab er Rotzko ein Zeichen, und Beide schritten rasch die Straße hinunter.

Nach kaum einer Stunde hatten Franz und sein Begleiter das rechte Ufer des Flusses erreicht, längs dem sie bis zur südlichen Wand des Retyezát hinwanderten.

Rotzko hatte darauf verzichtet, gegen seinen Herrn noch irgend eine weitere Bemerkung fallen zu lassen.

Das wäre auch vergebliche Liebesmüh' gewesen. An militärischen Gehorsam gewöhnt, würde er schon bei der Hand sein, den jungen Grafen zurückzuhalten, wenn dieser sich etwa in ein gefährliches Abenteuer stürzte.

Nach zweistündiger Wanderung machten Franz und Rotzko Halt, um ein wenig auszuruhen.

Hier, wo sie saßen, näherte sich die vorher leicht nach rechts hin abweichende walachische Sil mit scharfer Biegung der Straße. Auf der anderen Seite und auf der Ausbuchtung des Plesa dehnte sich in der Entfernung einer halben Meile das Plateau des Orgall aus. Hier mußten sie also die Sil verlassen, da Franz den Bergrücken überschreiten wollte, um sich in der Richtung nach dem Schlosse zu halten.

Da sie vermieden, noch einmal durch Werst zu kommen, verlängerte dieser Umweg ihren Marsch etwa um das Doppelte der Entfernung, die das Schloß vom Dorfe trennte.

Immerhin mußte noch heller Tag sein, wenn Franz und Rotzko auf der Hochfläche des Orgall anlangten. Der junge Graf behielt also Zeit genug, die Burg von außen zu besichtigen.

Schlugen sie dann den Rückweg durch Werst erst nach Anbruch des Abends ein, so war ja zu erwarten, daß sie von Niemand gesehen würden. Die nächste Nacht wollte Franz übrigens in Livadzel, einem kleinen Flecken am Zusammenflusse der beiden Sil, zubringen, um am folgenden Tage nach Karlsburg weiterzuziehen.[149]

Eine halbe Stunde ruhten sie aus. In seiner Erinnerung verloren und auch tief erregt durch den Gedanken, daß sich der Baron von Gortz möglicherweise im Innern dieses Schlosses vergraben habe, sprach Franz nicht ein einziges Wort.

Rotzko bedurfte aber der größten Selbstüberwindung, um ihm nicht zuzurufen:

»Es ist unnütz, noch weiter zu gehen, Herr Graf!... Kehren wir der verdammten Burg den Rücken zu und lassen Sie uns aufbrechen!«

Beide schritten nun weiter den Thalweg entlang hin. Zuerst mußten sie dabei ein Baumdickicht durchmessen, in dem kein Fußpfad zu entdecken war. Da und dort zeigte der Erdboden mehr schlüpfrige Furchen, denn in der Regenzeit tritt die Sil nicht selten aus und rauscht in tollem Strome über das Land, das sie in einen Sumpf verwandelt. Dieser Umstand erschwerte natürlich das Fortkommen und erzeugte einigen Aufenthalt So brauchten die Wanderer eine ganze Stunde, um die Straße auf dem Vulkan zu erreichen, der gegen fünf Uhr überschritten wurde.

Die rechte Seite des Plesa ist nicht mit den dicken Waldungen bedeckt, durch die Nic Deck sich nur mit der Axt hatte Bahn brechen können; dafür thürmten sich den Wanderern hier Schwierigkeiten anderer Art entgegen. Da lagen Trümmerhaufen von Moränen, die beim Durchschreiten große Vorsicht erheischten, gab es schroffe Niveauunterschiede, mächtige Steinwände und Blöcke mit unsicherer Unterlage, die gleich Steintischen der Alpengegenden aufragten – kurz, das ganze Durcheinander einer Anhäufung gewaltiger Felsenbruchstücke, die durch Lavinen vom Berggipfel herabgeworfen worden waren, ein wahres Chaos im schlagendsten Sinne des Wortes....

Um den Abhang unter diesen Verhältnissen zu erklimmen, kostete es noch eine gute Stunde tüchtiger Anstrengung. Es schien wirklich, als hätte sich das Karpathenschloß schon durch die Unwegsamkeit seiner Umgebung allein vertheidigen können. Rotzko hoffte auch, vielleicht noch auf solche Hindernisse zu treffen, die sie unmöglich überwältigen könnten. Doch das erfüllte sich nicht.

