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[37] Reiseeindrücken traue ich nicht weit über den Weg. Solche Eindrücke sind subjectiver Natur – ein Wort, das ich hier anwende, weil es – jetzt in der Mode ist, obwohl mir seine Bedeutung niemals recht klar geworden ist. Ein heiter gestimmter Mann wird alle Sachen heiter auffassen; ein Trauriger sieht sie traurig. Demokrit würde an den Ufern des Jordan und am Gestade des Todten Meeres entzückende Bilder entdeckt haben, und Heraklit hätte die Bai von Neapel und die Küste des Bosporus langweilig und abstoßend gefunden. Ich, ich habe ein glückliches Naturell – man verzeihe den Mißbrauch des Egoismus in nachfolgendem Berichte, denn es ist ja sehr selten, daß sich die Persönlichkeit des Verfassers nicht mit dem, was er erzählt, vermengt – siehe Hugo, Dumas, Lamartine und viele Andere. Shakespeare bildet wohl eine Ausnahme, doch ein Shakespeare bin ich nicht, ebensowenig freilich ein Lamartine, Dumas oder Hugo.
So feindlich ich indeß den Lehren eines Schopenhauer und Leopardi gegenüberstehe, muß ich doch sagen, daß die Küsten des Caspischen Meeres mir höchst öde und traurig vorkamen. Dem Ufer, ohne Pflanzen- und Thierwelt, fehlt jedes Leben. Man empfindet nicht den Eindruck, vor einem großen Meere zu stehen. Wenn das Caspische Meer wirklich auch nur einen sechsundzwanzig Meter unter das Mittelmeer versenkten Binnensee darstellt, so wird es doch zuweilen von recht heftigen Stürmen in Aufruhr versetzt; für ein Schiff giebt es hier »keine Flucht«, wie die Seeleute sagen. Was haben aber so ein Hundert Stunden Breite zu bedeuten? Man gleitet schnell an die westliche oder östliche Küste, und auf asiatischer wie europäischer Seite giebt es eine Anzahl Nothhäfen.[37]
An Bord der »Astara« drängen sich einhundert Passagiere, viele Kaukasier, die nach Turkestan Handel treiben und uns nicht bis nach den Ostprovinzen des Himmlischen Reiches begleiten werden.
Schon seit mehreren Jahren ist die Transasiatische Bahn zwischen Uzun-Ada und der chinesischen Grenze im Betrieb. Zwischen jenen Hafenplätzen und Samarkand liegen nicht weniger als dreiundsechzig Stationen. Auf diesem Theile der Bahnstrecke wird der Zug alsdann die Mehrzahl der Passagiere absetzen. Mit diesen habe ich mich nicht zu beschäftigen und meine Zeit mit ihren Personen zu vergeuden. Angenommen, es befände sich eine interessante Figur darunter, ich »durchackre« diese bis »zum Grunde der Seele« ... und wenn ich in bester Thätigkeit bin, da läuft mir der Mann davon.
Nun, ich will alle Aufmerksamkeit Einem zuwenden, der die ganze Reise mitmacht. Schon hab' ich ja Fulk Ephrjuell und die natürlich reizende Engländerin, die mir auch Peking als Reiseziel zu haben scheint. Unterwegs und bis Uzun-Ada werden schon noch Andere hinzukommen. Von dem französischen Pärchen ist noch nichts zu sehen; die Fahrt über das Caspische Meer wird jedoch nicht zu Ende gehen, ehe ich weiß, woran ich mit ihnen bin. Da sind auch die zwei Chinesen, offenbar auf der Rückkehr nach ihrer Heimat. Verstände ich nur hundert Worte von dem »Kuan-hoa«, das ist die Sprache des Himmlischen Reiches, so könnt' ich auch aus diesen curiosen Gestalten von der aufgehenden Sonne her vielleicht etwas herauspressen. – Am liebsten wäre mir da so eine Persönlichkeit, um die sich schon die Legende schlingt, irgend eine geheimnißvolle Heldengestalt, die incognito reiste, gleichgiltig, ob ein Großwürdenträger oder ein Straßenräuber. Immer heißt es bei mir, die doppelte Rolle als Reporter über Thatsachen und als Interviewer geeigneter Leute im Auge zu behalten ... die Zeile für so und so viel. Nur vorsichtig in der Auswahl. Wie viel trägt eine gute Auswahl zum guten Gelingen bei!
Ich bin die Treppe vom Deck nach dem Salon im Hintertheile hinuntergestiegen. Auf ein freies Plätzchen ist hier freilich nicht zu rechnen. Die Cabinen sind bereits von männlichen und weiblichen Passagieren eingenommen, die vom Rollen und Stampfen des Schiffes belästigt werden. Seit dem Eintreffen an Bord lang hingestreckt, werden diese auch nicht eher wieder aufstehen, als bis wir an die Quaimauern von Uzun-Ada stoßen. Aus Mangel an Cabinen haben sich andere Reisende auf den Polsterbänken häuslich eingerichtet und diese übrigens mit Handgepäck übersäet. Hier erhebt sich auch kein Mensch mehr von[38] der einmal eroberten Stelle. Und da soll nun Einer unter diesen von der Seekrankheit bedrohten Schlafmützen einen romantisch angehauchten Menschen heraussuchen! Ich selbst habe die Absicht, die Nacht auf dem Verdeck zuzubringen, und ich steige wieder unter der Treppenkappe hinauf an die Luft. Hier befindet sich der Amerikaner, der noch im Begriff ist, seinen demolirten Kasten wieder in Ordnung zu bringen.
»Glauben Sie wohl, ruft er mich an, glauben Sie, daß mir jener Trunkenbold von Musik auch noch ein Trinkgeld abverlangt hat!
– Ich hoffe, Sie haben bei dem Unfall keinen eigentlichen Verlust erlitten, Herr Ephrjuell, erwidere ich.
– Nein .... Zum Glück nicht.
– Darf ich fragen, wie viel Zähne Sie in jenen Kisten nach China einführen?
– Hundertachtzigtausend, ohne die Weisheitszähne zu rechnen.«
Fulk Ephrjuell lacht dabei selbst über den Witz, den er auf der Reise gewiß schon unzählige Male abgenutzt hat. Ich verlasse ihn und ersteige die Brücke zwischen den beiden Radkasten.
Der Himmel ist sehr schön; ein jetzt leichter Nordwind scheint auffrischen zu wollen, draußen rollen schon grünliche Kämme über die Wasserfläche hin. Möglicherweise wird die Nacht doch rauher, als man vorausgesetzt hätte. Auf dem Vordertheile des Dampfers liegen eine Menge Passagiere, Turkmenen in Lumpen, Kirgisen mit scharf zugeschnittenen Augen, Mujiks, die wie Auswanderer erscheinen, kurz, lauter arme Teufel, die sich an den Mastfuß lehnen, oder längs der Schiffswände oder der Pfortsegel liegen. Fast alle rauchen Tabak oder kauen an dem für die Ueberfahrt mitgebrachten Mundvorrath. Andere suchen schon durch den Schlaf ihren Kräften aufzuhelfen – vielleicht auch den Hunger zu übergehen.
Mir fällt da ein, ein wenig zwischen diesen Gruppen umherzugehen, wie ein Jäger, der erst das Gebüsch absucht, ehe er sich auf den Anstand begiebt. Da komme ich auch an den Riesenhausen verschiedener Collis, die ich mit dem richtigen Blicke eines Zollschnüfflers betrachte.
Eine große Kiste aus weißem Holz, auf der ein Zipfel des Pfortsegels umherflattert, erregt meine Aufmerksamkeit. Sie mißt in der Höhe einen Meter achtzig, bei einem Meter in der Tiefe und Breite. Man hat sie hierher mit Sorgfalt gestellt, die die auf den Deckel geschriebenen Worte:
Glas – Spiegel – [39] zerbrechlich – vor Feuchtigkeit zu bewahren – verlangen. Ferner klebt daran die Adresse: Fräulein Zinca Klork, Cha-Chuastraße, Peking, Provinz Petchili, China.
Diese Zinca Klork – ihr Name verräth es ja – muß eine Rumänin sein, die die Eisenbahn benutzt, um Spiegelglas zu befördern. Sollte es in den Magazinen des Himmlischen Reiches an diesem Artikel fehlen? Was machen denn dann die schönen Chinesinnen, um ihre mandelförmigen Augen und den Aufbau ihres Haares zu bewundern?[40]
Da läutete eine Glocke; sie rief zur Sechsuhr-Mahlzeit. Der »Diningroom« liegt im Vorderschiffe. Ich begebe mich dahin und finde die Tafel schon von etwa vierzig Gästen besetzt.
Fulk Ephrjuell hat ungefähr in der Mitte der Tafel Platz genommen. Da neben ihm noch ein Sessel leer ist, winkt er mir zu, und ich beeile mich, die Lücke am Tische auszufüllen. Ob es reiner Zufall war, weiß ich nicht, doch jedenfalls sitzt die englische Reisende zur Linken Fulk Ephrjuell's, der sich mit ihr unterhält, und sich verpflichtet fühlt, mir die Dame vorzustellen.[41]
»Miß Horatia Bluett« sagte er.
Gegenüber bemerke ich das französische Pärchen, das die Speisekarte mit aller Gewissenhaftigkeit mustert.
Am andern Ende des Tisches und an der Seite des Buffets, von dem die Schüsseln kommen – was ihm Gelegenheit giebt, zuerst zuzulangen – macht sich der deutsche Reisende breit. Es ist ein Mann von kräftigem Körperbau, mit röthlichem Gesicht, blondem Kopf und röthlich scheinendem Barthaar, nicht etwa kleinen Händen und sehr entwickelter Nase, die schon mehr an den Rüssel der Plantigraden erinnert. Er bietet den ganz eigenthümlichen Anblick der Officiere des Landsturms, mit vorzeitiger Fettleibigkeit.
»Diesesmal hat er sich nicht verspätet, sage ich zu Fulk Ephrjuell.
– Im deutschen Reiche ist man stets pünktlich an der Tafel, antwortet mir der Amerikaner.
– Wissen Sie, wie jener Deutsche heißt?
– Baron Weißschnitzerdörfer.
– Und mit einem solchen Namen geht er bis China?
– Bis nach Peking, ganz wie jener russische Major, der neben dem Capitän der ›Astara‹ sitzt.«
Ich betrachte die genannte Persönlichkeit von etwa fünfzig Jahren. Sie zeigt einen rein moskowitischen Typus mit halbergrautem Haar und Bart und ziemlich einnehmenden Gesichtszügen. Ich kenne die russische Sprache, er muß ja wohl die französische verstehen. Vielleicht ist er der von mir erträumte Reisegefährte.
»Sie sagten, das sei ein Major, Herr Ephrjuell?
– Ja, ein Arzt der russischen Armee, den ich Major Noltitz nennen hörte.«
Entschieden hat der Amerikaner mich überholt, ohne daß er doch das Geschäft eines Reporters betreibt.
Noch ist von Seegang nichts fühlbar; Jeder ißt ganz behaglich. Fulk Ephrjuell unterhält sich mit Miß Horatia Bluett, und ich begreife ja, wie leicht sich zwischen zwei so vollkommen angelsächsischen Naturen ein Einvernehmen herausbilden mußte.
Dazu ist der Eine Händler mit Zähnen, die Andere Händlerin mit Menschenhaar. Miß Horatia Bluett vertritt ein bedeutendes Haus in London, das Haus Holmes-Holme, das aus dem Himmlischen Reiche alljährlich für zwei Millionen langes Frauenhaar erhält.[42]
Sie geht für Rechnung der genannten Firma nach Peking, um daselbst ein Comptoir zu gründen, in dem die von den Töchtern – wahrscheinlich zum Theil auch von den Söhnen – des Himmlischen Reiches gesammelten Ernten zusammenströmen sollen. Das Geschäft bietet um so günstigere Aussichten, als die Gesellschaft der »Blauen Lotosblume« die Unterdrückung des Zopfes anstrebt, weil dieser ein Zeichen der Dienstbarkeit der Chinesen gegenüber den Mandschu-Tataren sein soll.
»Na, denk' ich mir, wenn China sein Haar nach England schickt, so versorgt Amerika jenes mit seinen Zähnen. Das ist ja ein glattes Geschäft, an dessen weiterem Blühen nicht zu zweifeln ist.«
Seit einer Viertelstunde sitzen wir bei Tische ohne jeden Zwischenfall. Der Reisende mit dem glatten Gesicht und seine Begleiterin scheinen uns zuzuhören, wenn wir französisch plaudern. Sie zeigen das deutlichste Verlangen, an unserem Gespräche theilzunehmen. Ich habe mich also nicht getäuscht, das sind Landsleute ... doch von welcher Art? ...
In diesem Augenblick neigt sich die »Astara« nach einer Seite, die Teller klirren zwischen den Pflöcken in der Tafel, Messer und Gabeln schlagen aneinander, zu voll eingeschenkte Gläser verschütten einen Theil ihres Inhalts, die Hängelampen weichen aus der lothrechten Richtung ab oder es sind vielmehr die Sitze und Tische, die den Launen der Wellenbewegung gehorchen. Das ist recht merkwürdig mit anzusehen, wenn man seefest genug ist, davon nicht zu leiden.
»Ah! ruft mein Amerikaner, seh' mir Einer den netten Caspisee, der sich wie ein Gerngroß schüttelt.
– Werden Sie leicht seekrank? frage ich ihn.
– Ich, giebt er zur Antwort, nicht mehr als ein Meerschwein. Und Sie, Miß, wendet er sich dann an seine Nachbarin, Sie werden doch niemals seekrank?
– Niemals,« versichert Miß Horatia Bluett.
Auf der andern Längsseite des Tisches wechselt das Pärchen einige Worte:
»Dir wird doch nicht übel, Madame Caterna? ...
– Nein, Adolf ... noch nicht ... doch wenn das so weiter geht, gestehe ich, daß ...
– Weiß schon, Caroline, so müssen wir nach dem Deck hinausgehen. Der Wind ist einen Strich nach Osten abgefallen, und die ›Astara‹ wird bald die Nase in die nassen Federn stecken.«[43]
Diese Ausdrucksweise läßt erkennen, daß »Herr Caterna« – denn so lautet sein Name, ein Seemann ist oder doch gewesen ist. Das erklärt das Schwanken seiner Hüften, wenn er auf dem Lande geht.
Das Rollen des Schiffes ist schon recht schwer. Die wenigsten Tischgäste können es noch ertragen. Männliche und weibliche Passagiere, zusammen an die dreißig, haben die Tafel verlassen, um auf Deck frische Luft zu schöpfen. Ich hoffe, daß ihnen das gute Dienste leistet. Wir befinden uns nur noch ein Dutzend im Dining-room, den Capitän eingerechnet, der mit dem Major Noltitz ruhig weiter plaudert. Fulk Ephrjuell und Miß Bluett scheinen mir an solche unvermeidliche Unzuträglichkeiten einer Seefahrt sehr gewöhnt zu sein. Der deutsche Baron ißt und trinkt, als säße er fest in einer Brauerei von München oder Frankfurt; er hält das Messer in der rechten, die Gabel in der linken Hand, schneidet das Fleisch, das er salzt, pfeffert und mit Sauce anfeuchtet, in kleine Stücke und führt es in größter Gemüthsruhe zum Munde – manchmal auch gleich mit der Messerspitze ... wenn das auch nicht gerade appetitlich aussah, so hielt er sich doch vortrefflich, weder das Schwanken beim Rollen, noch die Stöße bei dem Stampfen des Schiffes waren im Stande, ihn um einen guten Bissen oder um einen Schluck aus dem Glase zu bringen.
Noch etwas weiter entfernt sitzen die beiden Söhne des Himmels, die ich neugierig betrachte.
Der eine ist ein junger Mann von vornehmer Erscheinung, gegen fünfundzwanzig Jahre alt und, trotz seines gelben Teints und der geschlitzten Augen, von recht hübschen Gesichtszügen. Einige in Europa verbrachte Jahre haben sein Auftreten ebenso wie sein Costüm unverkennbar europäisirt. Sein Schnurrbart erscheint sorgsam gepflegt, der Blick lebhaft, und das Haar trägt er weit eher wie unsereiner, als wie ein Chinese. Er macht den Eindruck eines liebenswürdigen, heiteren jungen Mannes, der gewiß nicht gar so häufig »den Thurm der Reue« besteigt (um eine in seiner Heimat beliebte Metapher zu gebrauchen).
Sein Gefährte dagegen, über den er sich ohne Zwang etwas lustig zu machen scheint, ist der richtige Typus jener Porzellanpagoden mit wackelndem Kopfe. Dieser mag fünfzig bis fünfundfünfzig Jahre zählen; er hat ein winziges Gesicht, den Hinterkopf halb rasirt, trägt den landesüblichen Zopf und die nationale Kleidung, Rock, Weste, Gürtel, weite Pluderhosen und Schuhe, Alles von greller Farbe – ein Musterexemplar der »grünen Familie«. Er hält sich nur mit Mühe aufrecht, und nach einer heftigen Schlingerbewegung mit den[44] begleitenden Rasseln und Klirren des Tafelgeschirrs, erhebt er sich und eilt die Treppe nach dem Deck hinaus. Der jüngere Sohn des Himmlischen Reiches aber ruft ihm nach und hält dem Manne ein kleines, auf dem Tische zurückgelassenes Buch entgegen:
»Carnaro! ... Carnaro!«
Was hat dieses italienische Wort in orientalischem Munde zu schaffen? ... Das »XX. Jahrhundert« hat ein Recht, das zu wissen und wird es auch erfahren.
Frau Caterna betreffend, so erhebt sich diese ganz bleich im Gesicht, und Herr Caterna, ein Musterehemann, folgt ihr nach dem Verdeck.
Nach dem Essen lasse ich Fulk Ephrjuell und Miß Bluett ruhig von Courtage und Preisverzeichnissen weiter verhandeln und spaziere ein wenig auf dem Hinterdeck der »Astara« umher.
Jetzt ist es fast Nacht. Vor dem Ostwinde schnell dahinziehende Wolken bedecken in langen Streifen die oberen Zonen des Himmels, an dem vereinzelt noch Sterne hervorschimmern. Die Brise frischt weiter auf. Die Laterne mit dem weißen Licht am Fockmaste des Dampfers klappert bei jeder Bewegung des Schiffes. Die beiden Positionslichter strahlen, jedem Schwanken nachgebend, lange Streifen rothen oder grünen Lichtes über die Wellen hin.
Bald kommt mir Fulk Ephrjuell wieder zu Gesicht. Da Miß Horatia Bluett ihre Cabine aufgesucht hat, will er sich im Achtersalon ein Stückchen Divan suchen, um die langen Glieder auszustrecken. Ich wünsche ihm gute Nacht und er verläßt mich nach der gleichen Begrüßung.
Ich selbst werde, in meine Reisedecke eingewickelt und in einer Ecke des Verdecks lehnend, schlafen wie ein Matrose, der keine Wache hat.
Noch ist's erst um acht Uhr. Ich zünde also eine Cigarre an und mit gespreizten Beinen, um bei den Schlingern des Bootes sicher zu stehen, beginne ich längs der Schanzkleidung hinzuschlendern. Die Passagiere erster Classe haben das Deck bereits verlassen und ich befinde mich so ziemlich allein. Auf der Laufbrücke geht der zweite Officier hin und her und beobachtet die eingehaltene Richtung, die er dem neben ihm stehenden Steuermann angiebt. Die Schaufeln der Räder schlagen heftig ins Wasser ein und bringen fast ein donnergleiches Geräusch hervor, wenn eines oder das andere einmal nicht eintaucht. Aas dem Schornstein, der von Zeit zu Zeit glühende Funken ausspeit, wirbelt ein beißender Rauch, der vom Winde schnell zerstreut wird, in die Luft.[45]
Um neun Uhr ist es ganz finster geworden. Ich bemühe mich, in der Entfernung die Lichter eines Fahrzeuges zu entdecken, doch vergeblich, denn das Caspische Meer wird nicht stark befahren. Man vernimmt nur das Geschrei von Seevögeln, von Möven und Wildenten, die mit dem Winde einherflattern.
Während meines Spazierganges kommt mir ein peinlicher Gedanke. Wenn die Fahrt nun verliefe, ohne daß ich etwas von ihr für mein Journal herausschlagen könnte!
Die Direction würde mich dafür und am Ende mit Recht verantwortlich machen. Wie! ... Nicht ein einziges Abenteuer von Tiflis bis nach Peking! ... Das kann offenbar nur an mir liegen. Ich bin fest entschlossen, ein solches Unglück zu vermeiden.
Es ist zehneinhalb Uhr und ich setze mich auf eine Bank des Hinterdecks der »Astara«. Bei dem Winde, der mir ins Gesicht pfeift, ist an Schlafen freilich nicht zu denken.
Ich erhebe mich also wieder und gehe nach dem Vordertheil, immer am Dahlbord entlang. Unter der Laufbrücke zwischen den Radkasten werde ich vom Winde so heftig geschüttelt, daß ich hinter den mit getheertem Segeltuch bedeckten Collis Schutz suchen muß. Neben den Kisten und Kasten ausgestreckt, dicht in meine Decken gehüllt, schlafe ich denn auch bald ein.
Nach einiger Zeit, wann es war, vermag ich nicht genau anzugeben, werd' ich durch ein eigenthümliches Geräusch geweckt. Woher kommt dieses Geräusch? ... Ich horche auf. Es klingt wie Schnarchen dicht an meinem Ohr.
»Das wird ein Passagier vom Vorderdeck sein, denke ich mir. Er wird sich unter dem Segeltuch zwischen den Kisten häuslich eingerichtet haben und dürfte sich in dieser improvisirten Cabine gar nicht am schlechtesten befinden.«
Bei dem schwachen Scheine, der aus dem unteren Theile des Compaßhäuschens hervordringt, kann ich nichts bemerken.
Ich lausche von neuem .... Das Geräusch ist verstummt.
Ich sehe mich um ... Niemand auf diesem Theile des Decks, denn die Passagiere zweiter Classe liegen alle auf dem Vorderdeck ausgestreckt.
So muß ich also geträumt haben, und schon lege ich mich wieder zurecht, um weiter zu schlafen ....
Jetzt war kein Irrthum möglich. Das Schnarchen hat auf's neue begonnen und ich überzeuge mich, daß es aus dem Kasten kommt, gegen den ich den Kopf stütze.[46]
»Donnerwetter, rufe ich für mich selbst, da steckt ein Thier in dem Kasten!«
Ein Thier? ... Ja, was denn für eins? ... Ein Hund? ... Nein! Warum sollte man denn den Hausfreund des Menschen in einen Kasten gesteckt haben? ... Also ein Raubthier ... ein Panther, ein Tiger, ein Löwe ...
Jetzt hab' ich eine Fährte aufgespürt .... Raubthiere, die nach einer Menagerie oder zu einem Sultan Centralasiens gebracht werden. Dieser Kasten ist ein Käfig, und wenn der Käfig sich öffnete, wenn die Bestie sich auf das Deck stürzte ... das wäre doch ein Reiseerlebniß ... ein fetter Bissen für einen Reiseberichterstatter! ... Hier erkennt der Leser, wohin bei Ueberreizung des Gehirns ein Reporter, der auf der Suche ist, verfallen kann; ich muß um jeden Preis wissen, für wen dieses Raubthier bestimmt ist, ob nach Uzun-Ada oder ob es nach China geht. – Der Kasten muß doch eine Adresse haben.
Ich nehme ein Wachsstreichhölzchen, entzünde dasselbe, und da ich mich unter dem Wind halte, steigt dessen kleine Flamme gerade in die Höhe ...
Was sehe ich nun bei ihrem Scheine? ...
Der Kasten mit dem Raubthier ist gerade der, der die Adresse trägt: Fräulein Zinca Klork, Cha-Chuastraße, Peking, China ....
Mein Raubthier und zerbrechlich! ... Mein Löwe vor Feuchtigkeit zu bewahren! ... Na, sei es denn! Aus welchem Grunde aber läßt Fräulein Zinca Klork, diese hübsche – denn hübsch maß sie sein, diese Rumänin – und eine Rumänin ist sie außer Zweifel – ein Raubthier unter so merkwürdiger Bezeichnung des Kistenkäfigs befördern?
Denken wir lieber nach, statt unvernünftige Reden zu führen. Dieses Thier, mag's nun sein, was für eins es will, muß doch fressen und saufen. Von Uzun-Ada aus dauert die Fahrt bis zur Hauptstadt des Himmlischen Reiches volle elf Tage. Wer wird ihm Futter, wer Wasser bringen können, wenn es seinen Käfig nicht verlassen kann, wenn es während der ganzen Reise eingeschlossen bleiben soll? Die Beamten der Groß-Transasiatischen Eisenbahn werden genanntem Raubthiere nur die für den Transport von Spiegelglas erforderliche Aufmerksamkeit schenken, denn als solches ist es declarirt, und dabei muß es ja verhungern.
Alles wirbelt mir im Kopfe und meine Gedanken werden unklar.
»Ist's nur ein reizender Traum, der mich täuscht oder ob ich wache?« wie Margarethe sich im »Faust«, in einem mehr lyrischen als grammatikalischen Satze ausdrückt. Zu widerstehen ist mir unmöglich. Ich habe eine Last von zwei Kilo[47] auf jedem Augenlide. Ich will mich längs des Segeltuches niedergleiten lassen; die Decke hüllt mich noch dichter ein und ich falle wieder in tiefen Schlummer.
Wie lange ich jetzt geschlafen haben mag? Vielleicht drei bis vier Stunden. Sicherlich war es noch nicht hell, als ich wieder wach wurde.
Nachdem ich mir die Augen gerieben, richte ich mich in die Höhe, stehe auf und stütze mich auf die Schanzkleidung.
Seit der Wind mehr nach Nordwesten umgegangen ist, wird die »Astara« weniger vom Seegang geschaukelt.[48]
Die Nacht ist kalt. Ich erwärme mich, indem ich eine halbe Stunde lang mit großen Schritten auf dem Verdeck umherlaufe. Plötzlich fällt mir ein, ob es nicht angezeigt sei, den Bahnhofsvorsteher von Uzun-Ada auf jenes beunruhigende Frachtstück aufmerksam zu machen; doch das ist ja meine Sache nicht, das wird sich vor der Abfahrt von dort schon finden.
Ich sehe nach der Uhr, es ist erst drei Uhr Morgens. Nun den alten Platz wieder eingenommen. Das thue ich denn auch, und den Kopf gegen die Wand des Kastens gelehnt, schließe ich die Augen ...
[49] Plötzlich ein neues Geräusch ... jetzt kann ich mich nicht täuschen .... Ein halb unterdrücktes Niesen, das die Wand des Kastens erschüttert ... Nein, in dieser Weise hat noch kein Thier geniest!
Wär's möglich? In dem Kasten ist ein menschliches Wesen versteckt und läßt sich als Contrebande der schönen Rumänin auf der Groß-Transasiatischen Bahn befördern? ... Doch ist das ein Mann oder ein Weib? ... Es schien mir, als ob das Niesen einen mehr männlichen Klang gehabt hätte.
Jetzt konnte ich natürlich nicht mehr schlafen. Wie lange läßt der Tag noch auf sich warten, und wie drängt es mich, das Frachtstück näher zu untersuchen! Ich haschte nach kleinen Ereignissen; da läuft mir eins in die Hand, und wenn ich daraus nicht einen Bericht von fünfhundert Zeilen mache ...
Endlich fliegt ein bleicher Schein über den östlichen Horizont. Die Wolken im Zenith erhalten davon die erste Färbung, zuletzt erhebt sich der Sonnenball, aber ganz naß von dem Staube der Wolken.
Ich sehe auf; ja, das ist der nach Peking bestimmte große Kasten; ich entdecke, daß in denselben da und dort Löcher gebohrt sind, um einen Luftwechsel im Innern zu ermöglichen. Vielleicht belauschen durch diese Löcher zwei Augen, was draußen vorgeht? ... Doch, keine Indiscretion!
Zum Frühstück haben sich die von der Seekrankheit verschont gebliebenen Tischgäste von gestern eingefunden; der junge Chinese, der Major Noltitz, Fulk Ephrjuell, Miß Horatia Bluett, Herr Caterna (allein), der Baron Weißschnitzerdörser und sieben oder acht andere Passagiere. Ich werde mich hüten, dem Amerikaner das Geheimniß der Kiste anzuvertrauen. Er würde nur eine Indiscretion begehen, und dann Adieu mit meinem Bericht!
Gegen Mittag wird in der Richtung nach Osten Land gemeldet – ein flaches, gelbliches Land, ohne felsige Küste, nichts als Dünen, die sich in der Umgebung von Krasnovodsk weithin ausdehnen.
Um ein Uhr sind wir in Sicht von Uzun-Ada. – Ein Uhr siebenundzwanzig setze ich den Fuß auf asiatischen Boden.[50]
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