Neunzehntes Capitel.

[194] Beim Erwachen glaube ich mich aus einem recht schlechten Traume zu erheben. Es handelt sich dabei nicht um einen jener Träume, die man erst nach den Grundsätzen des »Goldenen Schlüssels« zu deuten vermag. Nein, die Sache liegt weit einfacher. Der Räuberhauptmann Ki-Tsang, der einen Handstreich vorbereitet hat, um sich des chinesischen Schatzes zu bemächtigen, will unsern Zug in den Ebenen von Gobi überfallen .... Der Waggon wird erstürmt, geplündert, zerstört ... Gold und Edelsteine im Werthe von fünfzehn Millionen werden der Himmlischen Schutzwache entrissen und diese selbst nach heldenhafter Gegenwehr niedergemacht .... Was die Reisenden betrifft ... nur noch zwei weitere Minuten Schlafes ... und ich hätte auch deren Schicksal erfahren.[194]

Das Bild verschwand jedoch mit den Dünsten der Nacht. Träume sind keine unveränderlichen Photographien; sie verbleichen an der Sonne und verschwinden endlich ganz.

Während ich meinen gewohnten Gang durch den ganzen Zug mache, wie ein guter Bürger durch die Straßen seiner Ortschaft, schließt sich mir der Major Noltitz an. Nach einem Händedruck zeigt er mir einen Mongolen, der in der zweiten Classe Platz genommen hatte, und sagt:

»Das ist keiner von denen, die wir gleichzeitig mit dem Bahnverwalter Farnsklar und Ghangir in Duchak aufgenommen haben.

– Wahrhaftig, Herr Major, dieses Gesicht hab' ich im Zuge bisher nicht gesehen.«

Popof, an den ich mich deshalb wende, erklärt mir, daß dieser Mongole in der Station Tcherichen eingestiegen sei. »Und sofort nach seinem Erscheinen, fährt er fort, hat der Verwalter einen Augenblick mit ihm gesprochen, woraus ich schließe, daß dieser neue Passagier auch ein Beamter der Groß-Transasiatischen Bahngesellschaft sein müsse.«

Den Seigneur Farnsklar hab' ich bei meiner Promenade übrigens nicht gesehen. Vielleicht ist er an einer der kleinen Stationen zwischen Tchertchen und Tcharkalyk, wo wir gegen ein Uhr Mittags ankommen sollen, schon ausgestiegen.

Doch nein, da steht ja Ghangir auf der vordern Plattform unsers Wagens. Er scheint in lebhaftem Gespräch begriffen, das er nur zuweilen unterbricht, um die weite Ebene nach Nordosten hin mit sichtbarer Ungeduld zu mustern. Sollte eine von jenem Mongolen überbrachte Nachricht die Beiden aus der gewohnten Zurückhaltung und dem früheren Ernste gerissen haben? Ich, überlasse mich meiner Phantasie, und sehe da Abenteuer vor mir, Räuberüberfälle, wie in meinem Traum ...

Da werd' ich durch den Reverend Nathaniel Morse in die Wirklichkeit zurückversetzt, als dieser mir meldet:

»Also heute ... um neun Uhr ... vergessen Sie es nicht, mein Herr.«

Es handelt sich um die Trauung Fulk Ephrinell's und der Miß Horatia Bluett – meiner Treu, daran dacht' ich schon gar nicht mehr. Da ist es Zeit, sich nach dem Toilettecabinet des Waggons zu begeben. Ich kann freilich nichts weiter thun, als die Leibwäsche zu wechseln. Mir als Zeugen genügt es ja, so zu erscheinen, daß ich keinen Anstoß errege; der zweite Zeuge, Herr Caterna, wird sich schon anders herausputzen.[195]

Richtig, unser Theaterheld hat sich in den Packwagen begeben – ich zittre schon um den armen Kinko – und hier mit Hilfe Popof's aus einem seiner Koffer ein etwas verblichenes Costüm hervorgebracht, das des Erfolges bei einer Hochzeit jedoch sicher ist: einen buttergelben Frack mit metallnen Knöpfen und einem Sträußchen im Knopfloche, Halstuch mit ganz unwahrscheinlichem Brillanten, ponceaurothe Hofe mit kupfernen Schnallen, geblümte Weste, geflammte Strümpfe, filetseidne Handschuhe, schwarze leichte Schuhe und einen langhaarigen Hut. Wieviel junge Vermählte oder vielmehr brave Oheime von Jungvermählten mag unser Künstler wohl in dieser herkömmlichen Tracht schon dargestellt haben! ... Er sieht übrigens prächtig aus mit dem heiter dreinschauenden Gesicht, dem möglichst abrasirten Barte, den etwas bläulichen Wangen, den blitzenden Augen und den rosenrothen Lippen.

Frau Caterna erscheint nicht weniger aufgeputzt als er. Das Costüm als Ehrendame hat sie ihrer eignen Garderobe entnehmen können: Ein Leibchen mit abwechselnden Streifen, kurzen Rock von grüner Farbe, straffsitzenden malvengelben Strümpfen, mit künstlichen Blumen, die noch obendrein den natürlichen Duft ausströmen, geschmücktem Hute, und eine Spur von Schwarz unter den Augenlidern, nebst schwachem Roth auf den Wangen. So sieht die richtige Soubrette der Provinzbühne aus, und wenn sie und ihr Gatte bereit wären, nach dem Hochzeitsschmause ein kleines Schäferstück aufzuführen, würden sie ohne Zweifel stürmischen Beifall ernten.

Um neun Uhr soll die Feierlichkeit ihren Anfang nehmen. Die Tenderglocke giebt dazu ein Zeichen und läutet und läutet dann weiter, wie die Glocke einer Kapelle. Bei einigermaßen lebhafter Einbildung könnte man sich schon in ein Dörfchen versetzt glauben. Wohin ruft die Glocke aber die Zeugen und die übrigen Gäste? ... In den Restaurationswagen, der, wie ich gesehen habe, zur bevorstehenden Ceremonie ganz passend eingerichtet worden ist.

Das ist schon kein Dining-car mehr, sondern ein »Hall-car«, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist. Der große Tisch in der Mitte ist zusammengeschlagen und hat einem kleinen Platz gemacht, der als Schreibepult dienen wird. Einige in der Station Tcherichen eingekaufte Blumen schmücken die Ecken des Waggons, der groß genug ist, um die meisten Theilnehmer aufzunehmen. Uebrigens werden diejenigen, die im Waggon nicht Platz finden, sich auf den Plattformen aufhalten.[196]

Die Reisegesellchaft ist durch einen einfachen Anschlag an den Thüren der Wagen erster und zweiter Classe von dem Vorgange unterrichtet worden; dieser Anschlag lautet:

»Herr Fulk Ephrjuell, vom Hause Strong Bulbul and Co. in New-York, giebt sich die Ehre, Sie zu seiner Trauung mit Miß Horatia Bluett vom Hause Holmes-Holme in London, die unter Beistand des Reverend Nathaniel Morse aus Boston im Dining-car der Groß-Transasiatischen Bahn am 22. Mai pünktlich um neun Uhr Morgens stattfinden wird, ergebenst einzuladen.

Miß Horatia Bluett vom Hause Holmes-Holme in London giebt sich die Ehre, Sie zu ihrer Trauung mit Fulk Ephrjuell vom Hause Strong Bulbul and Co. in New-York ergebenst einzuladen, die u.s.w. u.s.w.«

Wahrlich, wenn ich von dieser Geschichte nicht einen Artikel von hundert Zeilen herausschlage, hab' ich meinen Beruf verfehlt.

Inzwischen erkundige ich mich bei Popof, an welchem Punkte sich der Zug zur Zeit der Feierlichkeit befinden wird.

Popof zeigt mir das auf seinem Stundenplan. Der betreffende Punkt liegt hundertfünfzig Kilometer von der Station Tcharkalyk mitten in der Wüste, durch die hier ein kleiner Nebenfluß des Lob-Nor hinschleicht. Unter weiteren hundert Kilometern treffen wir auf keine Station, und die Ceremonie wird also ohne irgendwelche Unterbrechung vor sich gehen können.

Selbstverständlich sind wir, Herr Caterna und ich, schon seit ein halb acht Uhr fix und fertig, unser Mandat ausüben zu können.

Der Major Noltitz und Pan-Chao haben ihre Toilette für die Feierlichkeit ebenfalls vollendet – der Major ernsthaft wie ein Chirurg, der ein Bein abschneiden will, der Chinese heiter wie ein Pariser Bonvivant bei einer ländlichen Hochzeit.

Auch Tio-King und »Cornaro«, von denen der Eine den Andern trägt, werden bei dem kleinen Feste erscheinen. Der edle Venetianer war, wenn ich nicht irre, ehelos; ich glaube indeß nicht, daß er seine Meinung über die Ehe, unter Berücksichtigung des dadurch verursachten Verbrauchs der Lebenskräfte, speciell abgegeben hat, wenn sich das nicht im Anfang des Capitels findet, das die Aufschrift fährt: »Sicher und leicht anzuwendende Mittel zur Abwendung aller Gefahren, die dem Leben drohen können.«

»Na, setzt Pan-Chao, der mir diese Cornaro'sche Phrase anführt, hinzu, ich dächte, die Eheschließung könnte als eine dieser Gefahren bezeichnet werden.«[197]

Es ist dreiviertelneun Uhr. Noch hat Niemand die späteren Ehegatten zu Gesicht bekommen.

Miß Horatia Bluett hält sich noch in einem der Toilettecabinette des ersten Wagens auf, wo sie jedenfalls mit ihrem Hochzeitsschmuck beschäftigt ist. Fulk Ephrjuell dürfte wohl die letzte Hand an seine Cravatte legen und seine Ringe, Berloques und andre Gegenstände tragbaren Schmuckes in Ordnung bringen. Ich bin nicht unruhig, ich weiß ja, daß wir mit dem Glockenschlage neun die Beiden werden erscheinen sehen.

Nur Eines bedaure ich lebhaft, daß nämlich der Seigneur Farnsklar und Ghangir viel zu beschäftigt sind, um an den Freuden dieses Ereignisses theilzunehmen, denn unausgesetzt durchforschen ihre Blicke die endlose Wüste. Vor ihren Augen entrollt sich ja keine angebaute Steppe wie in der Nachbarschaft des Lob-Nor, sondern die Gobi-Wüste in ihrer ganzen Dürre, Trostlosigkeit und Traurigkeit, wie man das aus den verläßlichen Berichten von Gajimallo, Blanc und Martin schon längst weiß. Man möchte sich wirklich fragen, warum die beiden Männer mit so eigenthümlicher Zähigkeit immer und immer da hinausstarren.

»Trügen mich meine Ahnungen nicht, sagt der Major Noltitz zu mir, so müssen sie hier etwas auf dem Korn haben!«

Was bedeuten diese Worte? ... Doch ... eben läßt die Tenderglocke ihre freudigen Töne erschallen. Neun Uhr; es ist nun Zeit sich nach dem Dining-car zu begeben.

Herr Caterna hat neben mir Platz gesucht und ich höre, wie er vor sich hinträllert:


»Das ist des Kirchleins Glocke,

Die jetzt so schön ertönt ...«


Während Frau Caterna auf das Trio in der »weißen Dame« mit dem Refrain aus dem »Dragoman von Villars« antwortet:


»Sie tönen, tönen, tönen ...

Und läuten den Festtag ein ...«


wobei sie, wie auf der Bühne, Bewegungen macht, als ziehe sie am Glockenstrange.

Zum Festzuge geordnet brechen die Reisenden auf, zuerst die vier Zeugen, dann die Gäste von beiden Enden des Dorfes – des Zuges, wollt' ich sagen – Chinesen, Turkmenen, eine Anzahl von Tataren, Männer und Frauen, alle begierig, der Ceremonie beizuwohnen. Die vier Mongolen allein sind auf der[198] letzten Plattform vor dem Wagen mit dem Schatze geblieben, den auch die chinesischen Soldaten keinen Augenblick außer Acht lassen dürfen.

Wir kommen nach dem Dining-car.

Der Geistliche sitzt vor dem kleinen Tische, auf dem der Ehecontract liegt, den er nach Verabredung aufgesetzt hat. Der gute Mann ist an solche ebenso geschäftliche wie eheliche Operationen entschieden schon gewöhnt.

Das Paar Ephrjuell-Bluett ist noch nicht erschienen.

»Was der Teufel, raune ich dem Komiker zu, sollten sie es sich anders überlegt haben?

– Na, wenn sie zurückgetreten wären, antwortet Herr Caterna lachend, dann kann der Reverend mich und meine Frau noch einmal trauen .... Wir sind nämlich im Hochzeitsstaat und man wühlt doch seine Sachen nicht für nichts und wieder nichts durch. Nicht wahr, Caroline?

– Gewiß. Adolph!« erwidert die zierliche Soubrette.

Diese lustige zweite Auflage der Eheschließung des Herrn und Frau Caterna sollte jedoch nicht zu Stande kommen. Da tritt schon Herr Fulk Ephrjuell ein, diesen Morgen ganz in derselben kühlen Haltung wie gestern und – wohl zu bemerken – auch noch mit dem Bleistift hinter den langen Ohren, denn der ehrbare Handelsreisende hat eben noch eine Rechnung für sein Haus in New-York fertig gestellt.

Da erscheint auch Miß Horatia Bluett, so mager, so trocken, so ruhig wie es eine britische Händlerin nur sein kann; sie trägt noch den Reisestaubmantel und an Stelle kostbaren Schmucks einen Schatz von rasselnden Schlüsseln, die an ihrem Gürtel hängen.

Die Anwesenden haben sich beim Eintritt der Hauptpersonen des Schauspiels ehrfurchtsvoll erhoben. Nachdem Beide nach rechts und nach links hin gegrüßt, nehmen sie einen »Anlauf«, wie Herr Caterna sagen würde, damit begeben sie sich zu dem Geistlichen, der stehend die Hände auf die aufgeschlagene Seite einer Bibel gelegt hat, gewiß auf die Seite, wo Isaak, der Sohn des Abraham und der Sarah, Rebekka, die Tochter Bethuel's, heiratet.

Ließe jetzt ein Harmonium seine angepaßten Klänge erschallen, so würde man sich in eine Kapelle versetzt glauben ....

Richtig, da geht die Musik los! Aas einem Harmonium ertönte sie freilich nicht, dagegen aus einer etwas kurzathmigen Ziehharmonika in den Händen Caterna's. Von seiner Seemannszeit her versteht er den Marterkasten zu[199] handhaben, und jetzt trägt er das geschmacklose Andante aus Norma mit den bei der Harmonika unvermeidlichen kleinen Abänderungen vor.


Da steht ja Ghangir auf der vordern Plattform unsers Wagens. (S. 195.)
Da steht ja Ghangir auf der vordern Plattform unsers Wagens. (S. 195.)

Das scheint die Eingebornen Centralasiens höchlichst zu ergötzen. Niemals hat diese aus der Mode gekommene Melodie, die der pneumatische Apparat so ausdrucksvoll wiedergiebt, ihren Ohren geschmeichelt!


Frau Caterna erscheint nicht weniger aufgeputzt als er. (S. 196.)
Frau Caterna erscheint nicht weniger aufgeputzt als er. (S. 196.)

Schließlich nimmt ja in dieser Welt Alles ein Ende – auch das Andante aus Norma, und der Reverend Nathaniel Morse beginnt seinen Trauungsspeech, den er bei ähnlicher Gelegenheit schon viele mal hergesagt hat: »Die beiden[200] Seelen, die mit einander verschmelzen ... das Fleisch des Fleisches ... gehet hin und mehret Euch ...«

Meines Erachtens nach, hätte er einfach wie ein richtiger Notar näselnden Tones sagen sollen:

»Vor uns, dem Notar-Priester, ist ein Schriftstück vollzogen worden bezüglich der zu errichtenden Firma Ephrinell-Bluett & Co ....«

Mein Gedanke bleibt unvollendet. Von der Locomotive her dringt ein lautes Geschrei bis zu uns. Die plötzlich angezogenen Bremsen knirschen an den[201] Rädern. Einige Stöße, dann fährt der Zug langsamer; endlich hält ein noch stärkerer Stoß den Zug inmitten einer Sandwolke an.

Welcher Riß in der Trauungsfeierlichkeit, und wie schnell »haben wir unseren Draht auf der Erde hingeführt«, um ein bei den Telegraphisten beliebtes Wort zu gebrauchen.

Alles im Dining-car, Menschen und Möbelstücke, die Zukünftigen und die Zeugen werden durcheinander geworfen. Niemand vermag sich aufrecht zu erhalten, es ist ein unbeschreiblicher Wirrwar, gemischt mit schrecklichem Geschrei und manchem Schmerzensrufe .... Doch, ich beeile mich, darauf hinzuweisen, daß ein ernsteres Unglück nicht vorgekommen sein kann, denn wir wurden ja nicht augenblicklich aufgehalten.

»Schnell aus dem Zuge!« ruft mir der Major zu.

Quelle:
Jules Verne: Claudius Bombarnac. Notizbuch eines Reporters. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXII, Wien, Pest, Leipzig 1894, S. 194-202.
Lizenz:

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