Jenseits der Zone der Felsblöcke und Erdaushöhlungen wurde endlich der vordere Rand der Hochfläche des Orgall erreicht. Von hier aus zeigten sich die Formen des Schlosses ganz klar in der öden Umgebung, von der die Angst alle Bewohner des Landstriches schon seit Jahren fern hielt.[150]

Franz und Rotzko wollten von der nach Norden zu gerichteten Steinmauer der Burg an diese herankommen.

Waren Doctor Patak und Nic Deck an die östliche Verbindungsmauer der Bastionen gekommen, so kam das daher, daß sie die linke Seite des Plesa erklommen, den Nyad, einen anderen Bergbach, und die auf den Bergrücken hinführende Straße links hatten liegen lassen. Die beiden Wege bildeten zusammen nämlich einen weit offenen Winkel, dessen Scheitelpunkt der Wartthurm in der Mitte war. Von der Nordseite her wäre es übrigens ganz unmöglich gewesen, die Umfassungsmauer zu ersteigen, und hier gab es auch weder ein Thor noch eine Zugbrücke, die Verbindungsmauer erhob sich nur, den Unebenheiten der Bodenfläche folgend, steil zu großer Höhe.

Nun lag ja auch gar nichts daran, daß von hier aus jeder Zutritt unmöglich gemacht war, denn der junge Graf dachte ja nicht im Geringsten daran, durch die Mauer der Burg vorzudringen.

Es war bereits halb acht Uhr, als Franz von Telek und Rotzko am äußeren Rande des Plateaus des Orgall anlangten. Vor ihnen erhob sich nun im Halbdunkel das trotzige Gemäuer, dessen Farbe mit der der Felsen des Plesa ziemlich verschwamm. Links machte die Umfassungsmauer einen scharfen Winkel, an dem eine Bastion vorsprang. Hier ragte über die mit Zinnen bekrönte Brustwehr hinaus die alte Buche, deren verdrehte Aeste von der Gewalt des Südweststurmes in dieser Höhe zeugten.

Der Schäfer Frik hatte sich wirklich nicht getäuscht. Wenn man der Legende Glauben schenkte, so versprach diese der alten Burg der Barone von Gortz nur noch einen Bestand von drei Jahren.

Schweigend betrachtete Franz das Gesammtbild des, von einem mächtigen Wartthurme in der Mitte beherrschten, Bauwerks. Hier unter diesem regellosen Steinhaufen verbargen sich gewiß gewölbte, weite, jeden Laut wiedergebende Räume, Vorsäle, die Irrgänge bildeten, tief im Erdboden versenkte Verließe, wie solche in den alten Schlössern der Magyaren vielfach vorkommen. Keine andere Wohnstätte als dieser alte Rittersitz konnte dem letzten Sprossen des Hauses von Gortz geeigneter erscheinen, sich in einer Vergessenheit zu begraben, deren Geheimnisse Niemand zu enträthseln vermochte. Je mehr der junge Graf darüber nachdachte, desto mehr klammerte er sich an die Vorstellung, daß Rudolph von Gortz sich hinter die einsamen Wälle seines Karpathenschlosses geflüchtet haben könne.


Das ganze Durcheinander einer Anhäufung gewaltiger Felsenbruchstücke. (S. 150.)
Das ganze Durcheinander einer Anhäufung gewaltiger Felsenbruchstücke. (S. 150.)

Nichts verrieth übrigens die Anwesenheit von Bewohnern im Innern des Wartthurms. Kein Rauchwölkchen entstieg seinen Schornsteinen, kein Laut drang aus den festgeschlossenen Fenstern. Nichts –[151] nicht einmal der Schrei eines Vogels unterbrach die Todtenstille dieser düstern Wohnstätte.

Eine Zeitlang verzehrte Franz fast gierigen Blickes diesen Mauerkranz, der einst von rauschenden Festen und Waffengeklirr widerhallte. Er schwieg aber, denn seine Gedanken bedrückten ihn gar so sehr und wie ein Alp lag die Erinnerung auf seinem Herzen.


»Sie!... Sie!...« rief er außer sich. (S. 155.)
»Sie!... Sie!...« rief er außer sich. (S. 155.)

[152] Rotzko, der seinen Herrn sich selbst zu überlassen wünschte, hatte sich etwas zur Seite begeben; er würde es nicht gewagt haben, den Grafen durch die kürzeste Bemerkung zu stören. Als die Sonne aber hinter der Bergmasse des Plesa versank und der Schatten in das Thal der beiden Sil einzog, da zögerte er nicht länger.

»Herr Graf, begann er, es ist bereits Abend geworden... Es wird bald um acht Uhr sein.«

Franz schien ihn gar nicht zu hören.[153]

»Es ist Zeit aufzubrechen, fuhr Rotzko fort, wenn wir nach Livadzel kommen wollen, ehe man dort die Gasthöfe schließt.

– Noch einen Augenblick, Rotzko... Ja, in einem Augenblick bin ich bereit, antwortete Franz.

– Wir brauchen eine gute Stunde, gnädiger Herr, ehe wir die Straße auf dem Berge wieder erreichen, und da es dann völlig finster ist, werden wir auf diesem Wege nicht bemerkt werden.

– Noch einige Minuten, sagte Franz, dann begeben wir uns nach dem Dorfe hinab.«

Der junge Graf war nicht von dem Platze gewichen, den er von Anfang an auf dem Plateau des Orgall eingenommen hatte.

»Vergessen Sie nicht, gnädiger Herr, nahm Rotzko wieder das Wort, daß es in finstrer Nacht schwierig sein wird, mitten durch das Felsengewirr zu gehen... Sind wir doch bei hellem Tage nur mit Mühe hindurch gekommen... Sie werden verzeihen, wenn ich dränge...

– Ja, brechen wir auf, Rotzko... Ich folge Dir...«

Es schien jedoch, als würde Franz unabänderlich vor der Burg zurückgehalten, vielleicht durch eine jener geheimen Ahnungen des Herzens, die Niemand zu erklären vermag. War er denn etwa auch am Boden festgewurzelt, wie es der Doctor Patak im Wallgraben gewesen sein wollte? Nein, seine Füße waren von jeder Fessel, von jeder Falle frei... Er konnte auf der Hochfläche hin und her gehen, und wenn er's gewollt, hätte er das Schloß am Rande der äußeren Böschung hin ungehindert umkreisen können.

Vielleicht wollte er das doch?

Das dachte wohl auch Rotzko, denn er sagte wenigstens zum letzten Male:

»Kommen Sie nun, Herr Graf?

– Ja... ja...« antwortete Franz.

Dennoch blieb dieser unbeweglich stehen.

Schon war es dunkel auf der Hochfläche des Orgall. Der wachsende Schatten des Bergstockes, der immer weiter nach Süden vordrang umhüllte das gesammte Bauwerk, dessen Umrisse sich nur noch als unbestimmte Silhouette darstellten.

Flammte jetzt nicht hinter den schmalen Fenstern des Wartthurms ein Lichtschein auf, so mußte über haupt bald nichts mehr erkennbar sein.

»Gnädiger Herr... Kommen Sie doch!« mahnte Rotzko.[154]

Franz rührte sich endlich, ihm zu folgen, als hinter der Bastionsmauer, wo die sagenhafte Buche stand, eine Gestalt sichtbar wurde.

Franz hielt an und starrte auf die Erscheinung, deren Umrisse allmählich deutlicher wurden.

Es war ein Weib mit aufgelöstem Haar, ausgestreckten Armen und in ein langwallendes Gewand gehüllt.

War dieses Costüm aber nicht das nämliche, das la Stilla in der letzten Scene des »Orlando« getragen, wo Franz sie zum letzten Male gesehen hatte?

Ja, das war la Stilla, die dort regungslos dastand, die Arme nach dem jungen Grafen ausstreckte und den durchdringenden Blick auf ihn gerichtet hielt.

»Sie!... Sie!...« rief er außer sich.

Vorwärts stürmend, wäre er gewiß bis zum Fuße der Mauer hinunter gerollt, wenn Rotzko ihn nicht zurückgehalten hätte....

Da verschwand plötzlich die Erscheinung. Kaum eine Minute lang hatte sich la Stilla ihm gezeigt.

Immerhin! Eine Secunde hätte für Franz hingereicht, sie zu erkennen. Da entrangen sich ihm die Worte:

»Sie... sie... und lebend!«

Quelle:
Jules Verne: Das Karpathenschloß. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXI, Wien, Pest, Leipzig 1894, S. 142-145,147-155.
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