Achtes Capitel.
Unterwegs.

[106] Nachdem sie diesen außergewöhnlichen schwimmenden Apparat geschaffen hatte, mußte die Standard-Island Company auch noch für eine doppelte Verwaltung, eine solche für maritime und eine andre für städtische Angelegenheiten Sorge tragen.

Die erste hat als Director oder vielmehr als Kapitän, wie wir wissen, den Commodore Ethel Simcoë von der Flotte der Vereinigten Staaten. Ein Mann von fünfzig Jahren und erfahrener Seemann, kennt er gründlich alle Theile des Stillen Oceans, seine Stürme und Klippen, wie seine unterseeischen Korallenbauten. Er ist also wie dazu geschaffen, die Schraubeninsel und mit ihr die reichen Existenzen, für die er vor Gott und der Compagnie die Verantwortung hat, mit sichrer Hand zu führen.

Der andre Theil der Verwaltung, der der städtischen und civilen Angelegenheiten, liegt in den Händen eines Gouverneurs. Cyrus Bikerstaff ist ein Yankee[106] aus Maine, einem der föderierten Staaten, die sich während des Secessionskriegs am wenigsten an dem brudermörderischen Kampfe betheiligten. Mit Cyrus Bikerstaff hatte man also eine glückliche Wahl getroffen, da er als Bindemittel zwischen den beiden Stadthälften am meisten geeignet war.

Der Gouverneur, der fast sechzig Jahre zählt, ist unbeweibt. Er ist ein etwas kalter Mann mit der nöthigen self control, unter phlegmatischem Aeußern doch sehr energisch, in seiner reservierten Haltung sehr englisch, dabei hat er das Benehmen eines Gentlemans und die Discretion eines Diplomaten, die in allen seinen Worten und Thaten hervortritt. In jedem andern Lande als auf Standard-Island würde er eine sehr hervorragende und deshalb hochgeschätzte Rolle spielen. Hier ist er nichts anders, als der erste Beamte der Gesellschaft. Uebrigens ist er, obgleich sein Gehalt die Civilliste manches kleinen europäischen Herrschers übertrifft, nicht reich und kann in Folge dessen neben den Nabobs von Milliard-City nicht hervortreten.

Cyrus Bikerstaff ist nicht allein Gouverneur, sondern auch Bürgermeister der Hauptstadt. Als solcher residiert er im Stadthause am Ende der Ersten Avenue, gegenüber dem Observatorium, wo der Commodore Ethel Simcoë seine Amtswohnung hat. Hier befinden sich seine Bureaux für die Standesamtssachen, für die Geburten, die zahlreich genug sind, um die Zukunst der Insel sicherzustellen; für die Sterbefälle – die Todten werden nach dem Friedhofe der Madeleinebay überführt – und für die Eheschließungen, die nach dem Codex von Standard-Island vor der kirchlichen Einsegnung erst civilrechtlich geschlossen werden müssen. Hier werden auch die andern Verwaltungsangelegenheiten erledigt, und niemals ist über die Amtsführung eine Klage laut geworden. Das macht dem Bürgermeister und seinen Beamten alle Ehre. Als ihm Sebastian Zorn, Pinchinat, Yvernes und Frascolin durch den Oberintendanten vorgestellt wurden, nahmen sie davon einen recht günstigen Eindruck mit hinweg, den Eindruck, den die Individualität eines guten und gerechten Mannes, eines practischen Geistes, der weder zu Vorurtheilen, noch zu chimären neigt, immer hervorzubringen pflegt.

»Meine Herren, redete er sie an, wir schätzen es als ein Glück, Sie hier zu haben. Vielleicht ist unser Oberintendant nicht ganz correct gegen Sie vorgegangen, ich hoffe aber, daß Sie ihm das verzeihen werden. Uebrigens sollen Sie sich über uns in keiner Weise zu beklagen haben. Wir erwarten von Ihnen nur zwei Concerte monatlich und gewähren Ihnen völlige Freiheit, etwaige private[107] Einladungen anzunehmen. Wir begrüßen in Ihnen Künstler von höchstem Werthe und werden niemals vergessen, daß Sie die ersten Musiker waren, die wir zu empfangen die Ehre hatten.«

Das Quartett ist über diese Aufnahme ganz entzückt und giebt auch gegen Calistus Munbar seiner Befriedigung Ausdruck.

»Ach ja, es ist ein recht liebenswürdiger Mann, unser Cyrus Bikerstaff, antwortet der Oberintendant mit leichtem Achselzucken. Es ist nur bedauerlich, daß er nicht eine oder zwei Milliarden besitzt...

– Freilich, niemand ist vollkommen hienieden!« bemerkt Pinchinat.

Der Gouverneur-Bürgermeister von Milliard-City hat zwei Adjuncte, die ihn in der sehr einfachen Verwaltung der Schraubeninsel unterstützen. Unter diesen steht noch eine kleine Anzahl gebührend honorierter Beamter, die den einzelnen Fächern vorstehen. Ein Stadtrathscollegium giebt es nicht. Wozu auch? An dessen Stelle fungiert eine Notabelnversammlung von etwa dreißig Personen, die durch Intelligenz und Vermögen dazu am besten qualificiert erscheinen. Bei vorliegenden wichtigen Angelegenheiten tritt diese Versammlung zusammen, z. B. wenn es sich um die Reiseroute handelt, die im Interesse der allgemeinen Hygiene eingehalten werden soll.

Wie sich unsre Pariser überzeugen konnten, gab es da zwar Meinungsverschiedenheiten und zuweilen Schwierigkeiten zu überwinden. Bisher vermochte Cyrus Bikerstaff aber durch seine kluge Intervention stets die einander entgegenstehenden Interessen zu vereinen und die Eigenliebe seiner Mitbürger zu besiegen.

Natürlich ist einer der beiden Adjuncte Protestant, Barthelemy Ruge, der andre Katholik, Hubley Harcourt, beide aus den obern Beamten der Standard-Island Company hervorgegangen und beide stehen Cyrus Bikerstaff mit gleichem Eifer zur Seite.

So liegen seit achtzehn Monaten, in der Fülle ihrer Unabhängigkeit, ohne alle diplomatischen Beziehungen, frei auf der weiten Fläche des Stillen Oceans, unbehelligt nach allen Seiten und unter selbst gewähltem Himmel die Verhältnisse der künstlichen Insel, auf der das Quartett ein ganzes Jahr verweilen soll. Mag es dabei auch manchem Abenteuer entgegengehen, mag ihm die Zukunft die oder jene Ueberraschung bereiten, keiner davon malt sie sich aus oder fürchtet sich davor, was der Violoncellist auch sagen möge, denn alles spielt sich hier in bestgeregelter Ordnung ab. Und doch sollte man meinen, daß der Menschengeist mit[108] der Erschaffung dieses Wohnsitzes, den er dem ungeheuern Weltmeer anvertraute, die ihm vom Schöpfer gezognen Grenzen überschritten hätte.

Die Fahrt geht nach Westen weiter. An jedem Tage wird zur Zeit des Meridiandurchgangs der Sonne von den, unter dem Befehle des Commodore Ethel Simcoë stehenden Officieren des Observatoriums das Besteck gemacht. Ein vierfaches Zifferblatt an den Seiten des Stadthausthurmes zeigt nach geographischer Länge und Breite genau die augenblickliche Lage der Insel an, und diese Angabe wird nach den Hôtels, den öffentlichen Gebäuden und nach den Privatwohnungen telegraphisch ebenso übermittelt wie die richtige Tageszeit, die bei dem Fortschreiten nach Westen sich natürlich jeden Tag ändert. Die Milliardeser können also jeden Augenblick wissen, welchen Punkt Standard-Island auf seiner Fahrt eben einnimmt.

Abgesehen von dieser unmerkbaren Fortbewegung über den Ocean, unterscheidet sich Milliard-City in keiner Weise von den Großstädten der Alten und der Neuen Welt. Das öffentliche und private Leben geht ganz in gleicher Weise vor sich. Im Ganzen wenig beschäftigt. benützen unsre Künstler ihre erste Muße zur Besichtigung alles dessen, was dieses wunderbare Juwel des Stillen Oceans enthält. Die Tramwagen befördern sie nach jedem Punkte der Küste. Die beiden Elektricitätswerke erregen ihre höchste Bewunderung durch ihre so übersichtliche Einrichtung, die Leistungsgröße ihrer auf eine zweifache Reihe von Propellern wirkenden Maschinen, sowie durch die erstaunliche Disciplin ihres Personals, dem in dem einen der Ingenieur Watson, in dem andern der Ingenieur Somwah vorsteht. In regelmäßigen Zwischenräumen laufen im Back- oder Steuerbordhafen von Standard-Island – je nachdem dessen Lage den Zugang nach dem einen oder dem andern erleichtert – die im Dienste der Insel stehenden Dampfer ein.

Wenn der hartköpfige Sebastian Zorn sich weigert, alle diese Wunder anzuerkennen, wenn Frascolin seinen Gefühlen minder lauten Ausdruck verleiht, so lebt dafür der enthusiastische Yvernes in voller Wonne. Seiner Meinung nach wird das zwanzigste Jahrhundert nicht verstreichen, ohne daß die Meere von weitern schwimmenden Inseln belebt werden. Das wäre dann der Gipfelpunkt des Fortschritts und des Comforts der Zukunft. Welch' herrliches Bild, dann diese bewegliche Insel ihre Schwestern in Oceanien besuchen zu sehen! Pinchinat fühlt sich in der goldstrotzenden Umgebung hier ganz berauscht, wenn er nur von Millionen wie zu Hause von ein paar ärmlichen Louis-d'or reden hört. Banknoten wandern unausgesetzt von Hand zu Hand. Gewöhnlich führt man zwei-oder[109] dreitausend Dollars in der Tasche mit sich, und mehr als einmal spöttelt der Bratschist gegenüber Frascolin mit den Worten:

»Was?... Du hast nicht einmal fünfzigtausend Francs bei Dir?«

Mit der Zeit hatte das Concert-Quartett, das überall gute Aufnahme fand, auch einige Bekanntschaften angeknüpft. Wer hätte sich auf die Empfehlung Calistus Munbar's hin auch geweigert, den Künstlern in freundlichster Weise entgegenzukommen?

In erster Linie haben sie ihrem Landsmanne Athanase Dorémus, dem Tanz- und Anstandslehrer, einen Besuch abgestattet.

Dieser brave Mann haust in der Steuerbordstadt in einer bescheidnen, nur dreitausend Dollars Miethe kostenden Wohnung der Fünfundzwanzigsten Avenue. Als Aufwärterin hat er, für hundert Dollars monatlich, eine alte Negerin. Er ist entzückt, mit Franzosen, und zwar mit solchen, die Frankreich Ehre machen, in nähere Verbindung zu treten.

Ein Greis von reichlich siebzig Jahren, ist er etwas hager und eher klein, hat aber noch lebhafte Augen und volle Zähne, sowie üppiges Haar, das, wie der Bart, ganz weiß ist. Er geht ziemlich geziert, mit einer gewissen rhythmischen Cadenz, hält den Oberkörper ein wenig nach vorn, die Arme gerundet und die tadellos beschuhten Füße stets etwas auswärts. Unsre Künstler hören ihn gern plaudern, und er thut das nicht minder gern, denn seine Grazie wird nur von seiner Schwatzhaftigkeit erreicht.

»Wie glücklich bin ich, meine lieben Landsleute, wie glücklich bin ich – das wiederholt er bei dem ersten Besuche zwanzigmal – wie glücklich bin ich, Sie zu sehen! Welch herrlicher Gedanke von Ihnen, sich auf unsrer Insel niederzulassen! Sie werden das nicht bereuen, denn jetzt, nachdem ich mich hier eingewöhnt habe, begreife ich gar nicht mehr, wie es möglich ist, in andrer Weise zu leben!

– Und wie lange sind Sie schon hier, Herr Dorémus? fragt Yvernes.

– Seit achtzehn Monaten, antwortet der Tanzlehrer, der die Füße in die zweite Position bringt. Ich war mit bei der Gründung Standard-Islands. In Folge ausgezeichneter Empfehlungen, die mir von New Orleans aus zu Gebote standen, nahm Herr Cyrus Bikerstaff, unser verehrter Gouverneur, meine Dienste ohne Zögern an. Von jenem gesegneten Tage ab hat das Honorar, das mir für die Leitung einer höheren Tanzakademie bewilligt wurde, mir erlaubt, hier...[110]

– Als Millionär zu leben! vollendet Pinchinat den Satz.

– O, was hierzulande nur ein Millionär ist...

– Ja, ja... weiß schon... lieber Landsmann! Doch nach dem, was wir vom Oberintendanten gehört haben, scheint Ihre Akademie nicht sehr besucht zu werden.

– Ich habe freilich nur Zöglinge aus der Stadt, meist recht junge Leute. Die jungen Amerikaner glauben, schon mit der ihnen nothwendigen Portion Grazie geboren zu sein. Viele junge Leute ziehen es auch vor, im Geheimen Unterricht zu nehmen, und so bringe ich ihnen denn privatim die schönen französischen Umgangsformen bei!«

Er lächelt bei seinen Worten, ziert sich wie eine alte Kokette und übertrifft sich selbst in graziösen Stellungen.

Athanase Dorémus, ein Picarde von Santerre, hat Frankreich in früher Jugend verlassen, um sich in den Vereinigten Staaten, in New-Orleans anzusiedeln. Hier, unter der ursprünglich französischen Bevölkerung Luisianas hat es ihm nicht an Gelegenheit gefehlt, seine Talente zu verwerthen. In die vornehmsten Familien eingeführt erzielte er recht schöne Erfolge und konnte sogar einiges Vermögen ansammeln, das ihm freilich eines schönen Tages durch einen amerikanischen Krach geraubt wurde. Das war zur Zeit, als die Standard-Island Company sich aufthat, ihre Prospecte versendete und durch vielfache Annoncen sich an alle steinreichen Leute wendete, denen Eisenbahnen, Petroleumquellen oder der Handel mit lebenden oder gepöckelten Schweinen unermeßliche Schätze in den Schoß geworfen hatten. Da kam Athanase Dorémus der Gedanke, sich dem Gouverneur der neuen Stadt als Tanzlehrer für deren Einwohner anzubieten. Zum Glück in der aus New Orleans stammenden Familie Coverley eingeführt und Dank der Empfehlung des Hauptes derselben, der unter den Steuerbordstädtern von Milliard-City zu den ersten Notabeln zählen sollte, wurde er angenommen, und so kam es, daß sich ein Franzose, sogar ein Picarde, unter den Angestellten Standard-Islands befand. Wohl ertheilte er seine Stunden mehr im eignen Privatzimmer, und die Spiegelwände im Saale des Casinos warfen nur das Bild des Lehrers allein zurück, doch das war ohne Bedeutung, da sich sein Honorar deshalb nicht verringerte.

Im Ganzen ist es ein braver Mann, wenn auch etwas lächerlich, überspannt und von sich eingenommen, denn er ist überzeugt, neben der Erbschaft eines Vestris oder Saint Léon auch die Traditionen eines Brummel und eines Lord[111] Seymour zu besitzen. Für das Quartett ist er überdies ein Landsmann, eine Eigenschaft, die einige tausend Meilen weit von Frankreich allemal einen gewissen Werth hat.

Die vier Pariser müssen ihm ihre letzten Abenteuer berichten, ihm erzählen, unter welchen Umständen sie nach der Schraubeninsel gekommen sind, wie Calistus Munbar sie zu sich »an Bord« – das ist der richtige Ausdruck – geschleppt und wie das »Fahrzeug« einige Stunden nach ihrer Einschiffung die Anker gelichtet hat.

»Das wundert mich von unserm Oberintendanten gar nicht, erklärt der alte Tanzmeister, solche Streiche liebt er und hat noch ganz andre ausgeführt. Es ist ein richtiger Abkömmling Barnum's und er wird die Compagnie noch in Verlegenheit bringen... so ein Herr sans-gêne, der recht gut etwas Anstandsunterricht gebrauchen könnte... einer jener Yankees, die sich in einen Polsterstuhl hinflegeln und die Beine ans Fensterbrett stemmen.

Nicht eigentlich bösartig, meint er sich doch alles erlauben zu können. Uebrigens, meine lieben Landsleute, denken Sie ja nicht daran, ihm eines auszuwischen, denn abgesehen von Ihrem Aerger, das Concert in San Diego verpaßt zu haben, werden Sie sich wegen Ihres Aufenthalts in Milliard-City nur zu beglückwünschen haben. Man wird hier auf Sie Rücksichten nehmen, die Sie gewiß zu schätzen verstehen...

– Vorzüglich am Ende jedes Vierteljahrs!« fällt Frascolin ein, den die Wichtigkeit seiner Function als Cassierer der kleinen Truppe immer mehr einleuchtet.

Auf die ihm vorgelegte Frage über die Rivalität der beiden Stadthälften, bestätigt Athanase Dorémus vollständig, was Calistus Munbar darüber gesagt hat. Seiner Ansicht nach bildet diese einen dunkeln Punkt am Horizont und droht sogar mit einem spätern Sturme. Zwischen den Steuer- und den Backbordbewohnern kann es wohl einmal zu Streitigkeiten kommen. Die Familien Tankerdon und Coverley zeigen gegeneinander eine immer zunehmende Eifersucht, und das könnte zu einem Aufeinanderplatzen führen, wenn sie nicht durch irgend etwas auf freundlicheren Fuß kommen...

»Nun, wenn dabei die Insel nicht zerplatzt, braucht es uns ja nicht zu beunruhigen... bemerkt Pinchinat.

– Wenigstens so lange wir darauf eingeschifft sind, setzt der Violoncellist hinzu.


Die Officiere des Observatoriums machen das Besteck. (S. 109.)
Die Officiere des Observatoriums machen das Besteck. (S. 109.)

– O, die ist fest und dauerhaft, liebe Landsleute! versichert Athanase Dorémus. Seit den achtzehn Monaten, die sie auf dem Meere schwimmt, ist ihr noch nie ein nennenswerther Unfall zugestoßen. Nur ganz unbedeutende Reparaturen, um deren willen sie nicht einmal die Madeleinebay anzulaufen brauchte, mach[112] ten sich gelegentlich nöthig. Vergessen Sie nicht, daß sie aus Stahlplatten besteht! –

Das sagt ja alles, und wenn Stahlplatten nicht die beste Sicherheit auf Erden bieten, auf welches Metall soll man sich dann verlassen? Der Stahl ist doch ursprünglich Eisen, und unsre ganze Erdkugel ist ja schließlich weiter nichts,[113] als eine ungeheure Kohlen-Eisenverbindung. Standard-Island aber bildet eine Erde im Kleinen.

Pinchinat fragt nun weiter, was der Tanzlehrer wohl von dem Gouverneur Cyrus Bikerstaff denke.

»Ist der auch aus Stahl?

– Ja, Herr Pinchinat, antwortet Athanase Dorémus. Ausgerüstet mit großer Energie, ist er ein höchst gewandter Verwaltungschef. Leider genügt es in Milliard-City nicht, aus Stahl...

– Nein, man muß hier aus Gold sein, wirst Yvernes dazwischen.

– Ganz richtig, sonst... zählt man hier nicht!«

Es ist in der That so. Trotz seiner hohen Stellung gilt Cyrus Bikerstaff doch nur als Beamter der Compagnie. Er führt den Vorsitz in verschiednen städtischen Aemtern, ist beauftragt, die Zollgebühren einzunehmen, die öffentliche Wohlfahrt zu überwachen, die Straßen säubern und die Anpflanzungen pflegen zu lassen, Klageschriften u. dgl. entgegenzunehmen – mit einem Wort, der Gefahr zu trotzen, sich den größten Theil der Einwohner zu Feinden zu machen – sonst aber weiter nichts. Auf Standard-Island muß man »zählen«, und der Tanzlehrer hat gesagt, daß Cyrus Bikerstaff nicht mit »zählt«.

Seine Stellung verpflichtet ihn übrigens, als Vermittler zwischen den beiden Parteien aufzutreten, eine versöhnliche Haltung zu bewahren und nichts zu thun, was vielleicht der einen angenehm, der andern aber unangenehm wäre. Eine nicht leicht durchführbare Politik.

Schon beginnen Ideen aufzutauchen, die zu einem Conflict zwischen beiden Hälften führen könnten. Wenn die Steuerbordstädter sich auf Standard-Island nur in der Absicht niederließen, hier ihren Reichthum in Ruhe zu genießen, so fangen die Backbordstädter schon wieder an, an Geschäftsunternehmungen zu denken. Sie möchten die Insel zu einem riesigen Handelsschiffe verwandelt sehen, das mächtige Frachten nach den Niederlassungen von Oceanien beförderte; sie fragen, warum jede Industrie aus Standard-Island verbannt bleibt... kurz, obwohl sie noch nicht ganz zwei Jahre hier weilen, verfallen diese Yankees, mit Tankerdon an der Spitze, schon wieder in ihre Geschäftsmanie. Beschränken sie sich auch jetzt noch auf bloße Worte, so fühlt sich der Gouverneur Cyrus Bikerstaff doch etwas beunruhigt, wenn er auch die Hoffnung trägt, eine Verschlimmerung der Sachlage verhindern und jeder tiefern Störung einer Anlage vorbeugen zu können, die ganz ausschließlich für die Ruhe ihrer Bewohner geschaffen worden war.[114]

Bei der Verabschiedung von Athanase Dorémus verspricht das Quartett, seinen Besuch zu wiederholen. Gewöhnlich begiebt sich der Tanzlehrer des Nachmittags nach dem Casino, wo er sich aber zurückzieht. Um nicht der Nachlässigkeit geziehen zu werden, wartet er da und richtet vor den unbenützten Spiegeln des Saales alles für zu ertheilenden Unterricht ein.

Inzwischen gleitet die Schraubeninsel immer weiter nach Westen und ein wenig nach Südwest, um den Sandwich-Archipel anzulaufen. Unter den die heiße Zone begrenzenden Breitengraden herrscht schon eine recht hohe Temperatur. Die Milliardeser würden sie ohne die Milderung durch die Seewinde nur schwer ertragen haben.

Zum Glück sind die Nächte kühl, und selbst in den Hundstagen behalten die Bäume und Rasenplätze in Folge der Erfrischung mit künstlichem Regen ihr anmuthiges Grün. Jeden Mittag wird die von dem Zifferblatte am Stadthause abzulesende Ortsbestimmung nach den verschiednen Stadtvierteln telegraphiert. Am 17. Juni befindet sich Standard-Island unter 155 Grad westlicher Länge und 27 Grad nördlicher Breite, und nähert sich somit dem Wendekreise.

»Man möchte sagen, daß das Tagesgestirn die Insel im Schlepptau hat, declamiert Yvernes, oder, wenn Ihr wollt, eleganter, daß sie als Gespann die Rosse des göttlichen Apollo benützt!«

Eine ebenso richtige, wie poetische Bemerkung, die Sebastian Zorn mit Achselzucken hinnimmt. Es paßte ihm eben nicht, den wider Willen Geschleppten zu spielen.

»Und dann, wiederholt er immer wieder, werden wir ja sehen, wie die Geschichte endigt!«

Nur selten versäumt das Quartett einen täglichen Spaziergang im Parke, zur Stunde, wo daselbst die meisten Leute lustwandeln. Zu Pferde, zu Fuße und zu Wagen giebt sich hier alles, was zu den Notabeln Milliard-Citys zählt, ein Stelldichein. Die Weltdamen zeigen dabei ihre dritte tägliche Toilette, die vom Kopf bis zu den Füßen von gleicher Farbe und meist aus der gerade dieses Jahr modernen indischen Seide hergestellt ist. Oft tragen sie auch künstliche Seide aus Cellulose, die sehr glänzend schillert, oder selbst künstliche Baumwolle, die aus den Fasern der Tanne und des Lärchenbaumes gewonnen wird.

»Paßt auf, ruft deshalb Pinchinat, Ihr werdet es noch erleben, daß man Gewebe aus Epheuholz für treue Seelen und aus Trauerweide für trostlose Witwen herstellen wird!«[115]

Keinesfalls würden die reichen Milliardeserinnen aber diesen Stoffen ihre Gunst schenken, wenn sie nicht aus Paris kämen, und ebensowenig diesen Toiletten, wenn sie nicht den Stempel des Schneiderkönigs der Hauptstadt trügen, jenes Mannes, der das Axiom aufgestellt hat: »Die Frau ist weiter nichts als eine Frage der Form!«

Zuweilen bewegen sich auch der König und die Königin von Malecarlien durch die summende Menschenmenge. Das seiner Souveränität beraubte Paar flößt unsern Künstlern eine aufrichtige Theilnahme ein. Welche Gedanken bestürmen sie beim Anblick des Arm in Arm dahin wandelnden hohen Paares!.. Sie sind gegenüber vielen ihrer Mitbürger nur arm zu nennen, sie verleugnen aber einen gewissen Stolz, eine angeborne Würde niemals und ähneln etwa Philosophen, die sich über die Vorurtheile der Welt erhaben fühlen. Im Grunde fühlen sich die Amerikaner von Standard-Island doch geschmeichelt, einen König zum Mitbürger zu haben, und begegnen ihm mit aller seiner frühern Würde zukommenden Ehrerbietung. Auch das Quartett grüßt respectvoll Ihre Majestäten, wenn es diesen in den Avenuen der Stadt oder in den Alleen des Parkes begegnet. Der König und die Königin zeigen sich dankbar empfänglich für diese echt französische Ehrenbezeugung. Im Ganzen aber zählen Ihre Majestäten ebenso wenig, wie Cyrus Bikerstaff... vielleicht gar noch etwas weniger.

Wahrlich, Reisende, die sich vor dem Meere fürchten, sollten diese Art der Fortbewegung auf einer schwimmenden Insel wählen. Da hätten sie keine Seekrankheit zu gewärtigen und würden von keinem Sturme belästigt. Mit seinen zehn Millionen Dampf-Pferdekräften an den Seiten kann so ein Standard-Island von keiner Windstille zurückgehalten werden und ist mächtig genug, auch gegen widrige Winde aufzukommen. Wenn Zusammenstöße sonst eine Gefahr bedingen, so ist eine solche hier ganz ausgeschlossen. Desto schlimmer möchten sich jene gestalten für Schiffe, die mit vollem Dampf oder unter allen Segeln an diese Eisenküsten stoßen. Derartige Unfälle sind aber kaum zu fürchten wegen der Leuchtfeuer in beiden Häfen, wie am Vorder- und Hintertheile und wegen des elektrischen Lichtes der Aluminiummonde, die die Atmosphäre in der Nacht erhellen. Von den Stürmen ist gar nicht zu reden; eine solche Insel ist in der Lage, ihnen Zügel anzulegen.

Wenn ihr Spaziergang Pinchinat und Frascolin aber bis zum Vorder- oder Hintertheile der Insel, nach der Rammsporn- oder der Achterbatterie führt, erkennen sie beide, daß es hier an Vorgebirgen, Landspitzen, Buchten und[116] an einem flachen Strande gänzlich fehlt. Die Küste besteht nur aus einem Aufbau von Stahlplatten, die durch Millionen von Nieten und Schrauben miteinander verbunden sind. Wie würde es ein Maler beklagen, keine alten, zerrissenen Felsen zu finden, an deren Fuße die steigende Fluth mit dem Tang und dem Varec spielt! Ja, die Schönheiten der Natur vermag man durch kein Wunderwerk der Industrie zu ersetzen. Trotz seiner Neigung zum Bewundern muß Yvernes das doch zugeben. Der Stempel des Weltenschöpfers ist es, an dem es dieser künstlichen Insel gebricht.

Am Abend des 25. Juni überschritt Standard-Island den Wendekreis des Krebses an der Schwelle der Tropenzone im Stillen Ocean Zu derselben Stunde gab das Quartett im Saale des Casinos sein zweites Concert. Wir bemerken hierzu, daß nach dem ersten großen Erfolge der Eintrittspreis erhöht worden war.

Trotzdem erwies sich der Saal noch zu klein. Die Musikfreunde stritten sich um die Plätze. Offenbar muß gerade die Kammermusik der Gesundheit sehr zuträglich sein, und gewiß erlaubt sich niemand, ihre therapeutische Wirkung anzuzweifeln. Diesmal gab es – gemäß dem Recepte – lauter »Lösungen« von Mozart, Beethoven und Haydn.

Die Vortragenden ernteten einen stürmischen Applaus, und doch hätten ihnen Pariser Bravos gewiß mehr Genugthuung bereitet. Mangels derselben begnügen sich Yvernes, Pinchinat und Frascolin mit Milliardeser Hurrahs, für die Sebastian Zorn noch immer eine stolze Verachtung empfindet.

»Was kann man denn mehr verlangen, sagt Yvernes zu ihm, wenn man den Wendekreis überschreitet?«

Und als sie das Casino verlassen, wen bemerken sie da inmitten der armen Teufel, die keine dreihundert Dollars für einen Sitz im Saale anlegen konnten?... Den König und die Königin von Malecarlien, die bescheiden an der Hausthür stehen.[117]

Quelle:
Jules Verne: Die Propeller-Insel. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXVII–LXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1897, S. 106-118.
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