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[362] »Wer irgendwelche Mittheilungen über die Familie Martin Mac Carthy »(früheren Pächter der Farm von Kerwan, Grafschaft Kerry, Kirchspiel Silton) »zu machen im Stande ist, wird dringend gebeten, diese der Firma »Little Boy »and Co., Bedford-Street, Dublin, zugehen zu lassen.«
Diese Anzeige in der Nummer vom 3. April 1884 der Gazette de Dublin hatte unser junger Held selbst aufgegeben und mit zwei Schillingen für die[362] Zeile bezahlt. Am nächsten Tage stand derselbe Aufruf auch in den andern Blättern der Hauptstadt. Findling hätte eine halbe Guinee gar nicht besser anzuwenden gewußt, denn wie hätte er, das Adoptivkind der unglücklichen Familie, die ihm so viele Wohlthaten erwiesen hatte, diese jemals vergessen können? Er hielt es für seine Pflicht, alles zu versuchen, um sie wiederzufinden, ihr nach Kräften zu helfen, und er freute sich schon im voraus von ganzem Herzen darauf, der Familie an Lebensglück zurückerstatten zu können, was er an Liebe von ihr empfangen hatte.
Wie konnte er aber wissen, wo die Leute jetzt ein Obdach gefunden hatten, ob sie in Irland geblieben waren und jetzt vielleicht ihr Brod von Tag zu Tag er werben mußten, ob Murdock, um sich weiteren Verfolgungen zu entziehen, vielleicht ausgewandert war und ob dessen Angehörige etwa gar sein Exil in fernem Lande, in Australien oder Amerika, theilten. Er hatte auch keine Ahnung, ob Pat noch segelte, und der Gedanke, daß die brave Familie wahrscheinlich jetzt noch unter der Last des Unglücks seufzte, verursachte ihm recht schweren Kummer.
Obwohl Findlings Aufruf jeden Sonnabend mehrere Wochen hindurch in allen Dubliner Blättern stand, blieb er doch erfolglos. Wäre Murdock in ein Gefängniß des Landes eingeliefert worden, so hätte er das jedenfalls erfahren. So konnte der Knabe nur annehmen, daß Martin Mac Carthy sich inzwischen mit den Seinigen nach Amerika oder Australien eingeschifft habe, von wo sie vielleicht nie mehr zurückkehrten, wenn sie da eine zweite Heimat gefunden hatten.
Die Hypothese einer Auswanderung nach Australien wurde übrigens durch Nachrichten, die O'Brien von früheren Geschäftsfreunden einzog, bald bestätigt. Ein von Belfast eingetroffener Brief brachte die erste Aufklärung. Nach Angabe der Bücher einer Auswanderungsagentur hatten sich die Mac Carthy's – drei Männer, zwei Frauen und ein Kind – vor fast zwei Jahren nach Melbourne eingeschifft. Hier ihre Spuren zu entdecken, war fast unmöglich, und alle Schritte, die O'Brien in dieser Richtung that, blieben ohne jeden Erfolg. Findling rechnete nun blos noch auf den zweiten Sohn Mac Carthy's, vorausgesetzt, daß dieser noch auf einem Schiffe des Hauses Macuard von Liverpool in Diensten stand. Er schrieb also an den Chef dieser Firma, erhielt aber die Antwort, daß Pat vor fünfzehn Monaten aus seiner Stellung bei ihnen geschieden sei und sie nicht wüßten, auf welchem Schiffe er jetzt segelte.[363]
So blieb nur die einzige Hoffnung, daß Pat bei gelegentlicher Rückkehr nach Irland von der seine Familie betreffenden Anzeige Kenntniß erhielt, und an diese, wenn auch schwache Hoffnung wollte Findling sich vorläufig halten.
O'Brien bemühte sich vergeblich, seinem jungen Abmiether mehr Zuversicht einzuflößen, und eines Tages, als sie von der gleichen Angelegenheit sprachen, sagte er:
»Es sollte mich wundern, junger Freund, wenn Du die Familie Mac Carthy nicht früher oder später wiedersähest.
– Jetzt, wo alle in Australien... Tausende von Meilen von hier weg sind, Herr O'Brien?
– Wie kannst Du nur so sprechen, mein Kind! Australien gehört doch fast zu unsrer Stadt, es liegt beinahe vor unsrer Hausthür. Entfernungen giebt es heutigen Tages nicht mehr, die hat der Dampf zunichte gemacht. Jener Martin und seine Frau werden schon nach der Heimat zurückkehren. Irländer vergessen ihr Irland niemals, und haben sie da draußen etwas vor sich gebracht....
– Könnte ich das wirklich erhoffen, Herr O'Brien? fragte Findling kopfschüttelnd.
– Gewiß, wenn sie so tüchtige Arbeiter sind, wie Du sagst.
– Muth und Einsicht genügen nicht immer, Herr O'Brien. Man muß auch etwas Glück haben, und das war den Mac Carthy's fast stets versagt geblieben.
– Was nicht ist, kann noch werden, mein Sohn! Glaubst Du etwa, daß ich selbst immer vom Glück begünstigt gewesen wäre?... Nein, ich habe manche Schwierigkeiten zu überwinden, manche Verluste zu tragen gehabt, bis ich mich als Herrn meiner Lage fühlte. Bist Du nicht selbst ein Beispiel dafür? Hast Du Deine Laufbahn nicht als ein Spielball des Elends begonnen, und jetzt...
– Ja, Sie haben Recht, Herr O'Brien; ich frage mich auch manchmal, ob nicht alles nur ein Traum ist.
– Nein, mein liebes Kind, es ist echte, schöne Wirklichkeit! Daß Du ganz anders gehandelt hast, als man es von einem zwölfjährigen Kinde erwarten konnte, ist freilich etwas ganz außergewöhnliches. Doch, die Vernunft ist nicht immer nach dem Alter zu messen, und von ihr hast Du Dich von jeher leiten lassen.[364]
– Von der Vernunft?... Vielleicht Und doch wenn ich mir meine heutige Lage vergegenwärtige, scheint es mir, daß der Zufall daran nicht wenig Antheil hat.
Im Leben giebt es weniger Zufall, als du glaubst, alles geht mit logischer Nothwendigkeit eines aus dem andern hervor. Das wirst Du noch erfahren. Es ist auch selten, daß ein Unglück nicht durch einen Glücksfall wettgemacht würde.
– Das glauben Sie, Herr O'Brien?
– Ja, und um so fester, als es, was Dich betrifft, gar nicht zweifelhaft sein kann. Das hab' ich mir schon oft gesagt, wenn ich über Deinen Lebenslauf nachdachte. So bist Du zu der bösen Hard gekommen, das war ein Unglück....
– Aber auch ein Glück, weil ich dort die gute Sissy kennen lernte, deren Liebe zu mir ich nie vergessen kann. Was mag aus meiner armen, kleinen Leidensgefährtin geworden sein, und ob ich sie wohl jemals wiedersehe?... Ja, das war damals ein Glück...
– Und auch das war ein solches, daß die Hard eine so abscheuliche Megäre war, sonst wärst Du ja in Rindock bis zu der Zeit geblieben, wo Du in das Armenhaus von Donegal zurück mußtest. Da bist Du entflohen und in die Hände des Puppenschaustellers gefallen....
– O, das Ungeheuer! rief Findling.
– Dennoch betrachte ich es als Glück, daß er das war, denn sonst irrtest Du vielleicht noch heute, wenn auch nicht versteckt im Kasten, so doch im Dienste Thornpipe's auf den Landstraßen umher. Von da kamst Du nach der Ragged-School in Galway...
– Ja, und da lernte ich Grip kennen... Grip, der so gut zu mir war, dem ich das Leben verdanke, das er mir rettete, während er das seinige aufs Spiel setzte....
– Und damit kamst Du zu der launenhaften Schauspielerin. Zugegeben, daß Du bei ihr ein weit schöneres Leben hattest, zu einem ehrenvollen Ziele hätte es Dich aber doch nicht geführt, und ich betrachte es als ein Glück, daß sie. nachdem sie ihr Vergnügen mit Dir gehabt hatte, Dich eines schönen Tages verließ....
– Darum zürne ich ihr nicht, Herr O'Brien. Sie hatte mich aufgenommen, war liebreich gegen mich... und seit jener Zeit... ist mir manches[365] klar geworden. Ihrem Gedankengang nach wurde ich in Folge dessen von der Familie Mac Carthy in der Farm von Kerwan aufgenommen....
– Richtig, mein Sohn. Und auch da...
– O, Herr O'Brien, Sie werden mich schwerlich überzeugen, daß das Unglück dieser braven Leute auch ein Glück für mich gewesen wäre.
– Ja und nein, antwortete O'Brien.
– Nein, Herr O'Brien, nein! versicherte Findling energisch. Und wenn ich mir etwas erwerbe, wird mir immer das schmerzliche Gefühl bleiben, daß der Grund dieses Vermögens nach dem Untergange der Mac Carthy's gelegt wurde. Wie gern hätt' ich als Kind des Hauses mein Leben auf jener Farm verbracht! Da hätt' ich mein Pathenkind Jenny aufwachsen sehen, und ein größeres Glück, als das meiner Adoptivfamilie zu betrachten, könnt' ich mir gar nicht denken.
– Ich verstehe Dich, mein Kind. Es ist aber nicht minder richtig, daß grade dieser Verlauf der Dinge Dir einmal gestatten wird, Dich für das, was jene an Dir gethan, erkenntlich zu zeigen.
– Besser wär' es doch, Herr O'Brien, wenn sie nicht nöthig hätten, von irgend jemand Hilfe anzunehmen.
– Ich erkenne gern diese Empfindungen an, die Dir alle Ehre machen. Doch setzen wir unsre Betrachtungen fort. Du kamst nach Trelingar-castle...
– O, diese widerwärtigen Leute, der Marquis, die Marquise und ihr Sohn Ashton!... Welche Kränkungen hab ich da erdulden müssen!... Das war die schlimmste Zeit meines Lebens.
– lind doch ein Glück, daß es so war. Bei guter Behandlung wärst Du vielleicht in Trelingar-castle geblieben....
– Nein, Herr O'Brien, im Dienste als Groom?... Nein, gewiß nicht!... Ich blieb nur da, um auf ein besseres Unterkommen zu warten und bis ich mir etwas erspart hätte.
– Nun, bemerkte O'Brien, eine Person muß doch sehr befriedigt davon sein, daß Du überhaupt in jenes Schloß gekommen warst; ich meine die Kat.
– O, die vortreffliche Frau!
– Und einer, der sehr zufrieden sein muß, daß Du von dort weggegangen bist, ich meine Bob, denn sonst konntest Du den nicht auf der Landstraße finden... nicht ihn retten und mit nach Cork nehmen, wo Ihr beide so tüchtig gearbeitet, wo Ihr Grip wiedergefunden habt, und heute wärst Du nicht in Dublin...[366]
– Und im vertraulichen Gespräch mit dem besten aller Menschen, der uns so freundlich entgegenkam! antwortete Findling, die Hand des Exkaufmanns ergreifend.
– Der Dir auch später, wenn nöthig, mit Rath und That beistehen wird.
– Ich danke Ihnen, Herr O'Brien, ich danke! Ja, Sie haben recht; Ihre Erfahrungen können Sie nicht trügen. Im Leben ist alles miteinander verkettet. Gebe Gott, daß auch ich allen nützlich sein könnte, die ich liebe und die mich geliebt haben!«
Das Geschäft des Knaben blühte immer weiter, der Zudrang von Käufern verminderte sich nicht. Der Bazar erhielt vielmehr noch eine neue Einnahmequelle.
Auf Anrathen O'Brien's legte sich Findling noch den Einzelverkauf von Specereien zu und zu diesen wird jetzt ja vielerlei gerechnet. Der Laden wurde bald zu beschränkt, so daß noch der andre Theil des Erdgeschosses gemiethet werden mußte, und es währte nicht lange, da wollte sich das ganze Stadtviertel mit derlei Waaren nur im »Kleinen Geldbeutel« versorgen. Diese Abtheilung fiel Kat zu, und sie entledigte sich ihrer Aufgabe auch mit rühmlichstem Eifer. Nun gab's freilich vom Morgen bis zum späten Abend sehr viel zu thun und Findling wäre mit seiner Buchführung und dem täglichen Cassenabschluß manchmal nicht fertig geworden, wenn ihm nicht der alte Kaufmann hilfreich beigesprungen wäre.
Jetzt hätte sich unbedingt die Einstellung eines Gehilfen nöthig gemacht, und doch wollte der jugendliche Principal sich nicht entschließen, einen ganz Fremden bei sich aufzunehmen. Ja, wenn Grip dazu zu bewegen gewesen wäre! Doch daran war vorläufig nicht zu denken, obwohl dieser wie ausersehen schien, auf hohem Sessel hinter dem Pulte zu sitzen und die Conti für alle Lieferanten in Ordnung zu halten. Das war doch jedenfalls angenehmer, als sich vor den Dampfkesseln des »Vulcan« den Magen ausbraten zu lassen. Vergeblich wurde ihm das vorgestellt. Beim jedesmaligen Aufenthalt in Dublin widmete der erste Heizer zwar alle freien Stunden dem Bazar seines Freundes und unterzog sich hier gern jeder Arbeit; doch das dauerte nur eine Woche, dann fuhr der »Vulcan« wieder ab, und achtundvierzig Stunden später befand sich Grip schon Hunderte von Meilen weit entfernt von der Smaragdenen Insel. Seine Abfahrt war allemal ein Schmerz, seine Rückkehr eine Freude, so als ob ein älterer Bruder fortgegangen und wieder gekommen wäre.[367]
Der ältere Bruder machte nach wie vor seine Einkäufe bei Little Boy and Co. Immer kam er mit seinem ganzen Vermögen im Gürtel dahin, doch ließ er sich schließlich bestimmen, sich dieser Last und Sorge zu entledigen. Findling nahm die Ersparnisse des Freundes, aber nicht etwa für sein Geschäft, an; er brauchte das nicht, denn er besaß schon eine hübsche Einzahlung bei der Bank von Irland und ein Chequebuch, womit er alle vorkommenden Bedürfnisse bequem decken konnte. Grips Capital wurde in der Sparcasse angelegt, die mit ihrem Capital von fast vier Millionen mehr als genügend Sicherheit bot. Nun konnte Grip ruhig schlafen, und dazu vermehrten sich seine Ersparnisse noch durch die auflaufenden Zinsen, die zum Capital geschlagen wurden.
Wenn Grip sich auch weigerte, die Seemannsjacke mit dem eleganten Comptoirrocke zu vertauschen, so hatte er doch geholfen, die Kundschaft von Little Boy zu vermehren. Alle seine Kameraden vom »Vulcan« und deren Familien kauften alles mögliche in dem billigen Bazar, und Grip hatte diesen überhaupt allen Matrosen im Hafen so warm empfohlen, als wenn er der Reisende des Hauses »Zum kleinen Geldbeutel« gewesen wäre.
»Du wirst sehen, sagte er eines Tages, daß sich später auch noch die Rheder selbst bei Dir versorgen werden. Dann mußt Du freilich für lange Seereisen Vorräthe an Specereien und Conserven halten. Du wirst dann Großhändler....
– Großhändler? fragte Bob dazwischen.
– Ja freilich... mit Läden, Kellern und Speichern; wie die Herren Roe und Guineß.
– Oho! stieß Bob hervor.
– Gewiß, and Co., erwiderte Grip, der für Bob gern diesen Spitznamen gebrauchte, und denkt daran, was ich Euch sage....
– Bei jeder Reise, fiel ihm Findling ins Wort.
– Ja... bei jeder Reise, wiederholte Grip. Du wirst noch ein Vermögen erwerben, ein sehr großes Vermögen....
– Warum willst Du dann in das Geschäft nicht als Theilhaber eintreten, Grip?
– Ich?... Ich soll meinen Beruf aufgeben?
– Denkst Du darin etwa vorwärts zu kommen und vielleicht noch Maschinist zu werden?[368]
– O nein... das nicht. So ehrgeizig bin ich nicht. Dazu muß man auch studiert haben, und dazu ist's jetzt zu spät. Nein, ich bin ja zufrieden mit dem, was ich bin!
– Höre mich an, Grip. Wir brauchen einen Gehilfen, auf den wir uns unbedingt verlassen können. Warum weigerst Du Dich, als solcher einzutreten?
– Ich verstehe nichts von Eurer Buchführung.
– Die würdest Du in kurzer Zeit erlernen.[369]
– Dann hab' ich auch den O'Bodkins, da unten in der Lumpenschule, sich genug damit abmühen sehen. Nein, mein Boy, nein! Auf dem Lande bin ich so unglücklich gewesen, auf dem Meere bin ich so glücklich. Ich fürchte mich ordentlich vor dem Lande. Ach, wenn Du erst ein großer Handelsherr bist und eigene Schiffe hast, dann... dann fahr' ich nur für Dich, das versprech' ich Dir!
– Wir wollen ernsthaft sprechen, Grip. Bedenk' einmal, daß Du Dich später doch einmal recht vereinsamt fühlen könntest. Wenn Dir's nun einfiele, zu heiraten...
– Zu hei... raten!... Ich?
– Ja, Du!
– Was? Ich, der heimatlose Grip, ich sollte eine Frau haben?... Und Kinder noch obendrein?
– Natürlich... so wie alle andern Leute, bemerkte Bob mit dem Tone eines Mannes von gereiftester Erfahrung.
– Wie alle andern?
– Gewiß, Grip, ich selbst sogar...
– Nun hör' einer den Knirps... was der davon versteht!
– Er hat aber Recht, erklärte Findling.
– Und Du, mein Boy, Du denkst wohl auch daran...
– Das könnte später wohl der Fall sein.
– Sehr schön! Da ist der eine dreizehn, der andre kaum neun Jahre alt, und sie sprechen schon vom Heiraten!
– Von uns ist nicht die Rede, Grip, doch von Dir, der Du bald fünfundzwanzig Jahre alt bist.
– Nein, mein Junge, überlege Dir doch! Ich... mich verheiraten!... Ein Heizer, der während zwei Dritteln seines Lebens schwarz aussieht wie ein Neger!
– Aha, rief Bob lachend, Grip fürchtet, seine Kinder könnten auch kleine Negerbuben werden.
– Das wäre schon möglich, antwortete Grip. Ich dürfte eigentlich nur eine Negerin heiraten oder höchstens eine Rothhaut aus dem Innern von Amerika.
– Grip, nahm Findling wieder das Wort, Du thust unrecht, zu scherzen. Wir sprechen ja einzig in Deinem Interesse. Die Zeit wird kommen, wo es Dich reuen dürfte....[370]
– Was willst Du denn, mein Boy... Ich weiß ja, Du bist verständig... es wäre auch so schön, bei einander zu wohnen. Bisher hat mich mein Beruf aber ernährt; er wird mich auch später ernähren, und ich kann's mir gar nicht vorstellen, ihn aufgeben zu sollen.
– Nun, wie Du willst, Grip. Hier wird immer Raum für Dich sein, und es sollte mich doch sehr wundern, wenn ich Dich nicht eines Tages noch hinter dem Pulte als Geschäftstheilhaber sitzen sähe.
– Da müßt' ich mich erst stark verändert haben....
– Das wird schon kommen, Grip. Jeder Mensch verändert sich, und das ist auch ganz recht, denn es geschieht, um sich zu verbessern...«
Grip gab jedoch keinem Zureden nach. Er liebte einmal seinen Beruf, stand bei seinen Rhedern gut angeschrieben, der Kapitän des »Vulcan« schätzte und seine Kameraden liebten ihn. Um Findling aber nicht gar so sehr zu betrüben, sagte er:
»Wir werden ja sehen... bei meiner Rückkehr!«
Wenn er dann wiederkam, wiederholte er freilich nur, was er bei der Abreise gesagt hatte:
»Wir werden ja sehen... werden ja sehen!«
Little Boy and Co. mußten also für die schriftlichen Arbeiten einen Commis anstellen. O'Brien sendete ihnen einen alten Buchhalter, Balfour mit Namen, zu, für den er gutsagte und der seine Sache aus dem Grunde verstand. Grip war es aber doch nicht!
Das Jahr verlief vortrefflich, und als genannter Balfour aus den Büchern die Lage des Geschäftes feststellte, ergab sich – an Waaren und an Depositen bei der Bank von Irland – ein Vermögensstand von tausend Pfund Sterling.
Zu dieser Zeit – im Januar 1885 – trat Findling ins vierzehnte Lebensjahr und Bob war nun neuneinhalb Jahre alt. Gesund und kräftig, spürten sie nichts mehr von dem früheren elenden Leben. Es war edles gaëlisches Blut, das in ihren Adern floß, wie der Shannon, die Lee oder die Liffey, die durch Irland strömen, um es immer frisch zu beleben.
Der Bazar blühte immer weiter. Findling war offenbar auf dem Wege zu Glück und Wohlstand. Von gewagten Speculationen hielt er sich fern, obgleich er nicht der »Mann« dazu war, eine sich bietende günstige Gelegenheit unbenützt zu lassen.[371]
Immerfort beunruhigte ihn jedoch das Schicksal der Mac Carthy's. Auf Erkundigungen, die er von Melbourne in Australien einzog, wurde ihm nur die Antwort zutheil, daß man die Spuren der gesuchten Familie gänzlich verloren habe, was in dem großen, in seinem Innern kaum bekannten Lande ja so häufig vorkommt. Mittellos, wie sie waren, hatten Martin und seine Kinder wahrscheinlich nur auf irgend einer weit entlegenen Schafzüchterei Arbeit finden können, doch wo?... Wer hätte das zu sagen vermocht?
Ueber Pat war seit seinem Abgange von der Firma Macuard auch nichts bekannt geworden, und möglicherweise hatte sich dieser zu seinen Eltern nach Australien begeben.
Neben der Sorge um die Mac Carthy's bekümmerte Findling nur noch die um Sissy, seine Leidensgenossin bei der Hard. An die letztere selbst, sowie an den grausamen Thornpipe und an die hochfahrenden Piborne's dachte er gar nicht mehr.
Höchstens bezüglich der Miß Anna Walston wunderte er sich, sie noch niemals auf einem Dubliner Theater wieder haben erscheinen zu sehen, doch war er unschlüssig, ob er, wenn das doch einträte, zu ihr gehen sollte oder nicht.
»Und Carker?... Ist der endlich gehenkt worden?«
So lautete unverändert Grips Frage nach jeder Heimkehr des »Vulcan«, sobald er den Laden »Zum kleinen Geldbeutel« betrat. Auf die Antwort, daß man ihm darüber nichts sagen könne, durchwühlte Grip die alten Zeitungen, ohne etwas zu finden, was sich »auf den vollendetsten Galgenstrick der Lumpenschule« bezogen hätte.
»Nun, wir wollen's abwarten. Nur ein wenig Geduld!
– Warum sollte denn Carker nicht ein ganz braver Bursche geworden sein können?
– Er?... rief Grip,... er, der Schlingel?... Nein, dann könnte es einem leid werden, ehrenhaft zu sein.«
Kat, der die Geschichte der Verwahrlosten von Galway bekannt war, stimmte mit Grip darin überein, wie überhaupt in allem, bis auf den einen Punkt, daß Kat den Grip stets drängte, das Seefahren aufzugeben, was dieser wieder hartnäckig verweigerte. Mit Ende des Jahres war denn diese Frage auch um keinen Schritt vorwärts gekommen.
Jetzt war der 25. November; es herrschte schon voller Winter. In großen Flocken fiel der Schnee herab, der leichten Federn gleich auf der[372] Erde hintrieb. Es war einer jener eisigen Tage, an denen man am liebsten in der warmen Stube bleibt.
Findling konnte das heute jedoch nicht. Am Morgen hatte er einen Brief eines seiner Lieferanten in Belfast erhalten. Die Ausgleichung einer Rechnung drohte dort einen Proceß herbeizuführen, und Processe soll man in jedem Falle möglichst zu vermeiden suchen. Das war wenigstens die Ansicht O'Brien's, und dieser drängte den Knaben auch, selbst nach Belfast zu reisen und jene Angelegenheit so gut wie möglich persönlich zu erledigen.
Findling mußte ihm Recht geben und beschloß diesem Rathe sofort zu folgen. Es handelte sich ja nur um eine Eisenbahnfahrt von kaum hundert Meilen. Wenn er um neun Uhr abreiste, traf er noch denselben Vormittag in Belfast ein, der Nachmittag mußte genügen, mit seinem Geschäftsfreunde ins reine zu kommen, und vor Mitternacht hoffte er wieder zu Hause sein zu können.
Bei einer so knapp bemessenen Zeit kann ein Reisender den Einzelheiten der Fahrt keine große Aufmerksamkeit schenken. Dazu flog der Zug sehr schnell dahin, einmal längs der Küste und dann wieder mehr im Innern des Landes. Von der Grafschaft Dublin aus durcheilte er die Grafschaft Meath und hielt nur einige Minuten in Drogheda, einem nicht unbedeutenden Hafen, von dem Findling freilich nichts sah, ebensowenig wie von dem eine Meile davon entfernten berühmten Schlachtfelde von Boyne, das den schließlichen Sturz der Dynastie der Stuart's sah. Weiter rastete der Zug einmal in der Grafschaft Louth in Dunkalk. einer der ältesten Städte der Grünen Insel, wo der berühmte Robert Bruce einst gekrönt wurde. Hierauf gelangte er nach der Provinz Ulster, wo die Grafschaft Donegal unsern jungen Reisenden an sein früheres Elend erinnerte. Nach Durchschneidung der Grafschaften Armagh und Down überschritt der Zug endlich die Grenze von Antrim.
Antrim, das Land des vulkanischen Bodens und der wilden Höhlen, hat Belfast als Hauptstadt; ihrem Handel und ihrer Flotte von drei Millionen Tonnengehalt nach ist das die zweite Stadt Irlands, ebenso durch ihre Einwohnerzahl von fast zweimalhunderttausend Köpfen, durch ihren intensiven, meist auf Lein gerichteten Feldbau, wie durch ihre Industrie, die sechzigtausend Arbeiter in hundertsechzig Spinnereien beschäftigt, und durch ihre wissenschaftlichen Bestrebungen, von deren Bedeutung das Queen's-College Zeugniß giebt.
Belfast liegt an der engen Ausmündung des Laganflusses, von dem ein Canal durch die vorgelagerten Sandbänke führt. Leichtbegreiflicherweise herrschte[373] an einem so gewerbthätigen Punkte, wo die politische Erregung durch die Berührung, oder besser durch den Zusammenprall persönlicher Interessen wach gehalten wird, immer hitziger Streit zwischen Protestanten und Katholiken. Die ersteren sind Feinde der Unabhängigkeit, die die andern erstreben. Die einen mit dem Feldgeschrei »Oranien«, die andern mit einem gelben Bande als Erkennungszeichen, kommen sie oft miteinander ins Handgemenge, regelmäßig aber am 7. Juli, dem Jahrestage der Schlacht von Boyne.
Obwohl heute nicht der 7. Juli war und die Temperatur vier Grad unter Null betrug, herrschte in der Stadt doch der helle Aufruhr. Die Parnelliten und die Parteigänger der »Land League« und des Landlordismus waren in bittern Streit gerathen. Der Sitz der »Gesellschaft zur Verbreitung der Leincultur«, an den sich die meisten Fabriken der Stadt anschließen, hatte sogar ganz besonders geschützt werden müssen.
Findling, der ja nicht im entferntesten um politischer Streitfragen willen hierher gekommen war, begab sich zunächst zu seinem Lieferanten, den er auch glücklicherweise antraf.
Der Mann war nicht wenig erstaunt, als sich ihm ein so junger Knabe in seinem Bureau vorstellte, ebenso aber über den Scharfsinn und die Einsicht, womit dieser seine Interessen vertrat. Bald war alles zu beiderseitiger Zufriedenheit geordnet. Zwei Stunden hatten dazu hingereicht, und Findling wollte nun in der Nähe des Bahnhofs zum Essen gehen. Hatte er die heutige Reise schon nicht zu bereuen, da sie ihm einen Proceß ersparte, so sollte der Besuch von Belfast ihm doch noch eine andre Ueberraschung bereiten.
Es wurde bereits dunkel und hatte zu schneien aufgehört, nur herrschte noch eine recht empfindliche Kälte.
Vor einer großen Fabrikanlage der Stadt vorübergehend, wurde Findling durch einen Haufen von Menschen aufgehalten, der die Straße völlig sperrte. Es war grade Zahltag in den Fabriken, und eine für die folgende Woche angekündigte Lohnverkürzung hatte eine große Arbeiterschaar gewaltig in Erregung versetzt.
Die Leinindustrie wurde in Belfast von Emigranten nach Aufhebung des Edicts von Nantes eingeführt, deren Nachkommen noch heute in derselben thätig sind. Die betreffende Fabrik gehörte einer anglicanischen Gesellschaft, deren Arbeiter aber zum größten Theile Katholiken waren, und diese gaben ihrem Unwillen nun in lärmendster und rohester Weise Ausdruck.[374]
Auf das anfängliche Geschrei folgten schwere Drohungen und bald wurden Thüren und Fenster des Etablissements mit Steinen beworfen. Da trabte aber auch schon eine Abtheilung Polizisten in die Straße ein, um die Zusammenrottung zu zerstreuen und die Rädelsführer zu verhaften.
Um den Zug nicht zu versäumen, sachte Findling aus dem Tumulte zu entkommen; vergeblich. Der Gefahr ausgesetzt, umgeworfen, gesteinigt oder durch den Angriff der berittenen Constabler zermalmt zu werden, flüchtete er sich in eine Hausthüröffnung, als gerade fünf oder sechs Arbeiter, von wuchtigen Schlägen getroffen, in der Nähe niederstürzten.
Neben ihm lag ein junges weibliches Wesen, eines jener armen, blassen entkräfteten Fabrikmädchen, die, obwohl achtzehn Jahre zählend, doch kaum zwölf Jahre alt zu sein schien. Zur Erde geworfen, rief sie noch:
»Zu Hilfe!... Zu Hilfe!«
Diese Stimme?... Findling glaubte sie zu kennen; es dämmerte wie eine alte Erinnerung in ihm auf... er konnte kein Wort hervorbringen... sein Herz schlug zum Zerspringen...
Als die zum Theil zurückgetriebene Menge die Straße etwas frei ließ, beugte er sich über das arme Mädchen nieder. Diese war bewußtlos. Er hob ihren Kopf in die Höhe und wendete das Gesicht dem Lichte einer Gasflamme zu....
»Sissy!... Sissy!« murmelte er.
In der That war es Sissy, die ihn aber nicht hören konnte.
Ohne sich über seine Handlungsweise Rechenschaft zu geben, hob er die Unglückliche, als ob sie ihm angehört hätte, und wie ein Bruder die Schwester, einfach auf und brachte sie, ohne daß das Mädchen noch wußte, was mit ihr geschah, nach dem nahen Bahnhof.
Als der Zug abfuhr, lag Sissy in einem Coupo erster Classe bequem und noch immer halb bewußtlos auf den Polstern und neben ihr kniete Findling, der sie rief... anredete... sie umarmte....
Nun, er hatte ja wohl ein Recht darauf, Sissy, die Gefährtin seiner Leiden, zu entführen, und wenn sie bei jemand ein Anrecht auf Samariterhilfe besaß, dann war es doch bei diesem Knaben, den sie früher so oft gegen die Mißhandlungen durch die abscheuliche Hard geschützt hatte.[375]
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