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[393] Bei Tagesanbruch hätte ein Beobachter aus einigen hundert Fuß Höhe Folgendes wahrnehmen können: drei Bruchstücke von Standard-Island, jedes zwei bis drei Hektar groß, treiben auf dem Wasser hin, noch ein Dutzend kleinre[393] schwimmen in der Entfernung von etwa zehn Kabellängen da und dort schaukelnd umher.
Mit dem ersten Morgenscheine hat der Cyklon an Macht verloren und entsprechend der ihnen eignen Geschwindigkeit dieser großen atmosphärischen Störungen hat sich sein Mittelpunkt gegen dreißig Meilen weiter nach Osten verschoben. Das furchtbar aufgeregte Meer rollt auch noch jetzt in hohen Wogen dahin, und die kleinen wie die großen Bruchstücke der Insel stampfen und schlingern gleich Schiffen im tobenden Sturm.
Der Theil Standard-Islands, der am schlimmsten gelitten hat, ist der Untergrund von Milliard-City selbst. Die Stadt ist in Folge ihrer Last gänzlich versanken. Vergebens würde man eine Spur ihrer Bauwerke suchen, der Hôtels, die die Hauptavenue der beiden Hälften geschmückt hatten. Niemals ist die Trennung der Backbord- und der Steuerbordbewohner eine so vollständige gewesen, und so wie jetzt haben sie sich diese gewiß nie vorgestellt.
Leider ist zu befürchten, daß die Katastrophe eine große Zahl von Opfern gekostet hat, obwohl die Bevölkerung sich rechtzeitig nach den Feldern mit deren widerstandsfähigeren Untergrunde geflüchtet hatte.
Nun sind die Coverley und Tankerdon von den Erfolgen ihrer sinnlosen Rivalität jedenfalls befriedigt. Keiner von ihnen wird allein die Verwaltung mehr leiten! Milliard-City ist untergegangen und mit ihm die riesige, dafür angelegte Summe. Deshalb braucht sich aber niemand besonders zu beklagen. In den Panzerschränken amerikanischer und europäischer Banken liegen für jene genug Millionen, die ihr tägliches Brod auch noch für die alten Tage sicherstellen.
Das größte Bruchstück enthält den Theil der Feldmark, der sich zwischen dem Observatorium und der Rammspornbatterie hinzog. Seine Oberfläche beträgt etwa drei Hektar, worauf die Schiffbrüchigen – sind sie nicht solche? – dreitausend an Zahl, zusammengepfercht sind.
Das etwas kleinre zweite Stück trägt noch einige erhalten gebliebne Baulichkeiten aus der Nachbarschaft des Backbordhafens, und zwar diesen selbst mit mehreren Vorrathshäusern und einem der Süßwasserbehälter. Das Elektricitätswerk mit der Maschinen- und der Heizanlage ist bei der Explosion der Kessel zerstört worden. Dieses zweite Bruchstück beherbergt zweitausend Menschen. Vielleicht können sie noch eine Verbindung mit dem ersteren herstellen, wenn nicht alle Boote des Backbordhafens verloren gegangen waren.[394]
Was den Steuerbordhafen angeht, wissen wir bereits, daß dieser Theil Standard-Islands gegen drei Uhr früh gewaltsam abgerissen worden ist. Er wurde ohne Zweifel verschlungen, denn so weit das Auge reicht, ist nichts davon zu entdecken.
Neben den genannten beiden Bruchstücken schwimmt noch ein drittes von vier bis fünf Hektar Oberfläche, das den an die Achterbatterie grenzenden Theil des Feldes umfaßt und worauf sich gegen viertausend Schiffbrüchige zusammendrängen.
Endlich tragen noch ein Dutzend andrer, nur wenige hundert Quadratmeter großer Stücke den Rest der Bevölkerung.
Das ist alles, was von dem Juwel des Stillen Oceans übrig blieb.
Die Anzahl der Opfer der Katastrophe ist wohl auf einige Hunderte zu schätzen. Und dem Himmel sei noch Dank dafür, daß Standard-Island nicht im ganzen im Wasser des Stillen Oceans unterging!
Bei ihrer großen Entfernung von jedem Lande ist nur nicht zu errathen, wie jene Bruchstücke irgendwo an ein Ufer gelangen sollen. Vielleicht gehen die Schiffbrüchigen doch noch durch Hunger zu Grunde und es ist fraglich, ob davon nur ein einziger Ueberlebender von dieser in der Meeresnekrologie ohnegleichen dastehenden Katastrophe Zeugniß ablegen kann.
Nein... nur nicht verzweifeln! Die dahintreibenden Stücke tragen energische Männer, und alles, was zu einer Rettung zu thun möglich ist, wird von ihnen zweifellos gethan werden.
Auf dem der Rammspornbatterie benachbarten Theile sind der Commodore Simcoë, der König und die Königin von Malecarlien, das Personal des Observatoriums, der Colonel Stewart, mehrere seiner Officiere, viele der Notabeln von Milliard-City, die Mitglieder der Geistlichkeit und daneben ein beträchtlicher Theil der Einwohnerschaft vereinigt.
Hier befinden sich auch die Familien Coverley und Tankerdon, sichtbar bedrückt von der schrecklichen Verantwortung, die auf ihren Familienhäuptern lastet. Und sind sie nicht schon in ihren innersten Gefühlen dadurch genug getroffen, daß Walter und Miß Dy verschwunden sind? Hat eines der andern Bruchstücke die jungen Leute aufgenommen? Ist noch eine Hoffnung vorhanden, sie jemals wiederzusehen?
Das Concert-Quartett ist vollzählig – sammt seinen Instrumenten – vorhanden. Um eine gebräuchliche Phrase anzuwenden: »Nur der Tod kann sie[395] trennen!« Frascolin betrachtet die Sachlage mit ruhigem Blute und hat noch nicht jede Hoffnung aufgegeben. Yvernes, der an allen Dingen die Besonderheiten hervorzuheben pflegt, ruft angesichts dieses Unglücks: »O, es wäre doch schwierig, ein großartigeres Ende zu ersinnen!«
Sebastian Zorn ist natürlich außer Rand und Band. Daß er der Prophet gewesen war, der das Unglück Standard-Islands, wie Jeremias den Untergang Zions, voraussagte, vermag ihm keinen Trost zu gewähren. Er hat Hunger, leidet an Frost, an Schnupfen und wird von unablässigem Stechen und Zwicken gepeinigt. Da sagt der unverbesserliche Pinchinat noch zu ihm:
»Du hast Unrecht, alter Zorn; wenn's in Dir überall rumort, giebt das schließlich auch eine Harmonie!«
Der Violoncellist würde Seine Hoheit gern erwürgen, wenn er die Kraft dazu hätte, doch die hat er zum Glück nicht mehr.
Und Calistus Munbar? – Ei, der Oberintendant ist einfach großartig... ja, himmlisch großartig! Er verzweifelt weder an der Rettung der Schiffbrüchigen, noch an der Standard-Islands. Man wird schon wieder nach Hause kommen... die Propeller-Insel wiederherstellen. Die Einzelstücke davon sind ja brauchbar, und es ist nicht ausgemacht, daß die Elemente dieses Meisterwerk maritimer Architektur bezwungen hätten.
Offenbar liegt eine weitere Gefahr jetzt nicht allzu nahe. Alles, was während des Cyklons untergehen sollte, ist mit Milliard-City, seinen Monumentalbauten, seinen Hôtels, Wohnungen, Maschinenanlagen, Batterien, kurz, mit dem ganzen, schwer lastenden Oberbau versunken. Zur Zeit befinden sich die Reste unter bessern Verhältnissen, ihre Schwimmlinie ist wieder aufgestiegen und die Wellen schlagen nicht mehr über sie hinweg.
Jetzt trat also eine gewisse Erholungspause, eine fühlbare Verbesserung ein, und da ein sofortiges Versinken nicht länger droht, heitert sich auch das Gemüth der Schiffbrüchigen ein wenig auf. Die Geister beruhigen sich. Nur die Frauen und Kinder können, vernünftiger Einsicht weniger zugänglich, den Schrecken noch immer nicht überwinden.
Was ist denn aus Athanase Dorémus geworden? Gleich bei Beginn des Zerstörungswerks hat sich der Tanz- und Anstandslehrer mit seiner alten Dienerin auf ein Trümmerstück geflüchtet. Eine Strömung hat dieses aber dem größern Fragmente zugetrieben, auf dem sich seine Landsleute vom Quartett befanden.[396]
Der Commodore Simcoë ist, unterstützt von seinem treuen Personal, wie der Kapitän eines verunglückten Schiffes, an die seiner harrende Aufgabe sofort herangetreten und hat sich zuerst gefragt, ob es möglich wäre, die einzelnen Bruchstücke irgendwie aneinander zu befestigen. Wenn das nicht angeht, ob eine Verbindung zwischen denselben möglich ist. Die letzte Frage beantwortete sich bald in bejahendem Sinne, denn im Backbordhafen finden sich noch einige unversehrte Boote vor. Schickt der Commodore diese von einem Bruchstück zum andern, so kann er hören, welche Vorräthe an Lebensmitteln und Süßwasser noch vorhanden sind.
Doch ist man auch im Stande, den Ort zu bestimmen, wo sich diese Flottille von Seetristen – der geographischen Länge und Breite nach – befindet?
Nein. Wegen Mangels an Instrumenten zur Sonnenhöhemessung kann kein Besteck mehr gemacht werden, und niemand wird sagen können, ob genannte Flottille in der Nähe eines Festlandes oder einer Insel hintreibt. Gegen neun Uhr morgens nimmt der Commodore Simcoë mit zweien seiner Officiere in einem aus dem Backbordhafen ausgelaufnen Boote Platz. Damit werden die verschiednen Bruchstücke angelaufen und eine umfassende Nachfrage ergiebt Folgendes:
Die Destillierapparate des Backbordhafens sind zerstört, eine Cisterne enthält aber noch trinkbares Wasser für etwa vierzehn Tage, wenn der Verbrauch auf das nothwendigste eingeschränkt wird. Die Vorräthe an festen Nahrungsmitteln reichen für die Schiffbrüchigen ungefähr für den gleichen Zeitraum aus.
Es ist also unbedingt nothwendig, daß alle binnen höchstens zwei Wochen auf irgendeine Küste im Stillen Ocean treffen.
Die obigen Ergebnisse sind einigermaßen beruhigend. Leider erkannte der Commodore Simcoë aber auch, daß die Sturmnacht ihnen mehrere hundert Opfer an Menschenleben gekostet hat. Der Schmerz der Familien Tankerdon und Coverley spottet jeder Beschreibung. Weder Walter noch Miß Dy hat sich auf einem der von dem Boote besuchten Bruchstücke wiedergefunden. Im Augenblick der Katastrophe war der junge Mann, mit seiner bewußtlosen Braut auf dem Arme, nach dem Steuerbordhafen geeilt, und von diesem Theile Standard-Islands ist auf der Oberfläche des Oceans nichts zurückgeblieben...
Am Nachmittage nimmt der Wind von Stunde zu Stunde ab, der Wellengang legt sich und die Bruchstücke empfinden fast gar nichts mehr von der sanfteren Bewegung des Wassers. Dank dem ermöglichten Verkehr der Boote[397] aus dem Backbordhafen kann der Commodore Simcoë die Schiffbrüchigen mit Speise und Trank soweit versorgen, daß sie wenigstens nicht vor Hunger und Durst umkommen.
Die gegenseitige Verbindung wird übrigens immer leichter und schneller. Den Gesetzen der Anziehungskraft folgend, streben die verschiednen Fragmente, wie in einer Wasserschüssel schwimmende Korkscheiben, sich einander zu nähern. Das mußte doch dem vertrauensseligen Calistus Munbar, der darin schon eine Wiederherstellung des Juwels des Stillen Oceans sehen wollte, von guter Vorbedeutung sein.
Die Nacht verläuft in tiefster Finsterniß. Die Zeit ist weit, wo die Avenuen von Milliard-City, die Straßen seiner Handelsviertel, die Rasenflächen des Parks, die Felder und die Wiesen in elektrischem Lichtglanze strahlten, wo die Aluminiummonde über ganz Standard-Island eine blendende Helligkeit verbreiteten.
Während der Dunkelheit ist es zu einigen Zusammenstößen zwischen mehreren Bruchstücken gekommen. Solche waren ja nicht zu verhüten, zum Glück sind sie aber nicht stark genug gewesen, um noch weitern Schaden anzurichten.
Bis Tagesanbruch zeigt sich, daß die Bruchstücke einander sehr nahe gerückt sind und gleichmäßig weiter treiben, ohne auf dem ruhigen Meere zu collidieren. Mit wenigen Ruderschlägen gelangt man von dem einen zum andern. Dem Commodore Simcoë fällt es deshalb leicht, den zulässigen Verbrauch an Nahrungsmitteln und Trinkwasser zu regeln. Das bleibt immer die Hauptsache, und die Schiffbrüchigen, die das einsehen, fügen sich ohne Widerspruch.
Die Boote werden auch von verschiednen Familien benützt, um Angehörige zu suchen, die sie noch nicht wiedergesehen haben. Welche Freude bei denen, die sich wiederfinden, wie verblaßt dagegen die Sorge wegen noch drohender Gefahren! Und welcher Schmerz bei denen, deren Mühen und Rufen nach den Anwesenden vergeblich bleibt!
Es ist offenbar ein sehr glücklicher Umstand, daß das Meer ganz ruhig geworden ist. Höchstens könnte man bedauern, daß auch der Südostwind nicht mehr weht. Er hätte die Strömung unterstützt, die in diesem Theile des Oceans nach der australischen Landmasse hin verläuft.
Auf Anordnung des Commodore Simcoë werden die Wachposten so vertheilt, daß sie den Horizont im ganzen Umkreise beobachten können. Wenn ein Schiff auftaucht, sollen ihm Signale gegeben werden. Solche kommen aber nur[398] selten durch diese weitab liegende Gegend, und am wenigsten in jetziger Jahreszeit, wo die Aequinoctialstürme auftreten.
Die Aussicht, eine Rauchsäule zwischen Himmel und Wasser zu entdecken, oder ein Segel, das am Horizonte hinzöge, ist also recht schwach. Und doch erhält der Commodore Simcoë am Nachmittage gegen zwei Uhr von einem der Wachposten folgende Meldung:
»Im Nordosten ist ein sich bewegender Punkt aufgetaucht, und wenn auch ein Rumpf nicht zu erkennen ist, so unterliegt es doch keinem Zweifel, daß ein Schiff seewärts von Standard-Island vorüberzieht.«
Diese Nachricht bringt eine gewaltige Aufregung hervor. Der König von Malecarlien, der Commodore Simcoë, die Officiere, die Ingenieure – alle begeben sich nach der Seite, von der aus das Fahrzeug beobachtet worden ist. Hier wird befohlen, seine Aufmerksamkeit durch Hissung von Fahnen an beliebigen Stangen zu erwecken, vielleicht auch durch gleichzeitige Schüsse aus den noch vorhandnen Feuerwaffen. Käme die Nacht heran, ohne daß diese Signale bemerkt würden, so soll auf dem vordersten Bruchstücke ein Feuer angezündet werden, und da ein solches in der Dunkelheit weithin sichtbar sein muß, ist es fast unmöglich, daß es übersehen würde.
Bis zum Abend zu warten, erwies sich als unnöthig. Die unerkennbare Masse näherte sich augenscheinlich. Darüber schwebt eine dichte Rauchwolke, und es liegt auf der Hand, daß sie auf die Ueberbleibsel von Standard-Island zusteuert.
Die Fernrohre verlieren sie nicht mehr aus dem Gesichtsfelde, obgleich ihr Rumpf die Meeresfläche nur wenig überragt und weder Maste noch Segelwerk führt.
»Liebe Freunde, rief bald darauf der Commodore Simcoë, ich täusche mich nicht!... Das ist ein Stück unsrer Insel und kann nur der Steuerbordhafen sein, der durch Strömungen verschlagen worden war. Gewiß hat M. Somwah seine Maschine wieder in Stand setzen können und kommt er nun auf uns zu!«
Freudenrufe, die mehr an Wahnsinn grenzen, begrüßen diese Erklärung. Jetzt erscheint aller Rettung gesichert. Es ist, als ob mit diesem Stück Steuerbordhafen ein lebenswichtiger Theil Standard-Islands zurückkehrte.
Es ist in der That so gewesen, wie der Commodore Simcoë vermuthete. Nach seiner Loslösung war der Steuerbordhafen von einer Gegenströmung nach[399] Nordosten zurückgetragen worden. Mit Tagesanbruch hatte sich der Hafencommandant Somwah, nach Ausbesserung einiger leichten Beschädigungen seiner Maschine, bemüht, wieder nach dem Schauplatze des Schiffbruchs zu steuern, wobei er auch noch mehrere hundert Ueberlebende mitbrachte.
Drei Stunden später befindet sich der Steuerbordhafen kaum noch eine Kabellänge von der Trümmerflottille. Freudengeschrei und begeisterte Rufe schallen ihm entgegen. Walter Tankerdon und Miß Dy Coverley, die vor der Katastrophe Zuflucht darauf gefunden hatten, stehen Arm in Arm bei einander...[400]
Das Wiedererscheinen des Steuerbordhafens mit seinen Vorräthen an Lebensmitteln und Trinkwasser eröffnet nun eine wirkliche Aussicht auf Rettung. Seine Lagerhäuser enthalten hinreichende Mengen von Brennmaterial, um die Treibmaschinen, die Dynamos in Thätigkeit zu erhalten und die Propeller eine Zeit lang in Bewegung zu setzen. Die fünf Millionen Pferdekraft, worüber er verfügt, müssen ihn in den Stand setzen, das nächst gelegne Land zu erreichen.
Dieses Land ist nach der Beobachtung eines Hafenofficiers Neuseeland.[401]
Eine Schwierigkeit entsteht nur bezüglich der Unterbringung von mehreren tausend Personen auf dem Bruchstück mit dem Steuerbordhafen, das eine Oberfläche von nur sechs- bis siebentausend Quadratmetern hat. Sollte man sich gezwungen sehen, es erst fünfzig Meilen weit vorauszuschicken, um weitre Hilfe zu holen?
Nein, die Fahrt würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen, und hier sind die Stunden gezählt. Es ist wirklich kein Tag zu verlieren, wenn die Schiffbrüchigen nicht den Schrecken des Hungers preisgegeben werden sollen.
»Wir können uns besser helfen, sagt der König von Malecarlieu. Die Theilstücke vom Steuerbordhafen, von der Rammsporn- und der Achterbatterie können bequem alle Ueberlebenden von Standard-Island aufnehmen. Verbinden wir die drei Bruchstücke durch starke Ketten und reihen sie hintereinander auf, wie Flußkähne hinter einem Schlepper, dann mag der Steuerbordhafen vorausfahren und uns mittelst seiner fünf Millionen Pferdekräfte nach Neuseeland befördern!«
Dieser Rath ist vortrefflich, praktisch durchführbar und hat die beste Aussicht, zum Ziele zu führen, da der Steuerbordhafen über eine so gewaltige Triebkraft verfügt. Schon kehrte das Vertrauen in die Herzen der Bevölkerung zurück, als läge man bereits vor einem Hafen.
Der Rest des Tages wird nun zur Anbringung der schweren Ketten verwendet, die sich in den Magazinen des Steuerbordhafens vorfanden. Der Commodore Simcoë meint, daß der Schleppzug unter den gegebnen Umständen in vierundzwanzig Stunden etwa acht bis zehn Meilen vorwärts kommen könne. In fünf Tagen würde er, unter Mithilfe der Meeresströmung, also die fünfzig Meilen bis Neuseeland zurücklegen können. Jetzt ist man auch sicher, daß der Proviantvorrath so lange ausreichen wird. Aus Vorsicht und um durch eine etwaige Verspätung nicht in Gefahr zu kommen, wird die beschränkte Lieferung der Nahrungsmittel aber in voller Strenge aufrecht erhalten.
Nach Vollendung der Vorbereitungen setzt sich der Steuerbordhafen am Abend gegen sieben Uhr an die Spitze des Schleppzuges. Unter dem Antrieb seiner Schrauben kommen die beiden andern Bruchstücke hinter ihm auf dem glatten Meere langsam in Bewegung.
Bei Anbruch des nächsten Tages haben die Wachposten auch die letzten kleinen Trümmer von Standard-Island aus dem Auge verloren.
Die Tage vom 4. bis zum 8. April verlaufen ohne Zwischenfall. Das Wetter bleibt günstig, die Dünung ist kaum noch fühlbar, und die Fahrt geht unter den besten Bedingungen vor sich.[402]
Am 9. April gegen acht Uhr morgens wird vom Backbord Land in Sicht gemeldet, ein hohes Land, das schon aus großer Entfernung zu sehen ist.
Nach der Ortsbestimmung, die mittelst der im Steuerbordhafen erhalten gebliebnen Instrumente ausgeführt wurde, unterliegt es keinem Zweifel, welches Land man vor sich hat.
Es ist das Vorgebirge von Ika-Na-Mawi, der großen Nordinsel von Neuseeland.
Noch verstreichen ein Tag und eine Nacht, am Morgen des 10. April aber läuft der Steuerbordhafen eine Kabellänge vom Ufer der Ravarakibucht auf dem Grunde auf.
Wie glücklich, wie sicher fühlte sich da die ganze Einwohnerschaft, den Fuß wieder auf wirkliche Erde und nicht mehr auf den künstlichen Boden Standard-Islands setzen zu können! Und dennoch: wie lange hätte dieses solide, schwimmende Bauwerk bestehen können, wenn ihm nicht menschliche Leidenschaften, die sich mächtiger als die Winde und das Meer erwiesen, ein vorzeitiges Ende bereiteten!
Die Schiffbrüchigen werden von den Neuseeländern sehr gastlich aufgenommen und eiligst mit allem Nothwendigen versorgt.
Nach der Ankunft in Auckland, der Hauptstadt von Ika-Na-Mawi, erfolgt endlich die Trauung Walter Tankerdon's und der Miß Dy Coverley mit allem unter den gegebnen Verhältnissen möglichen Prunke. Wir bemerken hier, daß sich das Concert-Ouartett bei dieser Feierlichkeit, zu der alle Milliardeser herbeiströmen, zum letztenmale hören läßt. Das muß eine glückliche Ehe werden, nur schade, daß sie im Interesse der Allgemeinheit nicht schon früher geschlossen wurde! Freilich besitzen die Neuvermählten jedes nur noch eine lumpige Million Renten...
»Na, bemerkt Pinchinat, sie werden sich ja wohl auch unter so beschränkten Vermögensverhältnissen glücklich fühlen!«
Die Tankerdon's, die Coverley's und andre Notabeln wollen schleunigst nach Amerika zurückkehren, wo sie sich um den Gouvernementsposten einer Propeller-Insel nicht mehr zu streiten brauchen.
Denselben Entschluß fassen der Commodore Simcoë, der Colonel Stewart und deren Officiere, das Personal des Observatoriums und selbst der Oberintendant Calistus Munbar, der übrigens, was ihn betrifft, auf den Gedanken, eine neue künstliche Insel herzustellen, nicht verzichtet.[403]
Der König und die Königin von Malecarlien machen kein Hehl daraus, daß sie es bedauern, nicht, wie sie gehofft hatten, ihre Tage auf Standard-Island in Frieden beschließen zu können. Hoffen wir, daß die Ex-Souveräne ein Fleckchen Erde finden werden, wo ihr Lebensabend ohne politische Streitigkeiten verläuft.
Und das Concert-Quartett?
Nun, das Concert-Quartet hat, was Sebastian Zorn auch sagen möge, kein übles Geschäft gemacht, und wenn die Künstler Calistus Munbar zürnen wollten, von ihm gegen ihren Willen hierher gebracht worden zu sein, so wäre das die reine Undankbarkeit.
Seit dem 25. Mai des vergangnen bis zum 10. April des jetzigen Jahres sind nicht ganz elf Monate verstrichen, während unsre Künstler das sorgenloseste, herrlichste Leben geführt haben. Das Honorar für die vier Vierteljahre ihres Engagements haben sie in der Tasche; drei Viertel davon liegen sicher in der Bank von San Francisco und der von New-York, die das Geld gegen Quittung jederzeit herausgeben werden...
Nach der Hochzeitsfeier in Auckland nehmen Sebastian Zorn, Yvernes, Frascolin und Pinchinat von ihren Freunden – Athanase Dorémus nicht zu vergessen – Abschied und schiffen sich bald darauf auf einem nach San Diego bestimmten Dampfer ein.
Am 3. Mai in der Hauptstadt Nieder-Californiens angelangt, ist es ihre erste Sorge, sich durch eine Mittheilung an die dortigen Journale zu entschuldigen, daß sie ihre Zusage elf Monate vorher nicht eingehalten haben, und ihr lebhaftes Bedauern auszudrücken, daß sie so lange hätten auf sich warten lassen.
»Meine Herren, wir hätten noch zwanzig Jahre auf Sie gewartet!«
So lautet die Antwort, die ihnen von dem liebenswürdigen Director der musikalischen Soiréen in San Diego zu Theil wird.
Kann einer wohl nachsichtiger und entgegenkommender sein? Die einzige Art und Weise dankender Anerkennung für solche Höflichkeit ist die, das so lange angekündigte Concert nun wirklich zu geben.
Von einem ebenso zahlreichen, wie begeisterten Publicum ernten die dem Schiffbruche Standard-Islands entronnenen Künstler für den meisterhaften Vortrag des Quartetts in F-dur, Op. 9, von Mozart, einen der größten Erfolge ihrer bisherigen Laufbahn.
So endet die Geschichte jenes neunten Wunders der Welt, des unvergleichlichen Juwels des Stillen Oceans. Ende gut, alles gut, pflegt man ja zu[404] sagen, doch sollte es bezüglich Standard-Islands nicht richtiger: »Ende schlecht, alles schlecht!« lauten?
Das wäre dessen Ende?... O nein, über kurz oder lang wird ein neues Standard-Island erstehen... Das behauptet wenigstens Calistus Munbar.
Und doch – wir können es nicht oft genug wiederholen – heißt es nicht die dem Menschengeiste gezognen Grenzen überschreiten, wenn man eine künstliche Insel erschafft, eine Insel, die sich auf den Meeren nach Belieben fortbewegt? Ist es dem Menschen, der Wind und Wellen nicht in seiner Macht hat, nicht verboten, sich so kühn über den Schöpfer der Welt erheben zu wollen?
Ende.
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