|
[18] Drei Minuten zu spät abgefahren; zuerst heißt es pünktlich sein. Ein Berichterstatter, der nicht ganz pünktlich ist, gleicht dem Geometer, der es unterläßt, seine Rechnung bis zur zehnten Decimalstelle fortzuführen. Diese Verzögerung von drei Minuten hat es dem Deutschen ermöglicht, noch mit unserem Zuge fortzukommen. Ich denke, der Mann wird mir noch Futter für meine Feder bieten; doch das ist vor der Hand nur so eine schwache Vermuthung.
Unter dem hiesigen Breitengrade ist es im Monat Mai um sechs Uhr Nachmittags noch ganz hell. Ich habe mir einen Fahrplan angeschafft und studiere denselben. Die beigefügte Landkarte zeigt hier Station für Station, den Weg der Eisenbahn zwischen Tiflis und Baku. Nicht zu wissen, in welcher Richtung die Locomotive dahinbraust, ob der Zug nach Nordosten hinauf oder nach Südwesten hinabfliegt, das wäre mir rein unerträglich, destomehr, weil ich nach Einbruch der Nacht doch nichts mehr sehen werde, denn ich bin kein Nyctalope wie die Eulen, Uhus, die Fledermäuse oder die Katzen auf dem Dache.
Mein Fahrplan lehrt mir zunächst, daß der Schienenstrang sich nahe der Fahrstraße zwischen Tiflis und dem Caspisee hinzieht und dabei Sachanlong, Poily, Elisabethpol, Karascal, Aliat mit Baku durch das Thal der Kura verbindet. Einer Eisenbahn gestattet man keine »Höflichkeitsbesuche«. Sie muß möglichst die gerade Linie verfolgen. Das thut die transgeorgische Bahn.
Unter den Stationen, die sie berührt, ist eine, die ich gern mit Muße in Augenschein genommen hätte, Elisabethpol; vor Empfang der Depesche des »XX. Jahrhundert« hatte ich geplant, daselbst eine Woche über zu verweilen. Und nun, da ich die verlockendsten Schilderungen von der Stadt gelesen, sollte ich daselbst nur fünf Minuten lang – zwischen zwei und drei Uhr des Morgens – Halt machen! Statt Elisabethpol im Sonnenglanze zu betrachten, davon nur einen unbestimmten Gesammteindruck in der blassen Beleuchtung des Mondes mit hinwegnehmen!
Nach gründlicher Durchsicht des Fahrplans gehe ich daran, meine Reisegefährten etwas näher zu betrachten. Zusammen ihrer Vier, nahmen wir natürlich[18] die vier Ecken des Coupés ein. Ich habe an der Zwischenwand eine Ecke erobert und sitze mit dem Gesicht nach vorn.
In den beiden Winkeln der andern Wagenlängsseite lehnen zwei Reisende einander gegenüber. Kaum eingestiegen, und nachdem sie die Mütze über die Ohren gezogen, haben sie sich in ihre Decken gewickelt – zwei Georgier, so weit ich's zu errathen vermochte. Sie gehören aber jedenfalls zu der Specialrasse privilegirter Bahnwagenschläfer und werden vor dem Eintreffen in Baku schwerlich wieder erwachen. Von diesen Leuten war nichts zu wollen; für sie ist das Coupé kein Wagen, sondern ein Bett.
Vor mir ein Mann von ganz abweichendem, keineswegs orientalischem Typus: zweiunddreißig bis fünfunddreißig Jahre alt, Gesicht mit röthlichem, ziemlich entwickeltem Kinnbart, Blick sehr lebhaft; Nase eines Vorstehhundes; Mund sucht offenbar zu sprechen; Hand sehr familiärer Art, zum Drücken Anderer wie geschaffen; ein großer, kräftiger Mann mit breiten Schultern und mächtigem Torso. In der Art und Weise, wie er's sich bequem gemacht, seine Reisetasche ohne Zögern untergebracht, wie er einen großen carrirten Plaid handhabt, erkenne ich den »Traweller« angelsächsischer Abkunft, der sich, an weitere Reisen gewöhnt, weit mehr an Bord der Eisenbahnen oder der Packetboote als in seinem »Home« befindet, wenn er überhaupt ein solches Home sein eigen nennt. Das muß ein Handlungsreisender sein. Ich bemerke an ihm eine Masse Schmuckgegenstände, Ringe an den Fingern, eine Nadel in der Cravatte, Manschettenknöpfe mit Photographien und allerlei Berloques an der Uhrkette. Obwohl er keine Knöpfe in den Ohrläppchen und auch keinen Ring durch die Nase trägt, würde es mich gar nicht wundern, wenn er ein Amerikaner – ja noch mehr – ein Yankee wäre.
Da bin ich ja mitten im Geschäft. Meine Aufgabe als Reporter, die Interview's jeder Art nöthig macht, ist es, herauszufinden, wer meine Reisegefährten sind, woher sie kommen und wohin sie gehen. Ich werde also mit meinem Gegenüber den Anfang machen. Das scheint übrigens nicht schwierig. Er scheint weder an Schlaf noch an Betrachtung der vorüberfliegenden Landschaft zu denken, obgleich die letzten Sonnenstrahlen diese recht schön beleuchten. Irre ich nicht, so verspürt der Mann ebensoviel Lust, mir zu antworten, wie ich ihn zu fragen – und umgekehrt.
Schon will ich losschießen ... da hält mich eine Befürchtung zurück. Wenn nur der Amerikaner – ich wette, daß es einer ist – nicht selbst ein[19] Berichterstatter, etwa für die »World« oder den »New-York Herald«, und ganz ausschließlich beauftragt ist, die großtransasiatischen Bahnzüge zu begleiten und literarisch auszuschlachten. Das könnte mich in Wuth bringen. Lieber Alles als einen Rivalen!
Mein Zögern verlängert sich. Frage ich ihn ... frage ich ihn nicht? Schon kommt die Nacht heran. Endlich entschließe ich mich, den Mund aufzuthun, da kommt mir mein Reisegefährte zuvor.
»Sie sind Franzose? redet er mich in meiner Muttersprache an.
– Ja, mein Herr,« antworte ich ihm in der seinigen.
Nun also, wir verstanden uns gegenseitig.
Das Eis ist gebrochen und jetzt wechseln die Fragen von einer zur andern Seite.
Alle Welt kennt ja wohl das orientalische Sprichwort:
»Ein Narr kann in einer Stunde mehr fragen, als ein Weiser im ganzen Jahre.«
Da wir indeß Beide, mein Gefährte so gut wie ich, auf besondere Weisheit keinen Anspruch erheben, lassen wir uns gehen und vermischen unbewußt beide Idiome.
»Wait a bit!«1 sagt mein Amerikaner.
Ich unterstreiche diese Redensart, weil sie sehr häufig wiederkehren wird, wie der Knoten des Strickes, mit dem die Schaukel bewegt wird.
»Wait a bit! Ich wette zehn gegen eins, daß Sie Reporter sind? ...
– Da würden Sie gewinnen! ... Ja ... Reporter, im Auftrage des ›XX. Jahrhundert‹, um einen Bericht über diese Eisenbahnfahrt zu liefern.
– Sie gehen nach Peking? ...
– Wie Sie sagen.
– Ganz mein Fall,« erwidert der Yankee.
Das fürchtete ich.
»Ein College? ... fragte ich und runzelte die Augenbrauen mit gewiß nicht anziehendem Gesichtsausdruck.
– Nein, beruhigen Sie sich. Wir ›machen‹ nicht in denselben Artikeln, mein Herr ...[20]
– Claudius Bombarnae, der sich freut auf die Fahrt in Gesellschaft des Herrn ...
– Fulk Ephrjuell vom Hause Strong Bulbul and Compagnie, von New-York, Staat New-York (V. St. v. A.).«
Er setzte wirklich V. St. v. A. hinzu.
Jetzt hatten wir uns also gegenseitig vorgestellt. Meine Wenigkeit Händler mit Neuigkeiten und er Händler mit ... Ja, womit? ... Das muß ich erst noch erfahren.
Das Gespräch geht weiter. Fulk Ephrjuell ist selbstverständlich schon überall – und auch noch etwas darüber hinaus, wie er hinzufügt – umhergefahren. Er kennt Nord- und Südamerika und fast ganz Europa. Jetzt kommt er jedoch zum erstenmal nach Asien. Er spricht ... plaudert, doch immer schaltet er sein Wait a bit! mit beängstigender Unverdrossenheit ein. Sollte der Hudson vielleicht dieselbe Eigenthümlichkeit wie die Garonne haben, die Zunge manchmal hängen bleiben zu machen?
Ich hörte seinen Worten nahezu zwei Stunden lang zu. Kaum drangen mir die Namen der Stationen Sachanglong, Peily, und andere, die bei jedem Aufenthalt ausgerufen wurden, bis ins Ohr. Und doch hätt' ich mir eigentlich gern das Land angesehen, das der Silberschimmer des Mondes überfluthete, und hätte mir während der Fahrt einige Notizen gemacht.
Zum Glück hatte der Gefährte mit dem unermüdlichen Mundwerk die östlichen Provinzen Georgiens schon früher bereist. Er machte mich auf die Landschaft, Flecken und Städtchen, die Wasserläufe und die am Horizonte auftauchenden Berge aufmerksam .... Ich sehe dennoch fast nichts ... Verdammte Eisenbahn! Man fährt ab, kommt an und hat unterwegs nichts gesehen!
»Nein! ruf' ich, jetzt fehlt doch gänzlich der Reiz einer Fahrt im Postwagen, in der Troika, dem Tarantaß, mit den Zufälligkeiten des Weges, der Originalität der Gasthöfe, den Plauderstündchen beim Pferdewechsel, dem kräftigen Schluck Wodka, den die Yemtchiks zu sich nehmen ... und so dann und wann ein hübscher Ueberfall durch Räuber, deren Rasse wahrlich ganz im Verlöschen ist ...
– Herr Bombarnae, fragt mich Fulk Ephrjuell, ist es Ihr Ernst, daß Sie sich dieser schönen Dinge wegen beklagen?
– Völliger Ernst, geb' ich zur Antwort. Mit dem Vortheil der geraden Linie der Eisenbahn verlieren wir alles Malerische der Bogenlinie oder der gebrochenen Linie der ehemaligen großen Landstraße. Und gestehen Sie nur,[21] Herr Ephrjuell, wenn Sie die etwa vierzig Jahre zurückliegenden Beschreibungen von Reisen in Transkaukasien lesen, dann bedauern Sie auch die heutige Veränderung der Verhältnisse. Werde ich denn ein einziges jener Dörfer zu Gesicht bekommen, die von Kosaken – halb Soldaten, halb Ackerbauern – bewohnt sind? Werd' ich jetzt nur einer jener festlichen Aufführungen beiwohnen können, die sonst den Touristen erfreuten, einer jener ›Djiquitovkas‹, bei der die Reiter auf den Pferden stehend die Säbel schwingen, die Pistolen abfeuern und die Ihnen Geleit geben, wenn Sie sich in Gesellschaft eines hohen moskowitischen Beamten oder eines Obersten der Staniza befinden?
– Freilich ... zugegeben ... Diese schönen Dinge haben wir eingebüßt, nimmt mein Yankee das Wort. Dank dieser Eisenbahn aber, die unsere Erdkugel bald umkreisen wird, wie eine Tonne Cider oder einen Baumwollenballen, gelangen wir binnen dreizehn Tagen von Tiflis nach Peking. Haben Sie also – so zur Abwechslung – auf Zwischenfälle gerechnet ....
– Ganz bestimmt, Herr Ephrjuell!
– Täuschung, Herr Bombarnae! Es wird nichts passiren, weder Ihnen noch mir. Wait a bit! Ich verspreche Ihnen die einfachste prosaischte Fahrt, das gemüthlichste Dahinkutschieren auf der Erde, Alles so einfach, flach, wie die Steppen von Kara-Korum, die die transasiatische Bahn in Turkestan durchzieht, oder die Wüstenebene von Gobi, durch die sie in China führt ....
– Na, werden aufpassen, erwiderte ich, denn ich reife zur Unterhaltung meiner Leser ...
– Während ich einfach in Geschäften reise.«
Diese Antwort erregte in mir den Gedanken, daß Fulk Ephrjuell sich nicht als der von mir geträumte Reisegefährte entpuppen werde. Er hat Waaren zu verkaufen und ich wollte keine kaufen.
Ich ersehe hieraus, daß sich aus unserem ersten Zusammentreffen nicht die für eine so lange Fahrt wünschenswerthe Vertraulichkeit entwickeln wird. Das muß einer von den Yankees sein, von denen man zu sagen pflegt: wenn sie einen Dollar in der Hand haben, so kann ihnen den kein Teufel entreißen ... und ich werde ihm auch nichts, was der Rede werth wäre, entlocken.
Wenn ich nun auch von ihm weiß, daß er für Rechnung des Hauses Strong Bulbul and Co., New-York, reist, ist mir dieses Haus doch völlig fremd. Hört man diesen amerikanischen Handlungsreisenden, so erscheint es, als ob die sociale Stellung von Strong Bulbul and Co. der ganzen Welt bekannt sein[22] müßte. Wie kommt es denn aber, daß ich es nicht kenne, ich, ein Schüler Chincholle's, unserer Aller Meister! Ich entdecke da eine Lücke meines Wissens, daß ich vom Hause Strong Bulbul and Co. noch niemals habe reden hören.
Ich nahm mir also vor, Fulk Ephrjuell hierüber zu fragen, als dieser mich wieder ansprach.
»Sind Sie schon einmal in den Vereinigten Staaten von Amerika gewesen, Herr Bombarnae?
– Nein, Herr Ephrjuell.
– Werden Sie unser Land gelegentlich besuchen?
– Vielleicht!
– Dann vergessen Sie nicht, in New-York das Haus Strong Bulbul and Co. zu durchforschen.
– Durchforschen?
– Ja, das ist das richtige Wort.
– Schön, werde nicht verfehlen.
– Sie werden da eine der hervorragendsten gewerblichen Anlagen der Neuen Welt sehen.
– Daran zweifle ich nicht, doch könnt ich wohl erfahren ...
– Wait a bit, Herr Bombarnae! fährt Fulk Ephrjuell lebhafter fort. Stellen Sie sich eine ungeheure Werkstatt vor, gewaltige Gebäude für die Zurichtung und letzte Vervollkommnung der Stücke, eine Maschine von fünfzehnhundert Dampfpferdekräften, Ventilatoren mit sechshundert Umdrehungen in der Minute, Generatoren, die täglich hundert Tonnen Steinkohlen verbrauchen, einen Schornstein von vierhundertfünfzig Fuß Höhe, ganz unermeßliche Niederlagen zur Aufspeicherung der Erzeugnisse, die wir nach allen fünf Erdtheilen ausführen, einen Generaldirector, zwei Unterdirectoren, vier Secretäre, acht Untersecretäre, ein Personal von fünfhundert Beamten und neuntausend Arbeitern, eine ganze Legion Reisender, wie Ihr ergebener Diener, die Europa, Asien, Afrika, Amerika, Australien durchstreifen, endlich einen Umsatz, der jährlich hundert Millionen Dollars übersteigt! Und das Alles, Herr Bombarnae, zwecks Herstellung und Vertriebes von Milliarden ... ja, ich sage von Milliarden ...«
Da fängt der Zug an, seine Geschwindigkeit unter der Wirkung der Luftbremse zu vermindern, und sehr bald darauf steht er still.
»Elisabethpol! ... Elisabethpol!« rufen der Zugführer und die Bahnhofsbeamten.[23]
Unser Gespräch wird dadurch unterbrochen. Ich lasse das Fenster auf einer Seite nieder und öffne die Thür, um meine Beine ein wenig gelenkig zu machen. Fulk Ephrjuell steigt nicht mit aus.
So schlendre ich denn über den Perron des ziemlich gut erleuchteten Bahnhofs. Ein Dutzend Reisende haben unseren Zug bereits verlassen, mehrere Georgier drängen sich noch auf den Trittbrettern. Elisabethpol – zehn Minuten Aufenthalt; der Fahrplan gewährt uns nicht mehr.
Mit dem ersten Glockensignal kehre ich nach unserem Waggon zurück, steige ein, und als die Thür sich wieder geschlossen hat, bemerke ich, daß mein Platz besetzt ist. Richtig ... gegenüber dem Amerikaner hat sich eine Reisende mit jener angelsächsischen Rücksichtslosigkeit eingerichtet, die keine Grenzen als die Unendlichkeit kennt.
Ist sie jung? Alt? Hübsch? Häßlich? Bei dem herrschenden Halbdunkel vermag ich das nicht zu beurtheilen. Jedenfalls verbietet mir die angeborne Galanterie, auf Räumung meiner Ecke zu dringen, und ich setze mich also neben diese Person, die sich nicht einmal entschuldigt.
Fulk Ephrjuell scheint mir zu schlafen, so weiß ich also immer noch nicht, was das Haus Strong Bulbul and Co. in New-York milliardenweise herstellen läßt.
Der Zug rollt weiter. Wir haben Elisabethpol hinter uns gelassen. Was hab' ich nun von dieser hübschen Stadt mit zwanzigtausend Einwohnern, die sich hundertsechzig Kilometer von Tiflis am Gandja-tchaï, einem Arme des Kura, erhebt, eigentlich gesehen? Und wie genau hatte ich sie schon vorher studiert! Nichts von ihren unter üppigem Grün versteckten Backsteinbauten, nichts von ihren merkwürdigen Ruinen, nichts von der prächtigen Moschee, die aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts herrührt, und nicht das Geringste von ihrem Maidan-Platze. Von den herrlichen Platanen, die von Krähen und Ameisen so besucht sind, und die selbst bei so großer Sonnenhitze hier noch eine erträgliche Temperatur sichern, hab' ich kaum die höchsten Zweige bemerkt, auf denen ein Lichtschein zittert. Und an den Ufern des Flusses, der mit silbernen murmelnden Wellen längs der Hauptstraße hinströmt, kaum einige Gartenhäuschen, die kleinen zinnenbekrönten Festungen gleichen.
Was mir in Erinnerung geblieben, ist nur eine unbestimmte Silhouette, die ich zwischen den Rauchwolken, die unsere Locomotive auspustet, im Fluge aufgefangen habe. Daß jene Wohnstätten alle wie zur Vertheidigung eingerichtet erscheinen, hat seinen Grund darin,daß Elisabethpol ein viel umstrittener Platz und früher oft den Einfällen von Lesghiern aus Chiwa ausgesetzt war, und diese Bergbewohner stammen, wenn man den bestunterrichteten Geschichtsschreibern glauben darf, in gerader Linie von den Horden Attila's ab.
Jetzt war es ziemlich Mitternacht. Die Ermüdung lud mich zum Schlummer ein, und doch wollt' ich als guter Reporter nur mit einem Auge und mit einem Ohr schlafen.
Ich verfiel jedoch in jene Art Schlafsucht, die von den regelmäßigen Erschütterungen eines dahinbrausenden Zuges, von dem gelegentlichen schrillen Pfeifen, von dem knarrenden Reiben der Bremse vor dem Anhalten, von dem betäubenden Gerassel beim Begegnen zweier Züge so leicht erzeugt wird. Dazu kommt das Ausrufen der Stationsnamen während der kurzen Aufenthalte und das Klappen der Coupéthüren, wenn diese sich fast mit metallischem Klang öffnen oder schließen.
So hör ich Geran, Varvara, Udjarny, Kiurdamir, Klurdane, nachher Karasul, Navagi u.s.w. abrufen .... Ich richte mich auf; da ich aber die Ecke nicht mehr einnahm, aus der man mich so schnöder Weise herausgesetzt hatte, war mir's unmöglich, durch das Fenster etwas zu sehen.
Da frag' ich mich denn, was diese Anhäufung von Decken, Mäntelchen, Röcken und dergleichen, die ich auf meinem usurpierten Platze erblicke, wohl verbergen möge. Wird diese Reisende bis zum Endpunkt der Groß-Transasiatischen Linie meine Gefährtin bleiben? Werde ich vielleicht in den Straßen von Peking mit ihr einen freundschaftlichen Gruß austauschen? Von der Begleiterin gleiten meine Gedanken hinüber zu dem Begleiter, der in seiner Ecke schnarcht, daß ihn die Ventilatoren des Hauses Strong Bulbul and Co. darum beneiden könnten. Ja, und jene ungeheure Werkstatt, was zum Teufel liefert sie denn jetzt eigentlich? Eiserne oder stählerne Brücken, Locomotiven, Panzerplatten, Dampfkessel oder Wasserpumpen für Bergwerke? Nach dem, was ich von meinem Amerikaner flüchtig gehört halte ich sein Haus für einen Rivalen von Creusot, von Cokerill oder Essen, für irgend ein ungeheures industrielles Etablissement der Vereinigten Staaten von Amerika. Er hat sich darüber nicht näher ausgesprochen ... denn er scheint mir kein »Grüner« zu sein, wie man bei ihm zu Hause sagt ... das heißt, er hat nicht gerade ein sehr naives Aussehen, genannter Fulk Ephrjuell.
Es scheint mir doch, daß ich allmählich in einen rein bleiernen Schlaf versinken werde. Allen Einflüssen der Außenwelt entrückt, hör' ich nicht einmal mehr[27] das gewaltige, schnurrende Athmen meines Yankee. Der Zug trifft in der Station Aliat ein, hält hier zehn Minuten an und rollt wieder fort, ohne daß ich etwas davon bemerke. Das bedaure ich; denn Aliat ist ein kleiner Hafenort; ich hätte hier den ersten Ausblick auf das Caspische Meer gehabt und das Land sehen können, das dereinst Peter der Große verwüstete .... Das hätte ... wenn ich gleichzeitig nach le Bouillet's und nach Larousse's Berichten arbeitete – zwei Columnen historisch-phantastischer Chronik gegeben .... Doch obwohl ich nichts von dem Lande und seiner Hauptstadt gesehen, wird es mir nicht schwer fallen, meiner Einbildungskraft die Sporen zu geben.
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
»Baku! Baku!« ...
Dieser beim Halten des Zuges wiederholte Name weckt mich aus dem Traume ....
Es ist um sieben Uhr Morgens.
1 Warten Sie ein wenig!
Buchempfehlung
Therese gibt sich nach dem frühen Verfall ihrer Familie beliebigen Liebschaften hin, bekommt ungewollt einen Sohn, den sie in Pflege gibt. Als der später als junger Mann Geld von ihr fordert, kommt es zur Trgödie in diesem Beziehungsroman aus der versunkenen Welt des Fin de siècle.
226 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro