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[171] Franz war wie vom Donner gerührt. Wie er schon gefürchtet, fing er an, die Fähigkeit zu denken, die Erkenntniß der Dinge um sich, die nöthige Intelligenz, daraus geeignete Schlüsse zu ziehen, nach und nach zu verlieren. Die einzige Empfindung, die ihn noch erfüllte, war die Erinnerung an la Stilla, der Eindruck, den dieser Gesang auf ihn gemacht, jene ihm so bekannten Töne, die jetzt kein Echo in der Höhle mehr wiedergab.
War er der Spielball einer Illusion gewesen? Nein, zehntausendmal nein! Das war la Stilla, die er eben erst gehört, la Stilla, die er auf der Bastion des Schlosses gesehen hatte.
Dann bemächtigte sich seiner wieder der Gedanke, daß sie des Verstandes beraubt sei, und dieser schreckliche Gedanke traf ihn, als hätte er sie eben zum zweitenmale verloren.
»Wahnsinnig! rief er immer und immer wieder. Ja!... wahnsinnig... da sie meine Stimme nicht erkannt hat... da sie nicht antworten konnte... wahnsinnig... wahnsinnig!«[171]
Das erschien ja in der That sehr wahrscheinlich.
Ach, wenn er sie dieser Burg entführen, sie mit nach dem Schlosse von Krajowa nehmen und sich da ihr gänzlich widmen könnte, vielleicht würde seine zärtliche Liebe ihr den Verstand zurückgeben!
So sprach Franz, eine Beute des schrecklichsten Deliriums, für sich, und mehrere Stunden verflossen, ehe er die Herrschaft über sich einigermaßen wiedergewann.
Jetzt bemühte er sich, alles kalt zu überlegen und sich in dem Chaos seiner Gedanken zurechtzufinden.
»Ich muß von hier entfliehen... sagte er. Doch wie?... Sobald man diese Thür wieder öffnen wird!... Ja, ja, während meines Schlafes kommt ja Einer, mir Speise und Trank zu bringen. Ich werde den Mann erwarten... werde mich schlafend stellen...«
Da erwachte ein Verdacht in ihm, nämlich der, daß das Wasser irgend einen betäubenden Zusatz enthalten möge... Wenn er in einen solchen Todtenschlaf verfallen, einer solchen vollständigen Lähmung unterlegen war, so lag das daran, daß er von diesem Wasser getrunken hatte. Nun wohl... er würde nicht mehr davon trinken... auch die Speisen wollte er nicht anrühren, die auf dem Tische standen... Einer von den Leuten der Burg mußte ja wohl bald eintreten, und dann...
Bald?... Ja, was wußte er denn? Stieg die Sonne jetzt am Himmel empor oder verschwand sie hinter dem Horizonte? War es Tag oder Nacht? Franz bemühte sich, das Geräusch von Schritten zu vernehmen, die sich etwa der Thür näherten. Doch kein Laut drang bis zu ihm; er drückte sich mit glühendem Kopfe, starren Blicken und summenden Ohren schwer athmend an der Wand des engen Raumes hin, dessen schwere Atmosphäre, die sich durch die Thürspalten kaum erneuerte, ihn zu ersticken drohte...
Plötzlich traf ihn an einem Pfeiler der rechten Wandseite ein frischer Lufthauch.
Hier befand sich also eine Oeffnung, durch die etwas Luft von außen eindringen konnte?
Ja... hier war die Mauer durchbrochen, doch in einer Weise, daß man es im Schatten des Pfeilers nicht wahrnehmen konnte.
Sich dahinein zu zwängen, einer ungewissen Helligkeit, die von oben einzufallen schien, entgegenzukriechen, war für den jungen Grafen das Werk eines Augenblicks.[172]
Jenseits der schachtartigen Oeffnung traf er auf einen kleinen, fünf bis sechs Fuß breiten Hof, dessen Mauern wohl hundert Fuß hoch emporstiegen. Das Ganze sah aus wie der Boden eines Schachtes, der für jene unterirdische Zelle etwa als Gefangnenhof diente, und in den etwas Luft und Licht hinunterfiel.
Franz sah nun, daß es noch Tag war. An der oberen Mündung dieses Schachtes spielte ein gegen die Steinfassung schräg einfallender Strahl.
Die Sonne hatte also wenigstens die Hälfte ihres Tagesbogens zurückgelegt, denn der erhellte Streifen wurde immer kleiner.
Es mochte gegen fünf Uhr Nachmittags sein. Franz schloß daraus, daß er mindestens vierzig Stunden lang geschlafen haben müsse, und nun zweifelte er erst recht nicht mehr, daß das durch eine einschläfernde Arznei geschehen sei.
Da der junge Graf und Rotzko vorgestern, am 11. Juni, das Dorf Werst verlassen hatten, so mußte jetzt der 13. zur Neige gehen.
So feucht die Luft im Hofe dieses Grundes auch war, athmete sie Franz doch in vollen Zügen ein und fühlte sich dadurch ein wenig erquickt. Wenn er aber gehofft hatte, daß er längs dieser Steinwand vielleicht entfliehen könnte, sah er sich jetzt schnell enttäuscht. An den glatten Flächen, die nirgends einen Vorsprung boten, emporzuklettern, erschien völlig unausführbar.
Franz kehrte nach dem Innern der Höhle zurück. Da er durch keine der beiden Thüren entfliehen konnte, wollte er nachsehen, in welchem Zustande sich diese befänden.
Die erste Thür, durch die er hereingekommen war, erwies sich als sehr fest und dick und war jetzt gewiß von außen mit starken, in eisernen Krampen liegenden Riegeln verschlossen. Deren Füllung durchbrechen zu wollen, mußte also ganz vergeblich sein.
Die zweite Thür, – hinter der er la Stilla's Stimme gehört – schien weniger gut erhalten zu sein. Deren Planken waren da und dort angefault... Vielleicht war es gar nicht so schwer, sich hier einen Ausgang zu eröffnen.
»Ja... hier... hier muß ich hindurch!« redete Franz, der seine Kaltblütigkeit wiedergewonnen hatte, sich selbst anfeuernd zu.
Er hatte jedoch keine Zeit zu verlieren, denn es war ja möglich, daß Jemand nach der Höhle kam, wenn man ihn durch das Wasser im Kruge eingeschlummert wähnte.[173]
Die Arbeit ging schneller vor sich, als er erwartet hatte. Moder und Schimmel hatten das Holz in der Umgebung des Eisenbeschlages, der die Riegelbolzen zurückhielt, theilweise schon zerstört. So gelang es Franz, mit seinem Messer die mittlere Planke auszuschneiden, wobei er sorgsam jedes Geräusch vermied und dann und wann einhielt und horchte, um zu erfahren, ob er nichts von außen her vernähme.
Nach drei Stunden vermochte er die Riegel zurückzuschieben und, in ihren Angeln knarrend, öffnete sich die Thür.
Franz kehrte erst noch einmal nach dem kleinen Hofe zurück, um in weniger erstickender Luft zu athmen.
Jetzt war der Lichtschein an der Schachtmündung nicht mehr sichtbar, ein Beweis, daß die Sonne bereits hinter dem Retyezat versanken war. Der Hof lag in tiefer Finsterniß. Ueber dem Oval seines oberen Randes glänzten einzelne Sterne so, als hätte man sie durch ein Teleskop gesehen. Kleine Wolken zogen, getrieben von dem zeitweilig aussetzenden Winde, der sich in der Nacht zu legen pflegt, langsam über den Himmel hin. Die ganze Färbung der Atmosphäre aber ließ erkennen, daß der Mond, der jetzt fast halb voll war, den Kamm der östlichen Bergwand schon überstiegen hatte.
Es mochte nun etwa neun Uhr Abends sein.
Franz kehrte zurück, um ein wenig zu essen und seinen Durst aus dem Wasserstrahl zu löschen, nachdem er den Inhalt des Kruges ausgegossen hatte. Dann befestigte er sich das Messer im Gürtel und begab sich durch die Thür, die er hinter sich zuschlug.
Sollte er jetzt vielleicht der unglücklichen la Stilla in diesen unterirdischen Gallerien begegnen?... Bei diesem Gedanken schlug sein Herz so heftig, als ob es zerspringen sollte.
Nach wenigen Schritten stieß er an eine Stufe. Hier begann also seiner Voraussetzung entsprechend eine Treppe, deren Stufen er beim Ersteigen derselben zählte.... Es waren nur sechzig, statt der fünfundsiebzig die er heruntergegangen war, ehe er an die Schwelle der Höhle gelangte. Demnach mußten etwa gegen acht Fuß fehlen, ehe er die Oberfläche des Erdbodens erreichte..
Da ihm jedoch nichts anderes am Herzen lag, als dem dunklen Corridor zu folgen, an dessen Seitenwänden er mit beiden Händen hinstrich, ging er ohne Rücksicht darauf weiter.[174]
Eine halbe Stunde verstrich, ohne daß ihn eine Thüre oder ein Gitter aufgehalten hätte. Bei dem vielfach gebrochenen Wege war es ihm jedoch unmöglich, abzuschätzen, welcher Richtung dieser in Bezug auf die Zwischenmauer folgte, die nach dem Plateau des Orgall hinauslag.
Nach kurzem Aufenthalte, während dessen er ein wenig Athem schöpfte, setzte Franz seinen Weg fort, der fast endlos schien, bis ihn plötzlich ein Hinderniß aufhielt.
Es war das eine Backsteinmauer.
Er tastete an dieser in verschiedener Höhe umher, fand aber nirgends eine Oeffnung darin.
Nach dieser Seite schien sich also kein Ausweg zu öffnen.
Franz konnte einen leisen Schrei nicht unterdrücken. Alle Hoffnung, die er genährt, zerschellte an diesem Hinderniß. Seine Kniee zitterten, seine Füße versagten ihm den Dienst und er fiel vor der Mauer kraftlos nieder...
Unten im Grunde aber zeigte die Querwand eine kleine Spalte; die Ziegelsteine hingen hier nur so lose zusammen, daß er sie mit den Händen entfernen konnte.
»Hier muß ich hindurch!... rief er... hier durch!«
Schon begann er einen Stein nach dem andern abzulösen, als von der andern Seite ein Geräusch vernehmbar wurde.
Franz hielt ein.
Das Geräusch dauerte fort und gleichzeitig stahl sich ein Lichtschein durch das Loch in der Mauer.
Franz blickte hindurch.
Da lag die alte Kapelle des Schlosses vor ihm. Der Zahn der Zeit und eine lange Vernachlässigung hatten sie schon recht weit verfallen gemacht: ein Bogengewölbe war zusammengebrochen, nur dessen Rippen stützten sich noch auf ihre unebenen Wandsäulen, und zwei oder drei andere Bogen schienen offenbar dem Einsturz nahe; ein zerbrochenes Fenster zeigte nur noch das zierliche Steinkreuz in gothischem Style, da und dort lag eine überstaubte Marmorplatte, unter der ein Ahn der Familie von Gortz schlummerte; im Hintergrunde der Chorhaube erhob sich der Ueberrest eines Altars mit beschädigten Sculpturen an der Rückwand, ferner ein Ueberbleibsel der Bedachung über der Chorwölbung, das von Sturm und Wetter noch verschont war, und endlich am Giebel des Portals der halbzerfallene Glockenthurm, von dem ein[175] Seil nach der Erde hinabhing – der Strang jener Glocke – die zum unaussprechlichen Entsetzen der Bewohner von Werst, wenn solche in der Nachbarschaft unterwegs waren, zuweilen zu läuten anfing.
In dieser seit langer Zeit verlassenen Kapelle, die jeder Unbill des Karpathenklimas ausgesetzt war, hatte sich ein Mann mit einer Stocklaterne eingefunden, deren Schein sein Gesicht voll beleuchtete.
Franz erkannte den Mann sofort wieder.
Das war Orfanik, jener Querkopf, den der Baron während seines Aufenthaltes in den großen Städten Italiens als einzigen Gesellschafter um sich hatte, jenes Originals, das man, mit den Händen fuchtelnd, im Selbstgespräche durch die Straßen gehen sah, jener mißverstandene Gelehrte, jener Erfinder, der immer Trugbildern nachjagte und der seine Erfindungen jedenfalls dem Baron von Gortz zur Verfügung stellte.
Hätte Franz bisher noch den leisesten Zweifel an der Anwesenheit des Barons im Karpathenschlosse hegen können – selbst noch nach dem Erscheinen la Stilla's – so verwandelte sich dieser Zweifel nun in Gewißheit, da Orfanik vor seinen Augen stand.
Was hatte dieser in der verfallenen Kapelle und in so später Abendstunde zu schaffen?
Franz suchte sich darüber aufzuklären und dabei sah er folgendes:
Zur Erde niedergebeugt, hatte Orfanik mehrere Eisencylinder, einen nach dem andern, aufgehoben, die er mit einem Faden oder Drahte verband, welcher von einer Spindel im Winkel der Kapelle abrollte.
Diese Arbeit nahm seine Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch, daß er den jungen Grafen, selbst wenn dieser sich ihm nähern konnte, nicht bemerkt hätte.
Ach, warum war die Spalte, die Franz zu erweitern bemüht war, noch nicht hinreichend groß, um ihm den Durchtritt zu gestatten! Er hätte sich in die Kapelle begeben, sich auf Orfanik gestürzt und diesen gezwungen, ihn nach dem Wartthurme zu führen.
Vielleicht war es aber ein Glück, daß er das nicht konnte, denn wenn sein Versuch scheiterte, so hätte ihn der Baron jedenfalls mit dem Leben entgelten lassen, daß er seine Geheimnisse belauscht hatte.
Wenige Minuten nach Orfanik betrat noch ein anderer Mann die Kapelle. Das war der Baron Rudolph von Gortz.
Die unvergeßliche Physiognomie desselben hatte sich nicht verändert. Er schien kaum gealtert zu haben, denn noch immer war sein Gesicht, das die Laterne beleuchtete,[176] so blaß und länglich wie früher, das nach rückwärts gestrichene Haar ebenso halb ergraut und sein Auge bis tief zum Grunde so funkelnd wie vor Jahren.
Rudolph von Gortz trat näher heran, um die Arbeit Orfanik's zu prüfen.
Dabei wurden zwischen beiden Männern mit gedämpfter Stimme folgende Worte gewechselt.[177]
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