[30] »Der Orinoco entstammt dem irdischen Paradiese«, so heißt es in einem der Berichte des Columbus. Als Jean diese Anschauung des großen genuesischen Seefahrers zum erstenmale vor dem Sergeanten Martial aussprach, meinte dieser nur:
»Na, das werden wir ja sehen!«
Vielleicht hatte er nicht unrecht, das Urtheil des berühmten Entdeckers Amerikas anzuzweifeln.
Ebenso war es wohl richtiger, in den Bereich reiner Legenden die Behauptungen zu verweisen, nach denen der große Strom aus dem Lande El Dorado herkommen sollte, wie es die ersten Erforscher dieser Gegenden – ein[30] Hajeda, Pinzon, Cabral, Magelhaens, Valdivia, Sarmiento und viele Andre zu glauben schienen, die nicht die Gebiete Südamerikas durchzogen.
Jedenfalls beschreibt der Orinoco in der Republik einen ungeheuern Halbkreis zwischen dem dritten und dem achten Grade nördlicher Breite, dessen Bogenende bis zum siebzigsten Grade westlicher Länge von Paris hinreicht. Die Venezuolaner sind stolz auf ihren Strom, und natürlich standen die Herren Miguel, Felipe und Varinas in dieser Hinsicht ihren Landsleuten in keiner Weise nach.
Vielleicht hatten sie sogar die Absicht, öffentlich gegen Elisée Reclus aufzutreten, der im zehnten Band seiner neuen »Allgemeinen Geographie« dem Orinoco nur den neunten Rang unter den Strömen der Erde zuertheilt, nämlich nach dem Amazonenstrome, dem Congo, dem Parana-Uruguay, dem Niger, Yang-tse-Kiang, dem Brahmaputra, dem Mississippi und dem Sanct-Lorenzo. Sie hätten ja nach Diego Ordaz, einem Gelehrten des sechzehnten Jahrhunderts, dagegen anführen können, daß die Indianer ihn »Paragua«, das heißt »Das große Wasser«, genannt hatten. Trotz eines so schwerwiegenden Beweismittels unterdrückten sie jedoch ihren Widerspruch, und vielleicht thaten sie gut daran, denn das Werk des französischen Geographen stützt sich auf gar zu verläßliche Quellen.
Am 12. August früh sechs Uhr war der »Simon Bolivar« – dieser Name wird ja niemand wundernehmen – zur Abfahrt bereit. Der Dampferverkehr zwischen Ciudad-Bolivar und den Ortschaften an dem untern Laufe des Orinoco besteht erst seit einigen Jahren und reicht über die Mündung des Apure nicht hinaus. Unter Weiterbenützung dieses Flusses können Passagiere und Waaren aber bis nach San-Fernando (de Apure, nicht zu verwechseln mit San-Fernando am Orinoco) hinauf gelangen, Dank der venezuolanischen Gesellschaft, die diesen zweimonatlichen Dienst eingerichtet hat.
An der Mündung des Apure oder vielmehr einige Meilen stromabwärts, bei dem Flecken Caïcara, mußten die Passagiere, die auf dem Orinoco weiter hinauf wollten, den »Simon Bolivar« verlassen und sich den nothdürftig ausgestatteten Indianerbooten anvertrauen.
Der Dampfer war berechnet zur Fahrt auf diesen Flüssen, deren Wasserstand zwischen der trocknen Jahreszeit und der Regenzeit sehr beträchtlich wechselt. Nach einem Modelle, ähnlich denen der Packetboote des Magdalenenstromes in Columbien, hatte er einen ganz flachen Boden und also so wenig wie möglich[31] Tiefgang. Als einzigen Betriebsmechanismus besaß er ein sehr großes Rad ohne Ueberbau (Radkasten) am Hintertheil, das von einer starken, doppelt wirkenden Maschine bewegt wurde. Stelle man sich also eine Art Floß vor mit einem Aufbau, neben dem sich die zwei Schornsteine der Schiffskessel erhoben. Dieser Aufbau, mit einem Spardeck darüber, enthielt Salons und Cabinen für die Passagiere, das untere Deck diente zur Unterbringung der Waaren – eine Einrichtung, die auch an die amerikanischen Flußdampfer mit ihren ungeheuern Balanciers und mächtigen Treibstangen erinnert. Das Ganze[32] ist bis hinauf zum Platz des Lootsen und des Kapitäns, der sich ganz oben unter dem Banner der Republik befindet, mit grellen Farben angestrichen. Auf den Rosten verbrennt man nur Holz aus den nahen Wäldern, und man bemerkt bereits fast unübersehbare baumlose Flächen, wo die Axt des Holzfällers gearbeitet hat, an jeder Seite des Orinoco.
Ciudad-Bolivar liegt vierhundertzwanzig Kilometer von den Mündungen des Orinoco, und wenn sich die Flut auch bis dahin bemerkbar macht, so vermag sie doch die Normalströmung nicht umzukehren. Die Fahrzeuge, die[33] stromaufwärts wollen, können sich also der Flut auch nicht mit besonderem Vortheil bedienen, vorzüglich bei starker Anschwellung des Wassers, die bei der Hauptstadt zwölf bis fünfzehn Meter über dem normalen Stand betragen kann. Im allgemeinen wächst der Orinoco aber bis Mitte August und behält dann sein Niveau bis Ende September. Hierauf tritt ein Abfallen ein bis in den November, das, unterbrochen durch einen kürzere Zeit anhaltenden höheren Stand, bis zum April fortdauert.
Die Fahrt des Herrn Miguel und seiner Collegen sollte also in günstiger Jahreszeit stattfinden, wo alle drei in Frage kommenden Wasserläufe untersucht werden konnten.
Am Einschiffungsplatz in Ciudad-Bolivar strömten am betreffenden Tage eine Menge Freunde der drei Geographen zusammen. Wenn das schon bei der Abfahrt der Fall war, wie würde es erst bei der Rückfahrt sein! Alle, die für den berühmten Strom Partei nahmen, machten ihren Wünschen in ebenso lebhaften und geräuschvollen Zurufen Luft, wie die Vertheidiger der beiden Zuflüsse, und trotz des Lärmens und Hastens der Lastträger und der Schiffsbedienung, die die Landverbindungen des Dampfers zu lösen begann, trotz des betäubenden Prasselns der Kessel und des ohrzerreißenden Ausströmens des Dampfes durch die Sicherheitsventile, unterschied man doch immer noch deutlich die Rufe:
»Viva el Guaviare!
– Viva el Atabapo!
– Viva el Orinoco!«
Das hatte wieder heftige Auseinandersetzungen der Anhänger verschiedener Ansichten zur Folge, die ein schlechtes Ende zu nehmen drohten, obwohl Herr Miguel die hitzigen Streitköpfe zu beschwichtigen sich bemühte.
Von dem Spardeck aus, wo sie Platz genommen hatten, beobachteten der Sergeant Martial und sein Neffe diese lärmenden Auftritte, von denen sie nicht das Geringste begriffen.
»Was mögen nur die Leute wollen? rief der alte Soldat. Das erscheint doch wie die reine Revolution!«
Um eine solche konnte es sich aber schon deshalb nicht handeln, weil in den spanisch-amerikanischen Staaten diese stets unter Mitwirkung des Militärs vor sich gehen. Hier sah man jedoch keinen einzigen von den siebentausend Generalen des Generalstabs von Venezuela.[34]
Jean und der Sergeant Martial konnten über jene Vorgänge indeß nicht lange im Unklaren bleiben, denn im Verlaufe der Fahrt mußte die zwischen dem Herrn Miguel und seinen beiden Collegen streitige Frage jedenfalls wieder zur Erörterung kommen.
Der Kapitän gab seine letzten Befehle – zuerst dem Maschinisten, seine Maschine fertig zu halten, dann den Schiffsleuten, die Sorrtaue am Vorder- und am Hintertheile schießen zu lassen. Alle, die nicht zur eigentlichen Reisegesellschaft gehörten und die sich hier und da auf dem Oberbau verstreut hatten, mußten nun nach dem Quai zurückkehren. Nach einigem Gedränge und verschiedenen Rippenstößen waren denn bald auch nur noch die Passagiere und die Schiffsbedienung an Bord.
Sowie sich der »Simon Bolivar« in Bewegung gesetzt hatte, verdoppelten sich die Zurufe und wurde der Tumult, aus dem man das Hochschreien auf den Orinoco und seine Zuflüsse heraushörte, nur noch ärger. Als das Fahrzeug dann ein Stück vom Ufer abgekommen war, peitschte sein mächtiges Rad das Wasser mit aller Kraft und der Steuermann lenkte es der Mitte des Stromes zu. Eine Viertelstunde später verschwand die Stadt hinter einer Biegung des linken Stromufers und bald sah man auch nichts mehr von den letzten Häusern von Soledad auf dem jenseitigen Ufer.
Die Ausdehnung der venezuolanischen Ilanos schätzt man auf nicht weniger als fünfmalhunderttausend Quadratkilometer, die von horizontalen, fast ganz glatten Ebenen eingenommen werden.
Höchstens an vereinzelten Stellen zeigt der Erdboden Erhebungen, die man im Lande Bancos nennt, und noch seltner Anhöhen mit seitlich abfallenden Wänden, die sogenannten Mesas. Die Ilanos steigen erst am Fuße der Berge, deren Nachbarschaft sich schon bemerkbar macht, etwas mehr an. Andre Landstrecken, die Bajos, ziehen sich bis an den Strom heran. Durch diese ungeheuern Gebiete, die während der Regenzeit ein üppiges Grün bedeckt und die in der trocknen Jahreszeit gelb oder fast farblos erscheinen, wälzt der Orinoco seine Wassermassen in einem großen Halbkreis hin.
Die Passagiere des »Simon Bolivar« übrigens, die etwa den Wunsch hegten, den Strom vom hydrographischen oder vom geographischen Gesichtspunkte aus näher kennen zu lernen, hätten sich nur an die Herren Miguel, Felipe und Varinas zu wenden brauchen, um über alles Auskunft zu erhalten. Die gelehrten Herren waren ja jeden Augenblick bereit zu den eingehendsten Mittheilungen[35] über die Uferortschaften, über alle vom Strome aus sichtbaren Dörfer, wie über die Nebenflüsse und die verschiedenen nomadischen oder seßhaften Volksstämme der Gegend. An gewissenhaftere und mehr unterrichtete Ciceroni hätte man sich gar nicht wenden können – die Herren waren ja stets bereit, sich den Passagieren bezüglich solcher Fragen völlig zur Verfügung zu stellen.
Die größte Menge der Fahrgäste auf dem »Simon Bolivar« hatte es freilich kaum nöthig, noch etwas über den Orinoco zu lernen, denn sie waren auf diesem schon viele Mal stromauf oder stromab gefahren, die einen bis zu den Mündungen des Apure, die an dern bis zu dem Flecken San-Fernando de Atabapo. Die meisten waren Kaufleute oder einfache Händler, die ihre Waaren nach dem Innern schafften oder solche den östlichen Häfen zuführten. Die gewöhnlichsten Handelsartikel bestanden hier aus Cacao, Fellen, Rinder- und Hirschhäuten, Kupfererzen, Holzwaaren, Farbstoffen, Tonkabohnen, Kautschuk, Sarsaparille und endlich aus lebendem Vieh; die Aufzucht von Vieh bildet die Hauptbeschäftigung der Ilaneros auf den weiten Ebenen.
Venezuela gehört in seiner ganzen Ausdehnung zur Tropenzone. Seine Mitteltemperatur liegt zwischen vierundzwanzig und dreißig Grad Celsius. Sie wechselt aber, wie das ja in allen Gebirgsgebieten der Fall ist. Zwischen den Anden der Küste und denen im Westen erreicht die Wärme die höchsten Grade; hier hat man die Gebiete zu suchen, die das Bett des Orinoco durchschneidet und nach denen Seewinde niemals Eingang finden. Sogar die Hauptwinde, die aus Norden und Osten kommenden Passate, werden durch die Höhen an der Küste aufgehalten und tragen nur sehr wenig zur Mäßigung der Wärme bei.
Heute sah der bedeckte Himmel etwas regendrohend aus und die Passagiere litten nicht allzusehr von der Hitze. Der Wind wehte von Westen, also der Bewegung des Schiffes entgegen, so daß sich dessen Passagiere dabei recht wohl befanden.
Der Sergeant Martial und Jean, die beide auf dem Spardeck lagen, betrachteten aufmerksam die beiden Ufer des Stromes. Ihre Reisebegleiter schienen von dem Schauspiel weniger angezogen zu werden. Nur das Geographentrio ließ sich keine Einzelheit entgehen und besprach alles mit einer gewissen Lebhaftigkeit.
Hätte sich Jean an dasselbe gewendet, so würde er ja über Alles verläßliche Auskunft erhalten haben. Einerseits aber würde der eifersüchtige und strenge Sergeant Martial keinem Fremden gestattet haben, mit dem Neffen ein[36] Gespräch zu beginnen, und andrerseits brauchte dieser wirklich niemand, um »Schritt für Schritt« alle Dörfer, Inseln und Windungen des Stromes zu erkennen. Er besaß einen sichern Führer in dem Berichte über zwei Reisen, die Chaffanjon im Auftrage des französischen Ministers des Unterrichts unternommen hatte. Die erste im Jahre 1884 umfaßte den Unterlauf des Orinoco zwischen Ciudad-Bolivar und der Mündung des Caura, wobei auch dieser bedeutende Nebenfluß untersucht wurde; die zweite, in den Jahren 1886 und 1887, erstreckte sich über den ganzen Lauf des Stromes von Ciudad-Bolivar bis zu dessen Quellen. Der Bericht des französischen Reisenden zeichnet sich durch die äußerste Verläßlichkeit aus, und Jean hoffte ihn noch häufig mit Vortheil zu benützen.
Der Sergeant Martial war natürlich mit einer hinreichenden Geldsumme – in Piastern – versehen, um alle Unkosten der Reise bestreiten zu können. Er hatte sich auch mit einer gewissen Menge von Tauschgegenständen versorgt, wie mit Stoffen, Messern, Spiegeln, Glas- und Kunstwaaren, sowie mit andern hübschen Sachen von geringem Werthe, die den Verkehr mit den Indianern der Ilanos erleichtern helfen sollten. Der ganze Vorrath füllte zwei Kisten, die mit dem übrigen Gepäck in der Cabine des Onkels neben der seines Neffen standen.
Sein Buch vor den Augen, verfolgte Jean gewissenhaft die beiden Stromufer, die sich entgegengesetzt der Richtung des »Simon Bolivar« scheinbar dahin bewegten. Sein Landsmann hatte bei jener Fahrt die Reise freilich unter ungünstigeren Umständen, nämlich in einem, oft nur durch Ruder fortbewegten Segelschiffe zurücklegen müssen, während jetzt Dampfboote bis zur Apuremündung verkehren. Von hier aus mußten sich der Sergeant Martial und Jean indeß ebenfalls mit derselben unvollkommenen Beförderungsmethode begnügen, da der Strom gar zu viele Hindernisse bietet, die den Reisenden arge Unbequemlichkeiten verursachen.
Noch am frühen Morgen kam der »Simon Bolivar« in Sicht der Insel Orocopiche vorüber, deren Bodenerzeugnisse die Hauptstadt der Provinz reichlich mit dem Nöthigsten versehen. Hier engt sich das Bett des Orinoco bis auf neunhundert Meter ein, verbreitert sich aber ein wenig stromaufwärts wieder um das Dreifache. Von dem Oberdeck aus konnte Jean die umgebenden, nur von isolierten Cerros unterbrochenen Ebenen auf weite Strecken hm übersehen.[37]
Im Laufe des Vormittags vereinigten sich die Passagiere – im Ganzen etwa zwanzig – zum Frühstück im Salon, wo Herr Miguel und seine beiden Collegen die ersten waren, die ihre Plätze einnahmen. Der Sergeant Martial ließ sich jedoch kaum überholen; er schleppte dabei auch seinen Neffen mit sich, auf den er in so barschem Tone sprach, daß es Herrn Miguel gar nicht entgehen konnte.
»Ein recht bärbeißiger Kerl, dieser Franzose, bemerkte er gegen den neben ihm sitzenden Herrn Varinas.
– O, ein Soldat, das sagt ja Alles!« erwiderte der Vertheidiger des Guaviare.
Das Auftreten des alten Unterofficiers war eben militärisch genug, daß niemand darüber in Zweifel bleiben konnte.
Der Sergeant Martial hatte sich schon vor dem Frühstück »die Kehle geputzt«, indem er einen Anisado, einen Branntwein aus Zuckerrohr und mit Anis vermischt, verschluckte. Jean, der solche starke Getränke nicht zu lieben schien, bedurfte keines derartigen Reizmittels, um der Mahlzeit alle Ehre anzuthun. Er hatte neben seinem Onkel am Ende des Salons Platz genommen, und der Gesichtsausdruck des Brummbärs war so abstoßend, daß niemand versucht wurde, sich an seine Seite zu setzen.
Die Geographen nahmen die Mitte der Tafel ein und führten daran auch das Wort. Da es bekannt war, in welcher Absicht sie diese Reise unternommen hatten, interessierten sich die andern Fahrgäste natürlich für alles, was die Herren sagten, und selbst der Sergeant Martial schien nichts dagegen zu haben, daß sein Neffe ihren Worten lauschte.
Die Speisekarte enthielt zwar mancherlei Gerichte, doch nur von geringer Güte; auf den Dampfern des Orinoco darf man indeß keine hohen Ansprüche machen. Immerhin wäre es gewiß wünschenswerth gewesen, während der Fahrt auf dem Oberlaufe des Stromes solche Bistecas zu haben – obgleich diese von einem Kautschukbaume herzurühren schienen – solche Ragouts, die in safrangelber Sauce schwammen, solche Eier, wenn sie auch so hart waren, daß man sie hätte an den Bratspieß stecken können, oder solch aufgewärmtes Geflügel, das nur durch sehr langes Kochen einigermaßen weich geworden war. Von Früchten gab es unter andern Bananen in Ueberfluß, entweder im Naturzustande oder durch Einlegen in Melissesyrup zu einer Art Consitüre verwandelt. Ferner recht gutes Brod, natürlich Maisbrod, selbst Wein, doch leider nur recht theuern und schlechten.[38]
Das war also das Almerzo, das Frühstück, das übrigens recht schnell erledigt wurde.
Am Nachmittag kam der »Simon Bolivar« an der Insel Bernavelle vorbei. Zahlreiche Inseln und Eilande verengten hier das Bett des Orinoco, und das Rad mußte mit doppelter Kraft arbeiten, um die heftige Strömung zu überwinden. Der Kapitän erwies sich dabei so geschickt in der Führung des Schiffes, daß er gewiß auch durch diese gefährlicheren Stellen glücklich hindurch kam.
An der linken Seite zeigte sich das Ufer jetzt von vielen Buchten mit dichtbewaldeten Abhängen zerrissen, vorzüglich jenseits von Almacens, einem kleinen Dorfe mit nur dreißig Bewohnern, das noch ganz so aussah, wie es Chaffanjon acht Jahre früher gesehen hatte. Hier und da rauschten kleine Abflüsse, wie der Bari, der Lima und andre herab. Ihre Mündungen umrahmten Haine von Coniferen, deren durch einfache Einschnitte gewonnenes Oel einen begehrten Artikel bildet, oder eine Anzahl Mauritiuspalmen. Auf allen Seiten aber tummelten sich ganze Gesellschaften von Affen, deren Fleisch die Bistecas des Frühstücks, die bei der Mittagstafel wieder erscheinen sollten, bei weitem übertrifft.
Es sind übrigens nicht allein Inseln, die die Schifffahrt auf dem Orinoco schwierig gestalten; der Strom ist da und dort auch von gefährlichen Rissen unterbrochen, die mitten im Fahrwasser steil emporstarren. Dem »Simon Bolivar« glückte es jedoch, jeden Zusammenstoß zu vermeiden, und gegen Abend legte er nach einer Fahrt von fünfundzwanzig bis dreißig Lieues bei dem Dorfe Moitaco an.
Hier sollte bis zum nächsten Morgen Halt gemacht werden, da es nicht rathsam schien, in der Nacht, die bei einer dichten Wolkendecke und dem Fehlen des Mondes sehr finster werden mußte, weiter zu fahren.
Um nenn Uhr glaubte der Sergeant Martial die Zeit zum Niederlegen gekommen, und Jean versuchte es gar nicht, dem Wunsche seines Onkels entgegenzutreten.
Beide zogen sich also nach ihren, im zweiten Stockwerke des Aufbaues gelegenen Cabinen zurück. Diese enthielten jede eine sehr einfache Lagerstätte mit einer leichten Decke und eine jener Matten, die man hier Esteras nennt – übrigens genug Bettzeug für die warme Tropengegend.
Der junge Mann betrat seine Cabine, legte die Kleider ab und begab sich zu Bett, worauf der Sergeant Martial noch den »Toldorahmen«, ein mit[39] Musselin bespanntes Gestell, in Ordnung brachte, das man wegen der blutdürstigen Insecten des Orinoco hier gar nicht entbehren kann. Er wollte keinem einzigen dieser verwünschten Muskitos gestatten, die Haut seines Neffen zu belästigen. Mit seiner mochte das so hingehen, denn sie war so dick und lederartig, daß Insecten ihr nicht viel anhaben konnten, und wenn sie es doch versucht hätten, würde er sich ihrer schon zu erwehren wissen.
Auf diese Weise geschützt, schlummerte Jean ruhig bis zum frühen Morgen, trotz der Myriaden von Blutsaugern, die seinen Toldo umschwärmten.
In den ersten Morgenstunden setzte sich der »Simon Bolivar«, dessen Kesselfeuer man auch in der Nacht unterhalten hatte, wieder in Bewegung, nachdem die Manschaft das in den benachbarten Wäldern gefällte Holz herangeschafft und auf dem Vorderdeck aufgeschichtet hatte.
Der Landungsplatz des Dampfers befand sich in einer der beiden Buchten zur Rechten und zur Linken von Moitaco. Sobald er aus dieser Bucht hinaus war, verschwand auch schon die Gruppe hübscher Häuschen – früher ein wichtiger Mittelpunkt der spanischen Mission – hinter einer Biegung des Flusses. In diesem Dorfe hatte Chaffanjon vergeblich nach dem Grabe eines der Begleiter des Doctor Crevaux, des François Burban – einem Grabe, das auf dem bescheidnen Friedhof von Moitaco nicht mehr nachzuweisen war – gesucht.
Im Laufe des Tages passierte der Dampfer den Weiler Santa-Cruz, ein Häuschen von zwanzig Hütten am Stromufer, ferner die Insel Guanares, den ehemaligen Sitz der Missionäre, fast genau an der Stelle, wo der Bogen des Flusses sich nach Süden zu wendet, um dann nach Westen zu weiter zu gehen, und endlich die Insel Muerto.
Hierbei mußten verschiedene Raudals – so nennt man die durch die Verengerung des Flußbettes erzeugten Stromschnellen – überwunden werden. Was aber den Leuten auf den durch Ruder oder Segel fortbewegten Fahrzeugen viel Anstrengung kostet, das kostete auf dem »Simon Bolivar« nur eine Vermehrung des Brennmaterials unter den Kesselrosten. Die Sicherheitsventile bliesen Dampf ab, wurden deshalb aber nicht besonders belastet. Das große Rad peitschte das Wasser heftiger mit seinen breiten Schaufeln. Unter solchen Verhältnissen konnten drei oder vier dieser Raudals ohne größere Verzögerung durchschifft werden sogar der des »Höllenrachens«, auf den Jean stromaufwärts von der Insel Matapalo hinwies.[40]
»Sapperment, meinte der Sergeant Martial, das Buch dieses Franzosen scheint ja alles genau anzugeben, was wir bei der Fahrt des »Simon Bolivar« zu sehen bekommen!
– Ganz genau, lieber Onkel. Nun legen wir binnen vierundzwanzig Stunden dieselbe Strecke zurück, für die unser Landsmann damals drei bis vier Tage brauchte.
Wenn wir freilich den Dampfer erst gegen ein Fahrzeug des mittleren Orinoco vertauscht haben, wird es mit uns ebenso langsam weiter gehen, wie mit ihm. Doch das thut nichts; uns liegt ja nur[41] daran, nach San Fernando zu kommen, wo ich genauere Auskunft zu erhalten hoffe.
– Gewiß; es ist doch gar nicht möglich, daß mein Oberst da hindurch gekommen wäre, ohne irgend welche Spuren zu hinterlassen. Wir werden es schon noch erfahren, wo er sein Zelt aufgeschlagen hat... Ach, wenn wir ihm erst gegenüberstehen... wenn Du Dich in seine Arme stürzest und er erst weiß...
– Daß ich Dein Neffe bin... Dein Neffe!« fiel der junge Mann ein, der immer fürchtete, daß seinem Onkel ein unvorsichtiges Wort entschlüpfen könnte.
Am Abend legte sich der »Simon Bolivar« an der Barranca fest, auf der sich der kleine Flecken Mapire erhebt.
Die Herren Miguel, Felipe und Varinas wollten unter Benutzung einer Dämmerstunde den ziemlich bedeutenden Ort des linken Ufers besichtigen.
Jean hätte sie da gern begleitet, der Sergeant Martial erklärte aber, es scheine ihm nicht gerathen, vom Bord wegzugehen, und so blieb der junge Mann gehorsam zurück.
Die drei Collegen von der Geographischen Gesellschaft hatten ihren kleinen Ausflug übrigens nicht zu bereuen.
Von der Anhöhe bei Mapire genießt man eine weite Aussicht stromauf- und stromabwärts und überblickt nach Norden hin auch die Ilanos, wo die Indianer auf den großen, waldumgrenzten Ebenen Maulesel, Pferde und Esel züchten.
Um neun Uhr schliefen schon alle Passagiere in ihren Cabinen, nachdem sie natürlich die gewöhnlichen Vorsichtsmaßregeln wegen des Eindringens der unzähligen Muskitos getroffen hatten.
Der nächste Tag wurde von einem unaufhörlichen Platzregen buchstäblich ertränkt. Auf dem Spardeck konnte kein Mensch verweilen. Der Sergeant Martial und der junge Mann verbrachten die langen Stunden in dem Salon des Hinterdecks, wo auch die Herren Miguel, Felipe und Varinas Zuflucht gesucht hatten. Hier wäre es schwierig gewesen, nichts vom Stand der Atabapo-Guaviare-Orinoco-Frage zu hören, denn die gelehrten Herren führten kein andres Wort im Munde und liebten es, ihren Ansichten recht lauten Ausdruck zu geben. Mehrere Passagiere mischten sich in das Gespräch ein und nahmen für oder wider den Einen oder den Andern Partei, obwohl man voraussetzen konnte, daß sie nicht selbst bis San-Fernando mitfahren würden, um jenes geographische Problem lösen zu helfen.[42]
»Welches Interesse kann man nur daran haben? fragte der Sergeant Martial seinen Neffen als dieser ihn über das streitige Thema unterrichtet hatte. Ob ein Fluß nun so oder so heißt, immer bewegt sich sein Wasser doch nur dem natürlichen Abhang nach...
– Meinst Du, lieber Onkel? erwiderte Jean. Wenn es aber keine derartigen Streitfragen gäbe, wozu brauchte man dann überhaupt Geographen, und wenn es keine Geographen gäbe...
– So könnten wir keine Geographie lernen, fiel der Sergeant Martial ein. Jedenfalls werden wir die Gesellschaft dieser Streitköpfe bis nach San-Fernando genießen.«
In der That mußte die Fahrt von Caïcara aus in einem der Flachboote des mittleren Orinoco fortgesetzt werden, deren Construction ihnen gestattet, über die zahlreichen Strudel des Stromes hinwegzukommen.
Infolge des abscheulichen Wetters dieses Tages sah man gar nichts von der Insel Tigritta. Wie zur Entschuldigung konnten sich die Tischgäste, beim Frühstück wie beim Mittagsmahle, an vorzüglichen Fischen gütlich thun... an den Morocotes, die es hier in ungeheurer Menge giebt und die eingesalzen in großen Sendungen nach Ciudad-Bolivar und nach Caracas gehen.
In den letzten Vormittagstunden kam der Dampfer westlich von der Mündung des Caura vorüber. Dieser Wasserlauf bildet einen der bedeutendsten Zuflüsse des rechten Ufers, strömt von Südwesten her durch die Gebiete der Panares, Inaos, Arebatos und der Taporitos und bewässert die an Naturschönheiten reichsten Thäler von Venezuela. Die dem Orinoco nahe gelegenen Dörfer sind von gesitteten Mestizen spanischen Ursprungs bevölkert. In den entfernteren siedeln nur wilde Indianer, Viehzüchter, die man Gomeros nennt, weil sie sich auch mit der Einsammlung arzneilich verwendeter Gummiarten beschäftigen.
Jean hatte einen Theil seiner Zeit verwendet, den Bericht seines Landsmanns zu lesen, der bei seiner ersten Reise, 1885, den Orinoco verließ, um die Ilanos des Caura, wo die Stämme der Ariguas und der Quiriquiripas hausen, kennen zu lernen. Die Gefahren, die diesen damals bedroht hatten, waren für Jean, wenn er den Oberlauf des Flusses besuchte, gewiß noch dieselben, wenn nicht heute noch schlimmer. So sehr er aber die Energie und den Muth jenes kühnen Franzosen bewunderte, hoffte er doch nicht minder muthig und energisch zu sein.[43]
Freilich war jener ein Mann in den besten Jahren und er nur ein Jüngling – fast noch ein Kind; doch wenn ihm Gott nur Kraft genug verlieh, den Anstrengungen und Mühen einer solchen Reise zu trotzen, so würde er schon an sein Ziel zu gelangen wissen.
Stromaufwärts von der Mündung des Caura hat der Orinoco immer noch eine erstaunliche Breite – fast von drei Kilometern. Seit drei Monaten schon hatten freilich die Regenzeit und die zahlreichen Nebenflüsse an beiden Ufern, die selbst stark gewachsen waren, zur Anschwellung desselben beigetragen.
Trotzdem mußte der Kapitän des »Simon Bolivar« mit großer Vorsicht manövrieren, um nicht jenseits der Insel Tucuragua, etwa in gleicher Höhe mit dem Rio dieses Namens, auf Untiefen zu gerathen. Dennoch streifte der Dampfer dann und wann den Grund, was an Bord stets eine gewisse Unruhe erregte. Doch wenn sein Rumpf das auch ohne Schaden aushielt, da er wie Küstenfahrer ganz flach gebaut war, so konnte man immer noch fürchten, daß der Antriebsmechanismus entweder durch Bruch von Schaufeln oder durch Störung der Dampfmaschine Havarien erlitte.
Dieses Mal ging es jedoch ohne Unheil ab, und gegen Abend ankerte der »Simon Bolivar« in einer Bucht des rechten Ufers bei der nicht unbedeutenden Ortschaft Las Bonitas.
Buchempfehlung
Als »Komischer Anhang« 1801 seinem Roman »Titan« beigegeben, beschreibt Jean Paul die vierzehn Fahrten seines Luftschiffers Giannozzos, die er mit folgenden Worten einleitet: »Trefft ihr einen Schwarzkopf in grünem Mantel einmal auf der Erde, und zwar so, daß er den Hals gebrochen: so tragt ihn in eure Kirchenbücher unter dem Namen Giannozzo ein; und gebt dieses Luft-Schiffs-Journal von ihm unter dem Titel ›Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten‹ heraus.«
72 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro