[93] Standard-Island gleitet sanft über das Wasser des Stillen Oceans, der zu dieser Jahreszeit seinem Namen alle Ehre macht. An diese ruhige Fortbewegung seit vierundzwanzig Stunden gewöhnt, bemerken Sebastian Zorn und seine Kameraden gar nicht, daß sie weiter segeln. So mächtig die Hunderte, von zehn Millionen Pferdekräften bewegten Schrauben auch sind, verbreiten sie durch den metallnen Unterbau der Insel doch kaum ein leises Zittern. Milliard-City bleibt unbewegt und spürt auch nichts von dem Seegange, dem sonst die größten Panzerschiffe der Kriegsmarine unterliegen. In den Wohnungen oder auf den Schiffen benützt man hier keine Schwebelampen. Wozu auch? Die Häuser von London, Paris oder New-York stehen auf ihrem Grund ja auch nicht fester und sicherer.
Nach mehrwöchigem Aufenthalt in der Madeleinebay hatte der Rath der Notabeln von Standard-Island, den der Präsident zusammenrief, das Programm für die Jahresreise entworfen. Die Schraubeninsel sollte die hauptsächlichsten Inselgruppen des östlichen Stillen Oceans besuchen, und zwar inmitten jener hygienischen Atmosphäre, die so reich an Ozon, an verdichtetem Sauerstoff ist, der durch Elektrisierung weit wirksamere Eigenschaften besitzt, als der gewöhnliche Sauerstoff der Luft. Da der ganze Apparat völlig frei beweglich ist, zieht er daraus Nutzen, und so begiebt er sich auf Wunsch nach Westen oder nach Osten, nähert sich der Küste Amerikas, wenn es ihm beliebt, oder streift nach Gefallen längs der Ostküsten Asiens dahin. Standard-Island geht, wohin es[93] will, und macht sich seine Seefahrt so angenehm wie möglich. Selbst wenn es ihm beliebte, den Stillen Ocean gegen den Atlantischen Ocean zu vertauschen, wenn es um das Cap Horn oder das Cap der Guten Hoffnung segeln wollte, brauchte es nur die betreffende Richtung einzuschlagen, und weder Strömungen noch Stürme würden ihm hinderlich sein, sein Ziel zu erreichen.
Es kommt jedoch gar nicht in Frage, jene entfernten Meere aufzusuchen, wo das Juwel des Stillen Oceans das nicht finden würde, was dieser Ocean ihm inmitten seiner endlosen Inselgruppen bietet. Hier ist Raum genug, um die verschiedensten Fahrten zu unternehmen. Die Propeller-Insel kann von einem Archipel zum andern segeln. Ist sie auch nicht mit dem Instinct der Thiere begabt, diesem sechsten Sinne der Orientation, der jene dahinführt, wohin ihre Bedürfnisse sie rufen, so wird sie dafür von sichrer Hand und nach einem Programm geführt, das lange vorher erwogen und einstimmig angenommen worden war. Bisher ist es hierüber zu keiner Meinungsverschiedenheit zwischen den Bewohnern des Steuerbords und des Backbords gekommen.
Augenblicklich steuert man entsprechend einem gefaßten Beschlusse nach Westen auf die Gruppe der Sandwichinseln zu. Bei mäßiger Schnelligkeit wird die Zurücklegung der Zwölfhundertmeilen-Strecke, die jene Inselgruppe von der Stelle trennt, wo das Quartett sich einschiffte, etwa binnen einem Monat vollendet sein, bis es Standard-Island beliebt, einen andern Archipel der südlichen Halbkugel anzulaufen.
Am Morgen dieses denkwürdigen Tages verläßt das Quartett das Excelsior-Hôtel und richtet sich häuslich in einigen, ihm zur Verfügung gestellten Zimmern des Casino ein – natürlich in einer geräumigen, prächtig ausgestatteten Wohnung. Vor deren Fenstern zieht sich die Erste Avenue hin. Sebastian Zorn, Frascolin, Pinchinat und Yvernes haben jeder sein eignes Zimmer an den Seiten des gemeinschaftlichen Salons. Der Hof des Etablissements gewährt ihnen angenehmen Schatten durch seine in voller Belaubung stehenden Bäume, und Kühlung durch seine plätschernden Springbrunnen. An der einen Seite dieses Hofes liegt das Museum von Milliard-City, an der andern der Concertsaal, wo die Pariser Künstler die Echos der Phonographen und die Uebertragungen der Theatrophone so glücklich ersetzen.
Täglich zwei-, drei- oder so viele male, wie sie es wünschen, wird ihnen im Restaurant aufgetragen, wonach es ihnen gelüstet, ohne daß der Oberkellner ihnen seine fast unglaublichen Rechnungen dafür vorlegt.[94]
Als sie an diesem Morgen noch im Salon beisammen waren, ehe sie sich zum Frühstück hinunterbegaben, fragte Pinchinat:
»Nun, Ihr Violinen, was sagt Ihr nun darüber, wie es uns ergangen ist?
– O, es ist ein Traum, antwortete Yvernes, ein Traum, in dem wir für eine Million für das Jahr befangen bleiben...
– Nein, es ist die reine, schöne Wirklichkeit, erwiderte Frascolin. Suche nur in Deiner Tasche, und Du wirst das erste Viertel der Million schon entdecken.
– Wenn man nur wüßte, wie die Sache ausläuft.. Meiner Ansicht nach, ganz schlecht, ruft Sebastian Zorn, der unbedingt Dornen in dem Rosenbette, worauf man ihn gelegt hat, finden will.
– Und übrigens unser Gepäck?«...
Ja freilich, das Gepäck mußte in San Diego ausgeliefert sein, von wo es nicht zurückkommen konnte, und die Eigenthümer es auch nicht zu holen im Stande waren. Im Ganzen machte das nicht viel aus: einige Reisesäcke mit Leibwäsche, Toilettegegenständen, Kleider zum Wechseln und das officielle Costüm der Künstler, wenn sie öffentlich auftraten... das war Alles.
Darüber brauchten sie sich jedenfalls nicht zu beunruhigen. Binnen achtundvierzig Stunden war diese etwas abgenutzte Garderobe durch eine andre ersetzt, die man den vier Künstlern zur Verfügung stellte, ohne daß sie fünfzehnhundert Francs für einen Anzug oder fünfhundert Francs für ihre Stiefletten zu bezahlen gehabt hätten.
Höchst befriedigt, diese peinliche Angelegenheit zu so gutem Ende geführt zu haben, macht es sich Calistus Munbar zur Pflicht, bei dem Quartett gar keinen Wunsch erst aufkommen zu lassen. Einen zuvorkommenderen Oberintendanten konnte man sich gar nicht vorstellen. Er bewohnte ebenfalls Räumlichkeiten des Casinos, dessen einzelne Abtheilungen unter seiner Leitung stehen, und die Compagnie honoriert ihn dafür in einer Weise, wie es seiner Würde entspricht. Die Summe wollen wir lieber verschweigen.
Das Casino enthält auch Lese- und Spielsäle; Baccarac, Trente et quarante, Roulette, Poker und andre Hazardspiele sind aber strengstens untersagt. Man findet hier ferner ein Rauchetablissement, von wo auch durch eine unlängst gegründete Gesellschaft der Rauch von präpariertem Tabak unmittelbar in die Wohnungen geleitet wird. Dieser Rauch, der in der Hauptanstalt in großen Brennöfen hergestellt und von allem Nicotin befreit wird, steht durch Röhren, die in Bernsteinmundstücken endigen, jedem Liebhaber zur Verfügung. Man braucht[95] daher nur die Lippen anzulegen und ein Zählwerk registriert den täglichen Verbrauch.
In dem Casino, wo die Musikfreunde sich an den Tönen aus weiter Ferne berauschen können, woneben jetzt auch noch die Concerte des Quartetts stattfinden, befinden sich endlich die Sammlungen von Milliard-City. Liebhabern der Malerei bietet das an alten und neuen Bildern reiche Museum zahlreiche, für hohe Preise erstandene Meisterwerke der italienischen, holländischen, deutschen und französischen Schule, um die es die Sammlungen von Paris, London, München, Rom und Florenz beneiden könnten, Gemälde von Raphael, da Vinci, Giorgione, Correggio, Dominiquin, Ribeira, Murillo, Ruysdael, Rembrandt, Rubens, Cuyp, Frans Hals, Hobbema, Van Dyck, Holbein u. A., sowie unter den modernen von Fragonard, Ingres, Delacroix, Scheffer, Cabat, Delaroche, Regnaut, Couture, Meissonier, Millet, Rousseaux, Jules Duprè, Brascassat, Makart, Turner, Troyon, Corot, Daubigny, Baudry, Bonnat, Car. Duran, Jules Lesvebre, Volton, Breton, Binet, Yon, Cabanel u. s. w. Um ihnen eine ewige Dauer zu sichern, sind die Gemälde in völlig luftleeren Glasbehältern untergebracht. Zu bemerken ist, daß die Impressionisten, die Futuristen und ähnliche in dieses Museum noch keinen Eingang gefunden haben, das wird aber wahrscheinlich nicht lange so fortdauern und Standard-Island dürfte einem Einfalle der niedrigeren, verfallenden Kunst auch nicht mehr entgehen. Das Museum enthält ferner Statuen von hohem Werthe, Marmorarbeiten der größten alten und neueren Bildhauer, die im Hofe des Casinos Aufstellung fanden. Dank dem hier herrschenden Klima ohne Regen und Nebel können Gruppen, Statuen und Büsten der Witterung ganz gefahrlos ausgesetzt bleiben. Daß alle diese Wunder viele Besucher fänden, daß die Nabobs von Milliard-City ausgesprochenen Geschmack für die Werke der Kunst bewiesen, daß bei ihnen künstlerischer Sinn besonders entwickelt wäre, möchten wir nicht gerade behaupten. Zu bemerken wäre höchstens, daß die Steuerbordhälfte mehr Liebhaber zählt als die Backbordhälfte. Alle sind dagegen völlig einig, wenn es sich um die Erwerbung eines Meisterstückes handelt, und dann sind ihre unvergleichlichen Gebote stets im Stande, solche jedem Herzog von Aumale, jedem Chauchard der Alten und der Neuen Welt zu entwinden.
Am meisten besucht sind im Casino die Lesezimmer mit den Revuen, den europäischen und den amerikanischen Zeitungen, die die Dampfer von Standard-Island. welche den regelmäßigen Dienst zwischen diesem und der Madeleinebay[96] versehen, immer herschaffen.
Wenn sie durchblättert, gelesen und wieder gelesen sind, kommen sie nach den Regalen der Bibliothek, wo mehrere tausend Bücher stehen, die ein mit fünfundzwanzigtausend Dollars besoldeter Bibliothekar in Ordnung hält, und er ist vielleicht der Beamte der Insel, der am wenigsten zu thun hat. Die Bibliothek enthält auch eine Anzahl phonographischer Bücher; damit erspart man sich die Mühe des Lesens, man drückt nur auf einen Knopf und hört sofort die Stimme eines vortrefflichen Vortragenden, so als ob Legouvé etwa Racine's »Phädra« laut vorläse.[97]
Was »örtliche« Zeitungen angeht, so werden diese in den Ateliers des Casinos unter der Aufsicht zweier Chefredacteure gesetzt und gedruckt. Die eine ist das »Starboard-Chronicle« für die Steuerbordstadt, die andre, der »New-Herald«, für die Backbordstadt. Die Chronik beider Blätter bringt verschiedne Nachrichten, berichtet über die Ankunft der Packetboote, über Vorkommnisse auf dem Meere und Begegnungen mit Schiffen, ferner Handelsnachrichten für die Kaufleute, die täglichen Bestimmungen der Länge und Breite, die Entscheidungen der Notabelnversammlung, die Verordnungen des Gouverneurs und die Vorkommnisse auf dem Standesamte: Geburten, Eheschließungen, Todesfälle – von letzteren nur sehr wenige. Diebstähle oder gar Mordthaten kommen nicht vor, die Gerichte haben nur mit Civilangelegenheiten, höchstens mit Streitigkeiten unter Einzelnen zu thun. Artikel über Hundertjährige sieht man niemals, weil die Erreichung eines so langen Lebens hier kein Privilegium Einzelner ist.
Was die ausländliche Politik angeht, hält man sich durch die Mittheilungen von der Madeleinebay auf dem Laufenden, wo die in den Tiefen des Stillen Oceans versenkten Kabel Landanschluß haben. Die Milliardeser sind auf diese Weise über Alles unterrichtet, was auf der ganzen Welt vorgeht, wenn das nur irgend von größerem Interesse ist. Wir bemerken hierbei auch, daß das »Starboard-Chronicle« und der »New-Herald« sich gegenseitig nicht mit rauhen Händen anfassen. Bisher haben sie sich wenigstens gut vertragen, obwohl niemand dafür stehen kann, daß sich das nicht einmal ändern könnte. Bei großer Toleranz und weitgehender Nachsichtigkeit auf religiösem Gebiete, bestehen Protestantismus und Katholicismus auf Standard-Island friedlich nebeneinander. In Zukunft, wenn sich vielleicht die häßliche Politik mit einmengt, wenn Geschäftsinteressen Die oder Jene mehr aufreizen, wenn bei irgendwelchen Fragen die Eigenliebe wachgerufen wird... wer weiß?...
Außer diesen beiden Tagesblättern giebt es noch Wochen- und Monatsblätter, die Artikel aus fremden Zeitungen wiedergeben, wie die der Nachfolger eines Sarcey, Charmes, Fournel, Deschamps, Fouquier, France und andrer Kritiker von hohem Ansehen. Dazu erscheinen illustrierte Magazine, ohne ein Dutzend andrer Blätter zu rechnen, die, für einzelne Kreise bestimmt oder des Abends auf den Straßen ausgeboten, die gewöhnlichen kleinen Nachrichten bringen. Sie haben keinen andern Zweck, als einen Augenblick zur Unterhaltung zu dienen, den Geist und... sogar den Magen anzuregen. Ja, einzelne sind wirklich auf eine Art Kuchenteig mit Chocoladentinte gedruckt. Hat man sie gelesen, so verzehrt[98] man sie als erstes Frühstück, dabei wirken die einen mehr stärkend, die andern etwas schwächend, und der Körper befindet sich dabei ganz wohl. Das Quartett hält diese Erfindung für ebenso bequem wie practisch.
»Da giebt es ja leichtverdauliche Lectüre! bemerkte Yvernes.
– Und eine nahrhafte Literatur! antwortete Pinchinat. Kuchenbäckerei und Literatur vermengt, das stellt sich der hygienischen Musik recht passend an die Seite!«
Jetzt drängt sich die Frage auf, über welche Hilfsquellen die Schraubeninsel gebietet, um ihre Einwohnerschaft in einem Wohlleben zu erhalten, mit dem sich keine Stadt der beiden Welten zu messen vermag. Ihre Einkünfte müssen sich auf eine kaum glaubliche Summe belaufen, wenn man bedenkt, wie viel hier auf jeden Theil der öffentlichen Verwaltung und auf die Bezahlung auch der niedrigsten Beamten verwendet wird.
Die Künstler erkundigten sich hierüber bei dem Oberintendanten.
»Eigentliche Geschäfte, erklärte dieser, betreibt man hier nicht. Wir haben keinen Board of Trade, keine Börse, keine Industrie, und Handel nur insoweit, als ihn die Bedürfnisse der Insel unentbehrlich machen. So werden wir den Fremden auch nie etwas Aehnliches wie den Weltjahrmarkt von Chicago 1893 oder die Pariser Ausstellung von 1900 zu bieten haben. Nein, die mächtige Religion der Busineß existiert bei uns nicht und wir stoßen nie den Ruf Go ahead aus, außer wenn unser Juwel des Stillen Oceans sich auf den Weg machen soll. Geschäften also im eigentlichen Sinne verdanken wir die nöthigen Hilfsmittel zur Unterhaltung Standard-Islands nicht, sondern den Zollgebühren. Die Zolleinnahmen allein decken alle Ansprüche unsers Budgets...
– Und das beträgt? fragte Frascolin.
– Zwanzig Millionen Dollars, meine werthen Herren!
– Hundert Millionen Francs, ruft die zweite Geige, und das für eine Stadt von zehntausend Seelen!...
– Ganz recht, lieber Frascolin, eine Summe, die uns die Zollgebühren liefern. Städtische Eingangsabgaben haben wir nicht, da die örtliche Production zu unbedeutend ist. Nein, nichts als die Zölle, die in den beiden Häfen erhoben werden. Das erklärt Ihnen auch den hohen Preis aller Consumartikel – und doch bedeutet das nur eine verhältnißmäßige Theuerung, denn die Preise, so wie sie sind, entsprechen bequem den Mitteln, über die hier jedermann verfügt.«
So redet sich Calistus Munbar wiederum warm, lobt seine Stadt und seine Insel... gleich einem Stücke eines höhern Planeten, das, ein schwimmendes[99] Paradies, mitten in den Stillen Ocean gefallen ist, worauf sich alle Weisen geflüchtet haben, und wenn das wahre Glück nicht hier wohnt, so trifft man es überhaupt nirgends. Es klingt als ob er sagen wollte:
»Immer herein, meine Damen und Herren! Wollen Sie sich mit Billetten versehen! Alles schon stark besetzt. Wer wünscht noch ein Billet?«... u. s. w.
In der That, Platz giebt es nur sehr wenig und die Billette sind theuer! Bah, der Intendant wirst mit Millionen herum, die in dieser Stadt der Milliardäre eben die Münzeinheit bilden.
Im Laufe dieser Tirade, bei der die Sätze wie ein Wasserfall hervorsprudeln und durch Handbewegungen mit wahrhaft semaphorischem Eifer begleitet werden, erfährt das Quartett nun Näheres über die verschiednen Zweige der Verwaltung, zuerst über die Schulen mit freiem, aber obligatorischem Unterricht, der von Lehrern, die gleich Ministern bezahlt werden, ertheilt wird. Hier lernt man todte und lebende Sprachen, Geschichte und Geographie, Physik und Mathematik, sowie gesellige Künste, und zwar besser als an sonst welcher Universität oder Akademie der Alten Welt, wenn man Calistus Munbar glauben darf. In Wahrheit drängen sich die Zöglinge nicht besonders zu den öffentlichen Unterrichtsstunden, und wenn die jetzige Generation noch etwas Färbung von den Studien an den Colleges der Vereinigten Staaten erkennen läßt, so wird doch die nächste jedenfalls mehr Renten als Gelehrsamkeit aufzuweisen haben. Das ist ein wunder Punkt, doch wahrscheinlich können menschliche Wesen nur verlieren, wenn sie sich von der übrigen Menschheit absondern.
Damit ist nicht gesagt, daß nicht Einzelne dann und wann nach andern Ländern und nach den Weltstädten Europas reisten. Gewiß wird ein kleinerer Theil gelegentlich von Neugierde getrieben, zu sehen, was die Erde sonst zu bieten hat. Sie ermüden aber und langweilen sich dabei, es fehlt ihnen die gleichmäßige Existenz, die sie von Standard-Island her gewöhnt sind; sie leiden von der Wärme wie von der Kälte und holen sich den Schnupfen, der in Milliard-City unbekannt ist. So kehren sie voller Ungeduld bald nach ihrer Insel zurück, ohne von ihren Reisen irgendwelchen Vortheil gehabt zu haben. Sie gingen als Gepäckstücke fort, kamen als solche wieder, und fügen wir hinzu: sie werden auch nur Gepäckstücke bleiben.
Was Fremdlinge anbelangt, die der Ruf von Standard-Island, dieses neunten Weltwunders – seit der Eiffelthurm, wie die Leute sagen, das achte darstellt – hierherlocken könnte, so meinte Calistus Munbar, daß diese niemals[100] besonders zahlreich sein werden. Man legt hier auch keinen großen Werth darauf, obwohl man daraus noch eine neue Einnahmequelle hätte machen können. Im vergangnen Jahre waren die meisten der Besucher amerikanischer Herkunft. Von andern Nationen sah man fast niemand, außer einigen Engländern, die man allemal an ihren aufgestreiften Hosen erkennt, die sie in dieser Weise unter dem Vorwande tragen, daß es in London regne. Großbritannien sieht übrigens die Schöpfung von Standard-Island mit scheelen Augen an, da es seiner Ansicht nach die freie Schiffsbewegung störe, und es würde sich freuen, wenn jenes wieder verschwände. – Deutsche finden nur einen lauen Empfang, da sie, wenn sie hier erst festen Fuß faßten, aus Milliard-City jedenfalls bald ein zweites Chicago machen würden. Franzosen werden von der Gesellschaft mit der meisten Sympathie aufgenommen, da man von ihnen nichts fürchtet, doch weiß das Quartett nicht, ob bisher ein Franzose schon auf Standard-Island erschienen ist.
»Das ist nicht wahrscheinlich, meint Pinchinat.
– Wir sind dazu nicht reich genug, setzt Frascolin hinzu.
– Um als Rentner hier zu leben, das ist möglich, antwortete der Oberintendant, dagegen als Beamter, Lehrer...
– Nun, wohnt denn ein Landsmann von uns in Milliard-City? fragte Yvernes.
– Jawohl, einer.
– Und wer ist dieser Glückliche?
– Herr Athanase Dorémus.
– Was macht denn dieser Athanase Dorémus hier? ruft Pinchinat.
– Er ist Tanz- und Anstandslehrer und bezieht von der Stadt einen recht beträchtlichen Gehalt, ohne seine Privatstunden zu erwähnen...
– Die nur ein Franzose zu geben im Stande ist!« erklärt der Bratschist.
Das Quartett ist nun nach allen Seiten über die Verhältnisse auf Standard-Island unterrichtet. Die vier Freunde können sich daher ganz dem Reize der Fahrt hingeben, die sie nach dem Westen des Stillen Oceans entführt. Ginge die Sonne nicht heute an diesem und morgen an jenem Punkte der Insel auf, je nach der Richtung, in der diese auf Anordnung des Commodore Simcoë weitergleitet, so könnten Sebastian Zorn und seine Kameraden sich auf festem Lande zu befinden glauben. Im Laufe der nächsten vierzehn Tage wurde es wohl zweimal sehr stürmisch, denn das kommt auch auf dem Stillen Ocean trotz seines Namens vor. Die Wogen schlugen donnernd an dem metallenen Rumpfe[101] empor und schäumten dann wie an einem Ufer hinauf – Standard-Island erzitterte aber nicht einmal bei diesem Aufruhr der Elemente. Die Wuth derselben ist ohnmächtig gegen dasselbe. Der Menschengeist hat die Natur besiegt. Vierzehn Tage später, am 11. Juni, findet die erste Kammermusikaufführung statt, die mittelst Placaten mit elektrischen Buchstaben längs der großen Alleestraße angekündigt wurde Selbstverständlich sind die Musiker vorher dem Gouverneur und den ersten Personen der Stadt vorgestellt worden. Cyrus Bikerstaff hat sie sehr herzlich empfangen. Die Journale haben an die Erfolge des Concert-Quartetts bei dessen Reisen durch die Vereinigten Staaten erinnert und den Oberintendanten warm beglückwünscht, daß es ihm gelungen sei, sich der Künstler, wenn auch auf etwas seltsame Weise, zu versichern. Welche Freude, diese Herren, wenn sie die Meisterstücke aller Zeiten vortragen, nicht allein hören sondern auch sehen zu können! Welcher Genuß für die Kenner!
Wenn die vier Pariser für das Casino in Milliard-City gegen eine fabelhafte Gage angestellt sind, so darf man nicht glauben, daß deren Concerte dem Publicum etwa unentgeltlich dargeboten wurden. Weit gefehlt. Die Behörde hofft damit eine große Einnahme zu erzielen, ganz wie die amerikanischen Impresarios, deren Sängerinnen oft einen Dollar für den Tact oder gar für jede Note kosten. Hier bezahlt man schon von jeher für die theatrophonischen und phonographischen Concerte im Casino und wird an diesem Tage noch weit mehr zahlen. Die Plätze haben alle denselben Preis: Zweihundert Dollars (oder tausend Francs) für den Stuhl, und Calistus Munbar schmeichelt sich, den Saal ganz ausgefüllt zu sehen.
Er hat sich nicht getäuscht, alle Plätze sind vergriffen. Der reizende Saal des Casinos enthält deren freilich nur hundert, und wenn man diese etwa versteigert hätte, so läßt sich gar nicht sagen, wie hoch die Einnahme wohl gestiegen wäre. Dergleichen war auf Standard-Island aber nicht Gebrauch. Für Alles, was einen Kaufwerth hat, wird der Preis vorher bestimmt, sonst könnte es bei den ungeheuern hier vertretenen Vermögen leicht zu unmäßigen Preissteigerungen kommen, was man möglichst zu vermeiden wünschte. Immerhin sei die Bemerkung eingeflochten, daß, wenn die reichen Steuerbordbewohner aus Liebe zur Kunst ins Concert gehen, die reichen Backbordbewohner es ihnen nur aus gesellschaftlicher Rücksicht gleichthun.
Als Sebastian Zorn, Pinchinat, Yvernes und Frascolin vor die Zuschauer und Zuhörer aus New-York, Chicago, Philadelphia und Baltimore traten, war[102] es ihrerseits keine Uebertreibung, wenn sie sagten: Da steht ein Publicum, das Millionen werth ist. Heute Abend ist ein solcher Ausspruch hinter der Wahrheit weit zurückgeblieben. Man bedenke nur: da saßen in der ersten Reihe der Fauteuils Jem Tankerdon, Nat Coverley und deren Familien; auf den andern Plätzen eine Menge Kunstfreunde, die, wenn sie auch unter der Milliarde blieben, doch einen »schweren Sack« voll besaßen, wie Pinchinat treffend bemerkte.
»Nun vorwärts!« sagte der Quartettdirigent, als die Stunde gekommen war, sich auf der Estrade zu zeigen.
Und damit gehen sie, kaum mehr, ja nicht einmal so erregt, als wenn sie hätten vor einem Pariser Publicum auftreten sollen, das zwar weniger Geld in der Tasche, doch gewiß mehr Kunstsinn gehabt hätte.
Hatten Sebastian Zorn, Yvernes, Frascolin und Pinchinat auch noch keinen Unterricht bei ihrem Landsmann Dorémus genommen, so war ihr Auftreten doch nicht minder correct. Sie erschienen dabei in weißer Cravatte zu fünfundzwanzig Francs, perlgrauen Handschuhen zu fünfzig Francs, Oberhemd zu siebzig Francs, Stiefeln zu hundertachtzig Francs, Weste zu zweihundert Francs, in schwarzen Beinkleidern zu fünfhundert und in schwarzem Frack zu tausendfünfhundert Francs, natürlich auf Kosten der Stadtverwaltung. Man empfängt sie mit Beifallsrufen, mit lautem Händeklatschen auf Seite der Steuerbordbewohner und etwas discreter auf Seite der Backbordbewohner – das ist so Sache des Temperaments.
Das Programm des Concerts enthält vier Nummern, wozu ihnen die durch den Oberintendanten reich ausgestattete Bibliothek des Casinos die Noten geliefert hat, nämlich:
Erstes Quartett in E-moll: Op. 12 von Mendelssohn.
Zweites Quartett in F-dur: Op. 16 von Haydn.
Zehntes Quartett in E-moll: Op. 74 von Beethoven.
Fünftes Quartett in A-dur: Op. 10 von Mozart.
Die Solisten übertrafen sich selbst in diesem mit Milliarden vollgepfropften Saal an Bord einer schwimmenden Insel und über einer Wasserfläche, deren Tiefe an dieser Stelle des Großen Oceans über fünftausend Meter erreichte. Sie erzielen einen großen und wohlverdienten Erfolg, vorzüglich von Seiten der Dilettanten der Steuerbordhälfte. An diesem denkwürdigen Abend hätte man den Oberintendanten sehen müssen: er jauchzt vor Vergnügen. Es sieht aus, als spielte er selbst auf zwei Geigen, einer Bratsche und einem Violoncell. Welch'[103] glückliches Debüt für die Vertreter der herrlichen Kammermusik – und für deren Impresario!
Doch nicht allein der Saal ist gänzlich gefüllt, auch vor dem Casino wogt noch eine gewaltige Menschenmenge. Sehr, sehr viele haben sich beim besten Willen kein Plätzchen mehr verschaffen können, und außerdem mochte doch der hohe Preis auch noch manche abgeschreckt haben. Diese »Zaunbilletinhaber« hören die Musik nur von fern, so als ob sie aus dem Kasten des Phonographen oder aus dem Schalltrichter des Telephons erklänge; ihre Beifallsbezeugungen sind[104] deshalb aber nicht minder lebhaft. Noch betäubender werden dieselben jedoch, als sich Sebastian Zorn, Yvernes, Pinchinat und Frascolin nach Beendigung des Concerts auf der Terrasse des linken Pavillons zeigen. Die Erste Avenue ist von glänzenden Lichtstrahlen übergossen. Die elektrischen Monde werfen einen Glanz hinab, um den die bleiche Selene sie beneiden könnte.
Dem Casino gegenüber, auf dem Trottoir und etwas seitwärts erregen zwei Leute die Aufmerksamkeit Yvernes'. Da steht ein Mann mit einer Frau am Arme. Der etwas unter mittelgroße Mann mit seinen, doch ernsten, fast traurigen[105] Gesichtszügen mag etwa fünfzig Jahre zählen. Die etwas jüngre, große, stolz erscheinende Frau zeigt unter einem Hute bereits weiß gewordnes Haar.
Betroffen über ihre reservierte Haltung, macht Yvernes den Calistus Munbar auf das Paar aufmerksam.
»Wer sind diese Leutchen? fragt er.
– Diese Leute?... antwortete der Oberintendant, um dessen Lippen ein verächtliches Lächeln spielt. O das sind überspannte Musiknarren.
– Warum haben sie sich denn keinen Platz im Casino gesichert?
– Wahrscheinlich, weil er ihnen zu theuer gewesen ist.
– Ihr Vermögen ist also klein?
– Sie haben kaum zweimalhunderttausend Francs Rente.
– Pah! machte Pinchinat... Und wer sind denn die armen Teufel?
– Der König und die Königin von Malecarlien.«
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