Drittes Kapitel.
Die Familie Nicolef.

[32] Am folgenden Tage – am 12. April – plauderten drei Personen, die noch eine vierte erwarteten, zwischen sieben und acht Uhr abends im Speisezimmer eines Häuschens einer Vorstadt Rigas, die von dessen russischen Einwohnern besonders bevorzugt wird. Es war ein bescheidenes Haus am Ende des Stadtteils, doch aus Backsteinen errichtet, was in dieser Vorstadt nur selten der Fall ist, wo es im allgemeinen nur Holzbauten gibt. Der in einer Mauernische des Zimmers und seit dem frühen Morgen geheizte Ofen verbreitete eine angenehme Wärme von 15 bis 16 Zentigraden, während der Thermometer draußen 5 bis 6 Grad über Null zeigte.

Eine kleine, mit Schirm versehene Petroleumlampe warf nur ein mäßiges Licht auf den Tisch in der Mitte des Raumes. Auf einem Nebentischchen mit Marmorplatte brodelte der beliebte Samowar. Vier Tassen deuteten darauf hin, daß hier vier Personen Tee trinken wollten. Die vierte war aber noch nicht erschienen, obgleich man schon gegen vierzig Minuten auf sie wartete.

»Dimitri fehlt noch,« bemerkte einer der Anwesenden und begab sich nach dem Doppelfenster, das sich nach der Straße zu öffnete.

Dieser, ein Mann von einigen fünfzig Jahren, war der russische Arzt Hamine, ein treuer Freund des Hauses. Seit den vierundzwanzig Jahren, wo er in Riga praktizierte, war er sehr gesucht wegen seiner Kenntnisse, sehr geschätzt wegen seines einnehmenden Wesens, freilich auch stark beneidet von Kollegen, und man weiß ja, bis zu welcher Gehässigkeit sich – in Rußland wie anderwärts – der Neid von Berufsgenossen erniedrigen kann.

»Ja... es wird bald acht schlagen, antwortete ein anderer mit einem Blick auf die zwischen zwei Fenstern hängende Gewichtsuhr. Nicolef hat aber eine 'Gnaden-Viertelstunde', wie wir in Frankreich zu sagen pflegen, und es ist la bekannt, daß eine solche Viertelstunde allemal mehr als fünfzehn Minuten hat.«

Der, der diese Bemerkung gemacht hatte, war ein Herr Delaporte, der französische Konsul in Riga. Etwa vierzig Jahre alt, seit zehn Jahren in dieserStadt wohnhaft, hatte er sich durch sein tadelloses Auftreten und sein dienstwilliges Wesen die allgemeine Achtung erworben.

»Mein Vater hat am anderen Ende der Stadt eine Stunde zu geben gehabt, ließ sich da eine dritte Person vernehmen. Der Weg ist lang und bei dem abscheulichen Wetter mit Regenfall und Schneewehen gewiß auch beschwerlich.


 »Väterchen, jetzt ist's Zeit davonzulaufen!« (S. 28.)
»Väterchen, jetzt ist's Zeit davonzulaufen!« (S. 28.)

Er wird wohl vor Kälte halb erstarrt heimkommen.

– O, rief der Doktor Hamine, der Ofen schnaubt und prasselt ja wie ein Beamter bei der Audienz!... Hier im Zimmer ist's hübsch warm... der Samowar macht's dem Ofen nach... Nur ein paar Tassen Tee, und Dimitri wird sein vollgeschüttelt Maß innerer und äußerer Wärme wieder haben!... Keine Angst, liebe Ilka! Und sollte dein Vater einen Arzt nötig haben, so ist der ja nicht weit entfernt und obendrein einer seiner besten Freunde.

– Das wissen wir, lieber Herr Doktor!« antwortete das junge Mädchen lächelnd.

Ilka Nicolef zählte vierundzwanzig Jahre. Das Musterbild einer Slawin, unterschied sie sich wesentlich von den anderen Mädchen Rigas, die germanischer Abkunft waren, einen gar zu rosigen Teint, zu blaue Augen mit fast ausdruckslosem Blick und überhaupt etwas phlegmatisches Wesen hatten. Die braunhaarige Ilka dagegen zeigte einen warmen, doch nicht zu tief gefärbten Teint, eine große Gestalt, edle Gesichtszüge mit etwas strengem Ausdruck, der jedoch durch einen sanften Blick gemildert wurde, solange sie nicht gerade einem traurigen Gedanken nachhing. Ernst und überlegend, wenig kokett in ihrem Anzug, sondern stets geschmackvoll einfach gekleidet, erschien sie als vollendeter Typus der jungen Livländerin von russischer Herkunft.

Ilka war nicht das einzige Kind des schon seit zehn Jahren verwitweten Nicoles. Ihr Bruder Jean, der eben ins achtzehnte Jahr eintrat, hielt sich Studien halber an der Universität in Dorpat auf. Sie hatte an ihm in seiner Kindheit Mutterstelle vertreten, und bei welchem weiblichen Wesen hätte er, nach dem Ableben derjenigen, die nicht mehr war, mehr Ergebenheit, mehr Güte und mehr Opferfreudigkeit finden können!... Dank ihrer weisen Sparsamkeit hatte der junge Student den etwas teuern Unterricht fern vom Vaterhause genießen können.

Dimitri Nicolefs Einnahmen bestanden nämlich ausschließlich aus dem Ertrag der Unterrichtsstunden, die er in der eigenen Wohnung oder in der Stadt erteilte. Ein kenntnisreicher und sehr geschätzter Privatlehrer der Mathematik[35] und der Physik, war er leider ohne Vermögen. Dieser Beruf liefert ja keine goldene Ernte... in Rußland ebensowenig wie anderwärts. Hätte Dimitri Nicolef Reichtümer durch die allgemeine Hochschätzung, die er genoß, erwerben können, so wäre er freilich Millionär, und zwar einer der reichsten in Riga gewesen, wo seine Ehrbarkeit ihm unter seinen Mitbürgern – natürlich unter denen slawischer Rasse – die erste Rangstellung sicherte. Hierüber jeden Zweifel zu beseitigen, wird es genügen, dem Gespräch zwischen dem Doktor Hamine und dem Konsul zu lauschen, als diese die Heimkehr des Lehrers erwarteten. Das Gespräch wurde in russischer Sprache geführt, die Delaporte ebenso vollkommen beherrschte, wie die meisten gebildeten Russen die französische.

»Nun, Doktor, sagte der Konsul, Sie stehen jetzt hier am Anfange einer Bewegung, die die politischen Verhältnisse Esthlands, Livlands und Kurlands wesentlich umgestalten wird. Die esthländischen Zeitungen weisen mit allem Zauber ihrer arischen Mundart deutlich genug darauf hin.

– Diese Entwicklung der Dinge wird nur schrittweise vor sich gehen, erwiderte der Arzt, es wird aber keineswegs zu zeitig sein, wenn die Verwaltung und das Stadtregiment den deutschen Körperschaften entwunden sein werden. Ist's denn kein unbegreiflicher Zustand, daß noch immer die Deutschen die politische Führung unserer Provinzen in der Hand haben?

– Ja... leider; doch wenn das auch nicht mehr der Fall ist, bemerkte Ilka, bleiben sie wahrscheinlich allmächtig durch die Macht des Geldes, da sie fast allein den Grund und Boden besitzen und wichtige Stellungen innehaben.

– Die Stellen, meinte Delaporte, könnte man ihnen ja nehmen; bezüglich des Grundbesitzes dürfte das schwieriger, wenn nicht unmöglich sein. In Livland allein sind die Deutschen die Eigentümer des größten Teiles alles Ackerlandes... mindestens einer Bodenfläche von viermalhunderttausend Hektaren.«

Das ist tatsächlich richtig. In den baltischen Provinzen sind die Edelleute, die Vornehmen so gut wie die Kleinbürger und die Kaufleute, fast ohne Ausnahme teutonischen Stammes. Doch obwohl die übrige Bevölkerung die Religion dieser ursprünglich katholischen und später protestantischen Deutschen angenommen hat, kann von deren Germanisierung eigentlich nicht die Rede sein. Die Esthen, das Brudervolk der Finnen, und die fast alle als Ackerbauer lebenden Letten verbergen in keiner Weise ihren Rassenhaß gegen die, die ihre Herren sind, und in Reval, Dorpat und St. Petersburg treten viele Zeitungen warm für ihre Rechte ein.[36]

»Bei einem Kampfe zwischen den Russen slawischen und denen deutschen Ursprungs, fuhr der Konsul fort, weiß ich freilich nicht recht, wer zuletzt siegen wird.

– Überlassen wir das dem Kaiser, antwortete Doktor Hamine, der ist ein Vollblutslawe und wird das fremde Element in unseren Provinzen schon zurückzudrängen wissen.

– O, möchte ihm das gelingen! fiel das junge Mädchen mit ernster Stimme ein. Seit sieben Jahrhunderten, seit der Eroberung, haben unsere Bauern, unsere Arbeit dem Einfluß der Sieger Widerstand geleistet, und diese sind eigentlich außerhalb des Landes geblieben!

– Und dein Vater, liebe Ilka, hat jedenfalls tapfer für unsere Sache gekämpft; er steht mit vollem Rechte an der Spitze der slawischen Partei...

– Hat sich deshalb aber auch recht schlimme Feinde erworben! meinte Delaporte.

– Ja freilich, antwortete der Arzt, unter anderen die Brüder Johausen, die reichen Bankiers, die vor Wut bersten werden, sobald Dimitri Nicolef ihnen die Leitung des Rigaer Gemeinwesens abgerungen hat. Übrigens zählt unsere Stadt nur vierundvierzigtausend Deutsche gegen sechsundzwanzigtausend Russen und vierundzwanzigtausend Letten. Die Slawen sind also in der Mehrheit und sie werden für Nicolef eintreten.

– Einen solchen Ehrgeiz hegt mein Vater nicht, bemerkte Ilka hierzu. Falls die Slawen ihn mit sich fortreißen, wenn sie die Herren in ihrem Lande wären...

– Das werden sie schon nach den nächsten Wahlen sein, Fräulein Ilka, versicherte Delaporte, und wenn Dimitri Nicolef zustimmt, als Kandidat aufgestellt zu werden...

– Ach nein, das wäre eine zu schwere Last für meinen Vater, der sich in so bescheidener Lage befindet, erwiderte darauf das junge Mädchen. Außerdem wissen Sie ja, lieber Herr Doktor, daß Riga trotz jenes Zahlenverhältnisses weit mehr eine deutsche als eine russische Stadt ist.

– Lassen wir der Dwina ihren Lauf! rief der Arzt. Die alten Gewohnheiten werden mit der Strömung hinuntergleiten und neue Ideen diesen entgegen herauskommen... dann aber, dann wird auch mein wackerer Dimitri davon mit fortgetragen werden.

– Ich danke Ihnen, lieber Herr Doktor, und auch Ihnen, Herr Delaporte, für die wohlwollende Gesinnung gegen meinen guten Vater, doch heißt[37] es hierin vorsichtig zu sein... Haben Sie nicht selbst bemerkt, daß er immer trauriger wird? Das beunruhigt mich nicht wenig!«

Nicolefs Freunde hatten in der Tat dasselbe beobachtet. Seit einiger Zeit schien der brave Mann von trüben Ahnungen erfüllt zu sein. Bei seiner Verschlossenheit sprach er sich darüber jedoch gegen niemand, gegen seine Kinder ebensowenig aus, wie gegen den alten, treuen Hamine. Er stürzte sich nur noch mehr in die Arbeit, in die eifrigste Arbeit, wohl in der Hoffnung, durch diese alles andere vergessen zu können. Und doch sah die slawische Bevölkerung Rigas in ihm ihren Vertreter, der aus den bevorstehenden Wahlen hervorgehen sollte.

Wir sprechen hier vom Jahre 1876. Der Gedanke, die baltischen Provinzen zu russifizieren, war bereits ein Jahrhundert alt. Katharina II. strebte schon eine durchgreifende nationale Reform an. Die Regierung traf ihre Maßregeln, die deutschen Körperschaften von der Leitung der Dörfer und Städte zu verdrängen. Die Wahl des Landesrates wurde der Gesamtheit der Bürger überlassen, die sich einer gewissen Bildung erfreuten und ein bestimmtes Vermögen oder Einkommen versteuerten. In den baltischen oder Ostsee-Provinzen, die jener Zeit neunzehnhundertachtzigtausend Einwohner zählten – in runden Zahlen: dreihundertsechsundzwanzigtausend in Esthland, eine Million in Livland und sechshundertsechzigtausend in Kurland – war das germanische Element nur durch vierzehntausend Edelleute, siebentausend Kaufleute und Großbürger, nebst fünfundneunzigtausend Kleinbürgern, der Rest waren Juden, im ganzen also durch hundertfünfundfünfzigtausend Seelen vertreten. Es konnte demnach unter Mitwirkung des Gouverneurs und der oberen Verwaltungsbeamten nicht schwierig »sein, eine slawische Mehrheit aufzubringen. Der Kampf galt diesmal der jetzigen städtischen Obrigkeit, deren einflußreichste Mitglieder jene Bankiers Johausen waren, die im Verlaufe unserer Erzählung eine hervorragende Rolle zu spielen berufen sind. –

Hier sei auch noch erwähnt, daß der Lehrer in dem Viertel, oder richtiger: der Vorstadt Rigas, worin die bescheidene Wohnstätte der Familie Nicolefs lag und die schon der Vater des Hausherrn innegehabt hatte, sich der größten Hochachtung erfreute. Freilich siedelten in dieser Vorstadt nicht weniger als achttausend Moskowiter.

Wir wissen schon, wie bescheiden – noch bescheidener als man im allgemeinen annahm – die Vermögenslage Dimitri Nicolefs war. Waren wohl diese Umstände daran schuld, daß Ilka noch nicht verheiratet war, obgleich sie das Alter von vierundzwanzig Jahren erreicht hatte? Ist es in Livland wie[38] anderwärts, wenn man als Vermögen nur seine Schönheit aufweisen kann... wie in den Ländern Westeuropas, wenn die Mitgift eines jungen Mädchens nur aus ihrer Tugendhaftigkeit besteht, selbst dann, wenn diese ihrer Schönheit gleichkommt?... Nein; und vielleicht gerade in den slawischen Gesellschaftskreisen der Provinz ist das Geld keineswegs der hervorragendste Ehestifter.

Es wird dann also nicht wundernehmen, daß sich schon mehrere um Ilkas Hand beworben hatten, weit eher dagegen, daß Dimitri und seine Tochter verschiedene Verbindungen ausgeschlagen hatten, die in jeder Hinsicht ganz passend erschienen.

Das hatte jedoch seinen guten Grund: Seit mehreren Jahren war Ilka mit dem einzigen Sohne Michel Yanofs, eines Slawen und Freundes Dimitri Nicolefs, heimlich verlobt. Beide wohnten in derselben Vorstadt Rigas. Wladimir Yanof, jetzt ein Mann von zweiunddreißig Jahren, war ein talentvoller Rechtsanwalt. Trotz des Altersunterschiedes waren die beiden Kinder sozusagen zusammen aufgewachsen. 1872, vier Jahre vor dem Anfange dieser Erzählung, wo der junge Rechtsanwalt achtundzwanzig und das junge Mädchen zwanzig Jahre zählte, hatte man sich über die Verheiratung Ilkas mit Wladimir Yanof geeinigt und beschlossen, daß die Hochzeit noch im laufenden Jahre stattfinden sollte.

Beide Familien hatten darüber aber Schweigen bewahrt, so strenges Schweigen, daß auch die nächsten Freunde vorläufig nichts davon erfuhren. Als man später eben bereit war, ihnen die nötigen Mitteilungen zu machen, da... wurden alle schönen Pläne aufs schrecklichste vereitelt.

Wladimir Yanof gehörte nämlich einer jener geheimen Gesellschaften an, die sich in Rußland gegen die Selbstherrschaft des Zaren auflehnen. Dagegen stand er den Nihilisten völlig fern, die seit jener Zeit die moralische Propaganda durch die Propaganda der Tat ersetzt haben. Die verblendete moskowitische Regierung erkannte darin freilich keinen Unterschied. Sie geht, ohne auf gesetzliche Vorschriften Rücksicht zu nehmen, auf administrativem Wege vor, angeblich gezwungen, »zu verhindern, daß etwas unternommen werde«, wie die klassische Redeweise lautet. In vielen Städten des Reiches wurden Verhaftungen vorgenommen. Das war auch in Riga der Fall, und Wladimir Yanof, den man gewaltsam aus seiner Wohnung wegschleppte, wurde nach den Minen von Minnsinsk in Ostsibirien verschickt. Ob er von da wohl jemals wiederkehrte?... Wer hätte das zu hoffen gewagt?...[39]

Ein entsetzlicher Schlag für die beiden Familien, den das ganze slawische Riga mit ihnen empfand. Ilka wäre daran zugrunde gegangen ohne die Willensstärke, die sie aus ihrer Liebe schöpfte, da sie sofort entschlossen war, ihren Verlobten aufzusuchen, sobald ihr das erlaubt würde, und mit ihm das grauenvolle Leben der Verbannten in jenen weltfernen Gebieten zu teilen.


 »Dimitri fehlt noch.« (S. 32.)
»Dimitri fehlt noch.« (S. 32.)

Leider konnte sie weder erfahren, was aus Wladimir geworden war, noch wohin man ihn gebracht hatte, und jetzt war sie schon seit vier Jahren ohne jede Nachricht von ihm.


Wladimir Yanof wurde gewaltsam aus seiner Wohnung geschleppt. (S. 39.)
Wladimir Yanof wurde gewaltsam aus seiner Wohnung geschleppt. (S. 39.)

Sechs Monate nach der Verhaftung seines Sohnes fühlte Michel Yanof sein Ende herannahen. Da wollte er noch seinen ganzen Besitz flüssig machen, im ganzen wenig, etwa zwanzigtausend Papierrubel (gegen[40] 43.000 Mark), und den Erlös übergab er Dimitri Nicolef, ihn für seinen Sohn in Verwahrung zu behalten.

Dimitri war dazu erbötig, ließ davon aber keine Silbe verlauten, so daß selbst Ilka niemals etwas davon erfuhr. Er verwahrte die Summe so, wie sie ihm eingehändigt worden war.[41]

Sollte die Treue aus dieser Welt jemals verbannt zu werden bestimmt sein, in Livland würde sie noch eine Zufluchtsstätte finden. Dort finden sich noch merkwürdige Paare, die einander nach zwanzig- bis fünfundzwanzigjährigem Brautstande heiraten. Wenn sie bis zu ihrer Vereinigung so lange warten, verschuldet das meist ihre noch ungenügend gesicherte Lage, und ohne Beseitigung dieses Hindernisses ist hier eine Eheschließung unmöglich.

Bei Wladimir und Ilka lag ja ein derartiges Hindernis nicht vor; die Vermögensfrage war zwischen beiden überhaupt nie erörtert worden. Das junge Mädchen besaß nichts und der junge Rechtsanwalt erwartete nichts, war ihm doch selbst die Hinterlassenschaft seines Vaters unbekannt. An Talent und Intelligenz fehlte es ihm dagegen nicht, und der Zukunft sah er, soweit das seine Gattin, ihn selbst und auch eine etwaige spätere Familie anging, ohne Sorge entgegen.

Wenn Wladimir auch in der Verbannung schmachtete, wußte Ilka doch, daß er sie ebensowenig vergessen würde, wie sie ihn. Dieses Land ist ja bekanntlich das der »verschwisterten Seelen«. Gar häufig gelingt es solchen freilich nicht, sich auf Erden noch inniger zu verbinden, wenn der Himmel nicht mit ihrer Liebe Erbarmen hat, und ohne sich voneinander losreißen zu können, schließen sie in der Ewigkeit den Bund, den zu schließen ihnen auf Erden versagt war.

Ilka wartete... ihr Herz war weit draußen bei dem Verbannten... sie hoffte, daß eine – ach, so unwahrscheinliche – Begnadigung diesen ihr wieder in die Arme führen würde. Sie erwartete, daß ihr wenigstens die Erlaubnis erteilt würde, sich zu ihm zu begeben, denn sie betrachtete sich nicht allein als seine Braut, sondern auch als seine Gefährtin für dieses Leben. Und doch, was sollte, wenn sie fortging, aus ihrem Vater hier in dem Hause werden, dessen Besorgung bisher ihr oblag und worin, dank ihrer Ordnungsliebe und Sparsamkeit, noch immer eine gewisse Behäbigkeit herrschte?

Dennoch kannte sie noch gar nicht den ganzen Ernst der Verhältnisse. Dimitri Nicolef hatte sich niemals darüber ausgesprochen, obgleich er nichts für ihn Ehrenrühriges zu gestehen gehabt hätte. Warum sollte er aber die Beunruhigungen der Gegenwart noch mit denen der Zukunft vermehren? Sie würde ja alles noch zeitig genug erfahren, und die Stunde dazu rückte immer näher heran.

Der Vater Dimitri Nicolefs, ein Kaufmann in Riga, hatte bei seinem Tode sein Geschäft in sehr traurigem Zustande zurückgelassen. Dessen Liquidation[42] ergab eine Schuldenlast von fünfundzwanzigtausend Rubeln. Um den Namen seines Vaters nicht durch den Makel einer Konkurserklärung beflecken zu lassen, entschloß sich Dimitri, diese Schulden zu bezahlen. Dadurch, daß er alles zu Gelde machte, was er besaß, gelang es ihm, einige tausend Rubel aufzubringen. Für den Rest gewährte man ihm Stundung, und jedes Jahr gelang es ihm, durch seine Tätigkeit einen Teil der Forderungen des Gläubigers zu berichtigen. Dieser Gläubiger war das Haus der Gebrüder Johausen. Gegenwärtig schuldete der für seinen Vater eingetretene Dimitri Nicolef noch die für ihn ungeheure Summe von achtzehntausend Rubeln. Erschwert, ja bis zur Trostlosigkeit erschreckend, wurde die Sachlage noch dadurch, daß die Verfallzeit für den Schuldbetrag in kaum sechs Wochen, am nächsten 15. Mai, herankam.

Daß die Gebrüder Johausen ihm eine weitere Frist gewähren, auf eine nochmalige Prolongation seiner Verbindlichkeiten eingehen würden, konnte Dimitri Nicolef keinesfalls erwarten. Er stand hier nicht nur dem Bankier, dem Geschäftsmanne gegenüber, sondern auch dem politischen Gegner, der in ihm den Rivalen in der antigermanischen Bewegung sah, die vor ihrem Ausbruche stand. Frank Johausen, das Haupt der Firma, hatte ihn durch diese Forderung, diese Schuld – wenn es auch die letzte war – völlig in der Hand, und er würde gewiß unerbittlich sein.

Das Gespräch zwischen dem Arzte, dem Konsul und Ilka dauerte noch eine halbe Stunde fort, und das junge Mädchen zeigte sich höchst besorgt wegen des Ausbleibens ihres Vaters, als dieser endlich an der Zimmertür auftauchte.

Obgleich Dimitri Nicolef erst siebenundvierzig Jahre zählte, sah er doch um zehn Jahre älter aus. Seiner äußeren Erscheinung nach von übermittlerer Größe, hatte er einen schon ergrauenden Bart, ein etwas strenges Gesicht, eine von Runzeln durchschnittene Stirn – von Furchen, worin nur trübe Gedanken und quälende Sorgen aufkeimen zu können schienen – im übrigen aber erschien er recht gesund und kräftig. Von der Jugend her hatte er sich einen bezwingenden Blick und eine klangvolle, eindringliche Stimme bewahrt... jene Stimme, die, nach Jean Jacques Ausdruck, einen Widerhall im Herzen findet.

Dimitri Nicolef entledigte sich seines vom Regen triefenden Mantels, legte den Hut auf einen Stuhl und ging dann zu seiner Tochter, die er auf die Stirn küßte; erst hierauf drückte er den beiden Freunden die Hand.

»Du kommst ja recht spät, Vater, sagte Ilka.[43]

– Ich wurde aufgehalten, antwortete Dimitri. Eine Unterrichtsstunde, die sich unerwarteterweise ausdehnte...

– Nun, so laß uns jetzt den Tee genießen, setzte das junge Mädchen hinzu.

– Wenigstens wenn du nicht allzu ermüdet bist, bemerkte Doktor Hamine. Du sollst dich auf keinen Fall genieren... ich bin nicht zufrieden mit deinem Aussehen... du bedarfst der Ruhe...

– Ja, doch das hat nichts zu bedeuten, antwortete Nicoles. Die Nacht wird mich wieder herstellen. Jetzt wollen wir Tee trinken, liebe Freunde, ich hab' euch ja schon zu lange warten lassen, und wenn ihr's erlaubt, leg' ich mich frühzeitig nieder.

– Was fehlt dir denn, Vater? fragte Ilka, die Dimitri ängstlich in die Augen sah.

– Nichts, liebes Kind, nichts, sag' ich dir. Wenn du dich noch mehr beunruhigst, wird Hamine zu guter Letzt an mir noch eine gar nicht vorhandene Krankheit entdecken, und wär' es nur, um ihm die Befriedigung zu gewähren, mich zu kurieren!

– Es gibt auch solche, von denen man nicht wieder gesundet, antwortete der Arzt kopfschüttelnd.

– Sie haben nichts Neues gehört, Herr Nicolef? fragte der Konsul.

– Nichts... außer daß der General Gorko, der in Petersburg war, nach Riga zurückgekehrt ist.

– Schön, rief der Doktor, ich bezweifle sehr, daß diese Rückkehr den Johausens besonders angenehm sein wird, denn die sieht man da unten doch mit scheelen Augen an.«

Auf Dimitri Nicolefs Stirn zeigten sich schwere Falten. Der Name erinnerte ihn an den bevorstehenden Zahlungstermin, der ihn jedenfalls ganz der Gnade des deutschen Bankiers überlieferte.

Da der Tee fertig war, füllte Ilka die Tassen. Es war eine sehr gute Sorte, obwohl sie nicht, wie der Tee der reichen Leute, das Pfund bis 130 Mark kostete. Glücklicherweise gibt es solchen zu jedem Preise, denn er ist hier Volksgetränk, das bevorzugteste moskowitische Getränk, das auch von den ärmsten Leuten genossen wird.

Zum Tee gab es schmackhafte Butterbrötchen, die die junge Haushälterin selbst hergerichtet hatte, und dabei dauerte die Unterhaltung der drei Freunde noch eine halbe Stunde an.[44]

Sie berührte die jetzt in Riga herrschende Stimmung, die sich übrigens von der in den anderen großen Städten der baltischen Provinzen nicht unterschied. Allgemein erregte der Kampf zwischen dem germanischen und dem slawischen Teil der Bevölkerung die Gemüter aufs tiefste, und es ließ sich voraussehen, daß der Kampf heiß werden würde, vor allem in Riga, wo die beiden Rassen besonders hart aneinander stießen.

In Gedanken versanken, beteiligte sich Dimitri nur wenig an dem Gespräch, obgleich dasselbe gerade seine Person öfter berührte. Seine Gedanken weilten »anderswo«, wie man zu sagen pflegt... Wo? Das hätte nur er selbst sagen können. Wenn er sich aber einer Antwort nicht entziehen konnte, so gab er diese in unbestimmter, ausweichender Weise, die den Arzt gar nicht befriedigte.

»Ich bitte dich, Dimitri, sagte dieser wiederholt, du machst den Eindruck, als säßest du tief drinnen in Kurland, während wir doch in Riga sind!... Solltest du etwa gar die Absicht haben, dich von dem Kampfe fern zu halten? Die Meinung der Menge ist doch auf deiner Seite, die höchste Behörde tritt für dich ein. Willst du den Johausens wirklich noch einmal zum Siege verhelfen?«

Wieder dieser Name, der auf den unglücklichen Schuldner des reichen Bankhauses wie ein Faustschlag wirkte.

»Sie sind mächtiger, als du es glaubst, Hamine, antwortete Dimitri.

– Doch weniger, als sie sich selbst den Anschein geben, das wird sich bald zeigen!« erwiderte der Doktor.

An der Uhr schlug es halb neun. Es war Zeit, sich zurückzuziehen. Der Arzt und Herr Delaporte erhoben sich, um ihren Wirten Gute Nacht zu sagen. Draußen tobte ein abscheuliches Wetter: der Regen peitschte gegen die Fenster, der Wind pfiff kreischend um die Straßenecken, fing sich in den Schornsteinen und trieb zuweilen den Rauch der Ofen nach unten zurück.

»Das ist ja abscheulich da draußen! sagte der Konsul.

– Ja, wahrlich kein Wetter, einen Arzt auf die Straße hinauszujagen! erklärte der Doktor. Doch kommen Sie nur mit, Delaporte; ich biete Ihnen einen Platz in meinem Wagen an... einen Wagen mit zwei Beinen, doch ohne Räder.«

Der Doktor umarmte Ilka, wie er das von jeher zu tun pflegte. Delaporte und er drückten dann noch Dimitri die Hand, der sie bis zur Haustür begleitete. Dann verschwanden beide in der Dunkelheit und dem rasenden Sturme.[45]

Ilka gab ihrem Vater noch den Gute Nachtkuß, und Dimitri preßte sie, heute vielleicht noch etwas zärtlicher als sonst, in die Arme.

»Was ich noch sagen wollte, begann da das junge Mädchen, ich sehe ja deine Zeitung nicht. Hat sie der Briefträger nicht gebracht?

– O doch, mein Kind. Ich begegnete ihm heut Abend bei meiner Rückkehr, als er gerade vor unserem Hause ankam, und da hat er mir das Blatt übergeben.

– Ein Brief war nicht dabei? fragte Ilka.

– Nein, liebes Kind, er hatte keinen.«

So war es auch seit vier langen Jahren alle Tage: Es traf niemals ein Brief ein, wenigstens kein Brief aus Sibirien, keiner, auf dem Ilka die Schriftzüge Wladimir Yanofs hätte mit ihren Tränen benetzen können.

»Gute Nacht, Vater, sagte sie.

– Gute Nacht, mein Kind!«

Quelle:
Jules Verne: Ein Drama in Livland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXV, Wien, Pest, Leipzig, 1905, S. 32-33,35-46.
Lizenz:

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Sophonisbe. Trauerspiel

Sophonisbe. Trauerspiel

Im zweiten Punischen Krieg gerät Syphax, der König von Numidien, in Gefangenschaft. Sophonisbe, seine Frau, ist bereit sein Leben für das Reich zu opfern und bietet den heidnischen Göttern sogar ihre Söhne als Blutopfer an.

178 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon