|
[62] Wer die mitleidige Dame war, die hier so entschlossen für die Rettung der beiden Bedrohten eintrat, wußte zunächst niemand, und niemand wäre auch erstaunt gewesen, wenn sie selbst durch die Flammen gedrungen wäre, um diesen das schwächliche Opfer zu entreißen. Und wäre das Kind ihr eignes gewesen, sie hätte es kaum liebevoller in die Arme nehmen können, als sie es nach ihrem an der nächsten Straßenecke wartenden Wagen trug, während sich die Kammerfrau der Fremden vergeblich bemühte, die Dame von ihrem Entschluß abzubringen.
»Nein, Elisa! wiederholte sie, lass' ihn, er gehört mir. Der Himmel hat es mir vergönnt, ihn dem brennenden Hause zu entreißen. O, ich danke Dir, ich danke Dir, mein Gott!... Ach, wie ich ihn schon lieb habe.«
Der »geliebte« war schon halb erstickt, sein Athem unterbrochen, der Mund stand wie gelähmt etwas offen und seine Augen waren geschlossen. Er hätte der frischen Luft bedurft, und jetzt, wo er von dem Rauch der Feuersbrunst fast erstickt war, lief er Gefahr, von den Liebkosungen erstickt zu werden, die seine Retterin an ihn verschwendete.
»Nach dem Bahnhofe, rief diese dem Kutscher zu, als sie den Wagen erreichte, nach dem Bahnhofe!... Eine Guinee, wenn wir den Zug um neun Uhr fünfundvierzig nicht versäumen!«
Gegen ein solches Versprechen konnte der Kutscher nicht unempfindlich sein, vor allem, da die Trinkgeldunsitte in England noch nicht so heimisch ist. So trieb er das Pferd vor seinem »Growler« an, wie diese alterthümlichen und unbequemen Fuhrwerke heißen.
Doch wer war nun diese von der Vorsehung geschickte Dame? War der Findling durch besondres Glück in Hände gefallen, die sich für immer über ihn breiten sollten?
Miß Anna Walston war es, die erste Heldin des Drury-Lane-Theaters, eine Art Sarah Bernhardt, auf der Tournée, welche augenblicklich am Theater[62] zu Limerick, in der gleichnamigen Grafschaft der Provinz Munster, Vorstellungen gab. Eben hatte sie eine mehrtägige Erholungsreise durch die Grafschaft Galway gemacht, wobei ihre Kammerfrau sie begleitete. Die wortkarge Elisa Corbett war übrigens eine ebenso mürrische, wie treuergebene Freundin ihrer Herrin
Die Schauspielerin war eine vortreffliche, beim Publicum ungemein beliebte Dame, die sich für alles lebhaft interessierte und Herz und Hand stets offen hatte, während sie sich ihrer Kunst mit heiligem Ernste widmete und eifrigst bemüht war, ihren Ruhm nicht durch einen Schnitzer aufs Spiel gesetzt zu sehen.
Miß Anna Walston, die jedermann in allen Grafschaften des Vereinigten Königreichs kannte, wartete nur auf die passende Gelegenheit, sich in Amerika, in Indien und Australien, d. h. überall, wo die englische Sprache vorherrschte, neue Lorbeeren zu pflücken, denn sie war es müde, da zu glänzen, wo ihr jede Anerkennung mühelos zu Theil wurde.
Vor drei Tagen war sie, müde der fortwährenden Anstrengungen bei den Trauerspielen, in denen sie im letzten Acte regelmäßig sterben mußte, hierher gekommen, um die reine und stärkende Luft von Galway zu genießen. An jenem Abende wollte sie sich eben nach dem Bahnhofe begeben, um nach Limerick zurückzufahren, wo sie am nächsten Tage aufzutreten hatte, als ihre Aufmerksamkeit durch laute Hilferufe und den Widerschein von Feuer erweckt wurde. Die Ragged-School stand in hellen Flammen.
Eine Feuersbrunst! Wie hätte sie dem Verlangen widerstehen können, einer solchen, die sich von den zahmen Bränden auf der Bühne so gewaltig unterschied, mit beizuwohnen! Auf ihr Geheiß und trotz des Widerspruchs Elisas hatte der Wagen an der nächsten Ecke gehalten, und Miß Anna Walston beobachtete die verschiedenen Stadien dieses Schauspiels, das denen, die die Feuerwehrleute hinter den Coulissen mit wachsamem Auge beobachteten, so wesentlich überlegen war. Hier sanken die Versetzstücke thatsächlich zusammen und unter ihnen stand alles in leibhaftigem Feuer.
Der Verlauf des Unglücks entbehrte auch sonst nicht des spannenden Interesses. Zwei menschliche Wesen waren in einer Dachkammer eingeschlossen, deren Treppenzugang schon in Flammen stand und die keinen andern Ausweg bot. Zwei Knaben, ein großer und ein kleiner... vielleicht wäre ein gefährdetes kleines Mädchen noch interessanter gewesen. Wie herzzerreißend schrie Miß Anna Walston da auf. Sie wäre den beiden wohl selbst zu Hilfe geeilt, wenn ihr weiter Staubmantel sich nicht gar so leicht selbst[63] entzündet hätte. Da öffnete sich übrigens schon das Dach neben der Bodenkammer. Die beiden Unglücklichen erschienen inmitten der Rauchwolken, wobei der Große den Kleinen trug.
Ah! Der Große! Welcher Held und in welcher künstlerischen Pose zeigte er sich! Das war der Ausdruck unnachahmlicher Wahrheit!... Der arme Große! Er hatte wohl keine Ahnung davon, welchen Effect er hervorbrachte. Und der andre... der nice Boy! Der hübsche Junge! rief Miß Anna Walston wiederholt, das ist ein Engel, der aus den Flammen der Hölle kam!... Wahrlich,[64] Findling, das war wohl das erste Mal, daß Du mit einem Cherub oder einem andern Muster der himmlischen Heerschaaren verglichen wurdest!
Ja, diese Inscenierung hatte Miß Anna Walston bis in jede Einzelheit verfolgt. Wie auf der Bühne rief sie: »Mein Geld, meinen Schmuck, alles was ich besitze dem, der sie rettet!« Doch niemand hatte an den glühenden Wänden und auf das prasselnde Dach hinaufklimmen können. Endlich war der Cherub von ein paar offenen Armen aufgefangen worden und von da in die Arme der Miß Anna Walston übergegangen.... Jetzt besaß der kleine Knabe[65] plötzlich eine Mutter, von der die Leute meinten, es müsse eine große Dame sein, die ihr eignes Kind im Brande der Ragged-School entdeckt hätte.
Nachdem sie die Umstehenden mit einer Verneigung begrüßt und von diesen bejubelt worden, war Miß Anna Walston mit ihrem Schatze verschwunden, was auch die Kammerfrau dagegen einwenden mochte. Von einer fünfundzwanzigjährigen Schauspielerin mit warmen Gefühlen und etwas freien Anschauungen durfte man da nicht verlangen, daß sie ihrer Eingebung Zügel anlegte und sich immer auf goldner Mittelstraße hielt, wie die siebenunddreißigjährige, blonde, kalte und nörgelige Elisa Corbett, die schon mehrere Jahre im Dienste ihrer etwas phantastischen Herrin stand. Die Schauspielerin dagegen glaubte sich immer auf den Brettern zu befinden und wurde sozusagen stets von ihrem Repertoire beherrscht. Ihr gestalteten sich die gewöhnlichsten Vorkommnisse des Lebens zu »Situationen«, und wenn eine solche einmal gegeben war....
Natürlich traf der Wagen rechtzeitig am Bahnhofe ein und der Kutscher erhielt seine versprochne Guinee. Und jetzt konnte sich Miß Anna Walston, die mit Elisa ein Coupé allein einnahm, allen den Pflichten widmen, die das Herz einer wirklichen Mutter nur zu dictieren vermocht hätte.
»Es ist mein Kind!... Mein Blut... mein Leben! er klärte sie, niemand soll mir ihn wieder rauben!«
Es hätte ja auch kein Mensch daran gedacht, ihr diesen kleinen Verlassnen wieder abzunehmen.
Elisa freilich bemerkte dazu:
»Wir werden ja sehen, wie lange es dauert!«
Der Zug rollte mit mäßiger Geschwindigkeit nach dem Kreuzungspunkte von Artheury, durch die Grafschaft Galway dahin, die er mit der Hauptstadt Irlands verbindet. Während dieses ersten kurzen Theiles der Fahrt war der kleine Knabe nicht wieder zur Besinnung gekommen, obwohl sich die Schauspielerin darum in jeder Weise bemühte.
Miß Anna Walston beschäftigte sich zuerst damit, ihn umzukleiden, und nahm ihm die von Rauch geschwärzten Lumpen ab, bis auf die noch ziemlich gut erhaltene wollene Jacke, während sie ihn sonst von ihren eignen Kleidungsstücken anpaßte, was sich nur dazu verwenden ließ, und ihn mit ihrem kostbaren Shawle zudeckte. Das Kind schien aber gar nicht zu bemerken, daß es jetzt warme Hüllen trug und ein noch wärmeres Herz, das für ihn sorgte, gewonnen hatte.[66]
An der Kreuzungsstelle wurde ein Theil des Zuges abgekoppelt und nach Kilkree, an der Grenze der Grafschaft Galway, übergeleitet, wo ein halbstündiger Aufenthalt stattfand. Auch während dieser Zeit war der kleine Knabe noch nicht wieder zum Bewußtsein gekommen.
»Elisa... Elisa!... rief Miß Anna Walston, wir werden uns erkundigen müssen, ob sich nicht vielleicht ein Arzt im Zuge befindet.«
Elisa that das, obgleich sie ihrer Herrin versicherte, daß es sich kaum der Mühe lohne.
Ein Arzt fand sich nicht.
»O, diese Unmenschen... jammerte Miß Anna Walston, man trifft sie nie da, wo sie sein sollten!
– Aber ich bitte Sie, Madame, dem Jungen fehlt ja gar nichts; der wird schon wieder zu sich kommen, wenn Sie ihn nicht ersticken....
– Glaubst Du, Elisa?... Das herzige Kind!... Ich weiß nicht, wie mir ist, ich habe ja noch nie ein Kind gehabt!... Ach, wenn ich ihn selbst hätte nähren dürfen!«
Das war freilich unmöglich, und übrigens stand der kleine Knabe in den Jahren, wo man nach einer festeren Nahrung verlangt.
Der Zug durchflog die Grafschaft Clare – jene Halbinsel zwischen der Bai von Galway im Norden und der langen breiten Ausmündung des Shannon im Süden – einen Landstrich, den man hätte zur Insel umgestalten können, wenn ein kaum fünfzig Kilometer langer Canal am Fuße der Sliève-Sughty ausgehoben worden wäre. Die Nacht war dunkel und es wehte ein ziemlich scharfer Westwind – ein Himmel, wie er zur Situation paßte.
»Ach, der Engel erholt sich nicht wieder! rief Miß Anna Walston immer wieder.
– Soll ich Ihnen etwas sagen, Madame?.
– Sprich, Elisa, sprich, um Gottes Willen!
– Nun... ich glaube, er schläft einfach!«
So war es in der That.
Der Zug gelangte nach Dromor, nach Emis, der Hauptstadt der Grafschaft, wo er gegen Mitternacht eintraf. Weiter nach New-Market, nach Six-Miles an der Grenze und endlich fuhr er gegen fünf Uhr morgens in Limerick ein.
Und nicht nur der kleine Knabe allein hatte während der Reise geschlafen, auch Miß Anna Walston waren die Augen zugefallen, und als sie wieder erwachte, bemerkte sie, daß ihr Schützling sie mit großen Augen ansah.[67]
Da drückte sie ihn wieder in die Arme.
»Er lebt!... Er lebt!... Gott, der ihn mir gegeben hat, kann nicht so grausam sein, ihn mir wieder zu entreißen!«
Elisa meinte zwar, daß Gott auch dann gar nicht grausam gewesen wäre; jedenfalls sah sich der Knabe eigentlich ohne Uebergang aus der Lumpenschule in die prächtigen Zimmer versetzt, die Miß Anna Walston während ihrer Gastvorstellung am Theater zu Limerick im Royal-George-Hôtel bewohnte.
Die Grafschaft Limerick hat sich in der Geschichte Irlands einen Namen gemacht, denn hier regte sich zuerst der Widerstand der Katholiken gegen das protestantische England. Treu der Jacobitischen Dynastie, ist seine Hauptstadt dem schrecklichen Cromwell entgegengetreten und hat eine merkwürdige Belagerung ausgehalten, bis sie, von Hunger bezwungen und in Blut gebadet, schließlich unterlag. Hier wurde der Vertrag, der den gleichen Namen führt, unterzeichnet, der Vertrag, der den irländischen Katholiken gleiche bürgerliche Rechte und freie Ausübung ihres Cultus gewährleistete. Freilich wurden die damaligen Abmachungen von Wilhelm von Oranien rücksichtslos verletzt. Wieder mußte das Volk nach langen, erniedrigenden Quälereien zu den Waffen greifen; trotz allen Muthes aber und obwohl ihnen die französische Revolution ihren Hoche zu Hilfe geschickt hatte, unterlagen die Irländer, die, wie sie sagten, »mit dem Stricke am Halse« kämpften, doch endlich bei Ballinamach den weitaus überlegenen Gegnern.
Endlich, im Jahre 1829, fanden die Rechte der Katholiken, Dank den Bemühungen des großen O'Connell, die langentbehrte Anerkennung. Dieser schwang das Banner der Unabhängigkeit und rang der Regierung Großbritanniens die ersehnte Emancipationsbill ab.
Da diese Erzählung in Irland spielt, sei es uns gestattet, folgende flammende Rede anzuführen, die O'Connell jener Zeit den Staatsmännern Englands ins Gesicht schleuderte. Man darf ihre Bedeutung nicht unterschätzen. Sie hat sich tief in das Herz der Irländer eingegraben, und an verschiedenen Stellen dieser Erzählung wird der Leser noch ihren Einfluß herausfühlen.
»Niemals hat es ein unwürdigeres Ministerium gegeben! rief O'Connell eines Tages. Stanley ist ein Renegat; Sir James Graham vielleicht etwas noch schlimmeres; Sir Robert Peel eine scheckige Fahne mit fünfhundert Farben und nicht einmal echt in der Farbe, denn sie erscheint heute orangeroth, morgen grün, übermorgen wieder anders; es ist aber darauf zu achten, daß sie einmal mit Blut gefärbt wird. Was Wellington, den armen Mann betrifft, erscheint es[68] geradezu sinnlos, ihn in England zu feiern. Hat der Historiker Alison nicht nachgewiesen, daß er sich bei Waterloo überraschen ließ? Zum Glück für ihn standen ihm raschentschlossene Truppen, irische Soldaten, zur Seite. Die Irländer sind dem Hause Braunschweig, als es ihr Feind war, treu ergeben gewesen, treu Georg III., der sie verrieth, treu Georg IV., der vor Wuth aufschrie, als er die Emancipation zugestand, treu dem alten Wilhelm, dem das Ministerium abscheuliche und blutige Maßregeln gegen Irland unterbreitete. Auch der Königin haben sie ihre Treue bewahrt. Darum England den Engländern, Schottland den Schotten, aber auch Irland den Irländern!« – Das sind herrliche Worte!... Der Leser wird bald erkennen, wie der Wunsch O'Connell's in Erfüllung gegangen ist und ob der Boden Irlands seinen Kindern gehört.
Limerick ist noch immer eine der Hauptstädte der Smaragdnen Insel, obwohl es, seitdem Tralee ihm einen Theil seines Handels raubte, vom dritten auf den vierten Rang gesunken ist. Es zählt gegen dreißigtausend Einwohner. Seine Straßen sind regelmäßig. breit und gerade; seine Läden, Magazine, Hôtels und öffentlichen Gebäude erheben sich an geräumigen Plätzen. Ueberschreitet man aber, nach Begrüßung des Steines, auf dem der Emancipationsvertrag unterzeichnet wurde, die Brücke des Thomond, so findet man, daß dieser Theil der Stadt hartnäckig irländisch geblieben ist. Hier sieht man noch das Elend und die Ruinen von der Belagerung her, die zerstörten Bollwerke, den Standort jener »Schwarzen Batterie«, die unerschrockne Frauen, gleich ebensovielen Johanna Hachette's, gegen die Orangisten bis zum Tode vertheidigten. Ein trauriger, beklagenswerther Contrast!
Limerick hat eine Lage, die es zu einem Mittelpunkte der Industrie und des Handels machen könnte. Der Shannon, der »Azurne Fluß«, bietet ihm einen jener Wege, die selbst gehen, wie der Clyde, die Themse oder der Mersey. Wenn London, Glasgow und Liverpool aber ihre Flüsse ausnützen, so macht das Limerick mit dem seinen leider nicht ebenso. Kaum beleben einige Barken seine trägen Fluthen, die nur die schönen Theile der Stadt benetzen und die fetten Weiden ihres Thales ernähren. Die auswandernden Irländer sollten ihren Shannon nur mit nach der Neuen Welt versetzen: die Amerikaner würden schon etwas daraus zu machen wissen.
Beschränkt sich auch die ganze Thätigkeit Limericks auf die Erzeugung von Schinken, so bleibt es doch eine angenehme Stadt mit wirklich hübschen weiblichen Bewohnern, was jedermann leicht auffallen mußte.[69]
Hervorragende Schauspielerinnen sind nicht die Persönlichkeiten, die für ihr Privatleben nach undurchsichtigen Mauern verlangen; sie würden im Gegentheil lieber in Glashäusern wohnen, wenn es solche gäbe. Miß Anna Walston hatte keine Ursache zu verheimlichen, was in Galway vorgegangen war. Schon am Tage nach ihrer Rückkehr sprach man in ganz Limerick von der dortigen Lumpenschule, und es ging das Gerücht, die Heldin so vieler Dramen habe sich in die Flammen gestürzt, um ein kleines Wesen zu retten. Sie widersprach dem nicht ausdrücklich, ja zuletzt glaubte sie es vielleicht selbst. Ohne Zweifel hatte sie in das Royal-George-Hôtel ein Kind mitgebracht, das sie adoptieren, einen Waisenknaben, dem sie ihren Namen geben wollte, da er keinen hatte... nicht einmal einen Taufnamen.
»Findling,« lautete seine Antwort, als sie ihn fragte, wie er hieße.
So mochte es auch dabei bleiben; sie hätte doch keinen besseren gefunden; jener war ja ebenso gut wie Eduard, Arthur oder Mortimer. Uebrigens nannte sie ihn am liebsten »Baby«, »Bebery«, »Babilsky«, oder wie die mütterlichen Kosenamen in England sonst lauten.
Natürlich verstand unser Held hiervon nicht das geringste. Er ließ alles über sich ergehen, Liebkosungen und Küsse, die er nicht gewöhnt war, ließ sich schöne Kleider gefallen – und er wurde nach neuester Mode aufgeputzt – und glänzende Stiefelchen. Er murrte nicht darüber, daß man ihm Locken machte, natürlich auch nicht über das vortreffliche Essen oder über die Süßigkeiten, die er in Ueberfluß erhielt.
Wie zu erwarten, stellten sich die Freunde und Freundinnen der Schauspielerin baldigst im Royal-George-Hôtel ein, um Miß Anna ihre Complimente zu machen, die diese dankend annahm. Dann wurde von der Geschichte der Ragged-School gesprochen. Schon nach kurzer Unterhaltung hatte da das Feuer meist die ganze Stadt Galway vernichtet. Man verglich den traurigen Vorfall nur noch mit dem großen Brande Londons, an den die »Feuersäule«, die einige Schritte von der London-Bridge aufragt, noch erinnert.
Natürlich wurde bei diesen Besuchen auch des Kindes nicht vergessen, was der Miß Anna Walston herzliche Freude bereitete. Und doch kam ihr der Gedanke, daß der Kleine, wenn auch nicht so gehegt und gepflegt, doch schon geliebt worden sein möge. Eines Tages fragte dieser nämlich:
»Wo ist denn Grip?
– Wer ist denn Grip, mein Babish?« antwortete Miß Anna Walston.[70]
Jetzt erfuhr sie erst etwas über Grip Ohne ihn wäre der kleine Knabe in den Flammen umgekommen. Das war schön, war lobenswerth von diesem Grip. Sein Heroismus aber – man liebte dieses Wort für seine That – konnte doch das Verdienst nicht schmälern, das der gefeierten Künstlerin bei diesem Rettungswerke zukam. Wenn sich die vortreffliche Frau nun nicht an der Brandstelle befunden hätte, was wäre da aus dem kleinen Burschen geworden? In welche Höhle hätte man ihn mit den andern Taugenichtsen der Lumpenschule eingepfercht?
In der That hatte sich bisher niemand um Grip bekümmert und keiner verlangte danach, etwas von ihm zu hören. Auch der kleine Knabe würde ihn schließlich vergessen und nicht mehr von ihm sprechen. Das war jedoch ein Irrthum; nie verblich in seinem Herzen das Bild dessen, der ihn ernährt und beschützt hatte.
Dem Adoptivkinde der Schauspielerin fehlte es jetzt auch nicht an Unterhaltung und Zerstreuung jeder Art. Er begleitete Miß Anna Walston bei ihren Spazierfahrten und saß neben ihr im Wagen, wenn jene durch die schönsten Theile von Limerick zu der Stunde fuhr, wo die feinere Welt sie sehen konnte. Dazu putzte sie den Knaben in jeder Weise heraus, so daß er einmal in schottischer Nationaltracht, einmal als Page und dann wieder als phantastischer Schiffsjunge erschien. Er vertrat fast die Stelle eines Schoßhündchens der Schauspielerin, die ihn, wenn er klein genug gewesen wäre, in ihren Muff gesteckt hätte, um nur dessen krauslockigen Kopf herausgucken zu lassen. Gelegentlich durchstreiften beide auch die Stadt oder lustwandelten bis zu den Badeplätzen von Kilkree mit ihren großartigen Uferfelsen an der Küste von Clare und nach Miltow-Malbay mit seinen gefährlichen Klippen, woran einst ein Theil der unbesiegbaren Armada zerschellte. Dabei stellte die glückliche Pflegemutter den kleinen Knaben immer nur als den »aus den Flammen geretteten Engel« vor.
Einige Male führte man ihn auch ins Theater, wo er – mit Handschuhen angethan! – in einer Loge des ersten Ranges unter dem strengen Auge Elisas thronte, sich kaum zu rühren wagte und bis zum Schluß der Vorstellung... nur gegen das Einschlafen ankämpfte.
Natürlich ohne Verständniß für die Schauspiele selbst, hielt er doch alles, was er sah, für die reine Wahrheit. Wenn Miß Anna Walston einmal im Prunke einer Königin erschien, dann wieder als Frau aus dem Volke oder gar als in Lumpen gekleidete Bettlerin, so konnte er gar nicht glauben, daß sie es war, die er im Royal-George-Hôtel[71] wiedertraf. Das verwirrte seine kindliche Phantasie; er wußte nicht mehr, was er denken sollte. Er träumte davon in der Nacht, als spänne sich das seltsame Schauspiel weiter fort, und dann keuchte er unter schwerem Alpdrücken, wobei der Puppenschausteller, der bösartige Carker und die andern Schlingel aus der Lumpenschule eine Rolle spielten. Und wenn er dann schweißdurchnäßt erwachte, wagte er nicht zu rufen....
Die Irländer sind leidenschaftliche Liebhaber allen Sports, vorzüglich der Pferderennen.[72]
Auch jener Zeit strömte nach Limerick einmal aus gleicher Ursache die ganze »Gentry« der Umgebung zusammen, ihr schlossen sich die Landleute an, die ihre Höfe verließen, und sogar die Aermsten jeder Art, denen es nur gelungen war, sich einen Schilling oder halben Schilling abzusparen, um diesen auf ein Pferd zu verwetten.
Der Findling wurde ebenfalls zu diesem Feste mitgenommen, aber geschmückt, saß er schon mehr einem Blumenstrauß glich, den Miß Anna Walston von ihren Freunden bewundern, ja fast auffangen ließ.[73]
Die Künstlerin war etwas extravaganter Natur, doch gut und wohlthätig, wo sie das wenigstens in mehr Aufsehen erregender Weise bethätigen konnte. Waren die Zärtlichkeiten, womit sie das Kind überhäufte, sichtlich theatralischer Art und glichen die ihm gegebenen Küsse nur Bühnenküssen, so konnte der Findling den Unterschied ja nicht wahrnehmen. Immerhin fühlte er sich nicht so geliebt, wie er es gewünscht hätte, und vielleicht sagte er sich unbewußt, was Elisa nicht selten wiederholte:
»Wer weiß, wie lange es dauern wird, wenn es überhaupt andauert!«
Buchempfehlung
Die keusche Olympia wendet sich ab von dem allzu ungestümen jungen Spanier Cardenio, der wiederum tröstet sich mit der leichter zu habenden Celinde, nachdem er ihren Liebhaber aus dem Wege räumt. Doch erträgt er nicht, dass Olympia auf Lysanders Werben eingeht und beschließt, sich an ihm zu rächen. Verhängnisvoll und leidenschaftlich kommt alles ganz anders. Ungewöhnlich für die Zeit läßt Gryphius Figuren niederen Standes auftreten und bedient sich einer eher volkstümlichen Sprache. »Cardenio und Celinde« sind in diesem Sinne Vorläufer des »bürgerlichen Trauerspiels«.
68 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro