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[204] Der Atabapo und der Guaviare sind an der Stelle, wo sie sich in den Orinoco ergießen – der freundliche Leser verzeihe diese Hypothese bis zur weiteren Klarlegung der Sache – durch eine Art Halbinsel von einander getrennt. Die Betten beider Nebenflüsse begrenzen, der erste an der Ost-, der zweite an der Westseite, diese Halbinsel, deren Spitze nach Norden zu hervortritt.
Hier erblickt man also den »Platz am Kreuzwege« den M. E. Reclus mit Recht das »wahre hydrographische Centrum der ganzen Landstrecke zwischen den Antillen und dem Amazonenstrome« genannt hat.
San-Fernando nimmt den westlichen Theil der genannten, gleichzeitig vom rechten Ufer des Atabapo begrenzten Halbinsel ein. Ob dieser Zufluß unmittelbar in den Orinoco einmündet oder nur einen Nebenarm des Guaviare bildet, war zur Zeit noch eine dunkle Frage, die die bevorstehenden Untersuchungen der Herren Miguel, Felipe und Varinas vielleicht aufhellen sollten.
Die kleine Ortschaft selbst, die Solano 1757 gründete, liegt zweihundertsiebenunddreißig Meter über der Meeresfläche. Wenn je ein Flecken begründete Aussicht hatte, sich in Zukunft zu großer Bedeutung zu entwickeln, trifft das gewiß für San-Fernando zu. Um diesen geographischen Punkt verzweigen sich fünf schiffbare Wasserstraßen: Der Atabapo führt an Gavita vorüber und durch die Becken des Rio Negro und des Amazonenstromes nach Brasilien; der obere Orinoco nach den östlichen Theilen Venezuelas und der mittlere Orinoco nach[204] dessen westlichen Gebieten; der Yrinida vermittelt den Verkehr mit dem Südwesten, und der Guaviare verläuft durch die Gebiete von Columbia.
Obgleich von San-Fernando aber ein richtiger Stern von Verkehrswegen ausstrahlt, scheint es davon, was den Ort selbst betrifft, doch noch keinen besonderen Nutzen gehabt zu haben. Im Jahre 1887, als Chaffanjon daselbst verweilte, ehe er seinen Zug nach den Orinocoquellen antrat, war es immer noch weiter nichts, als ein großes Dorf. Jetzt hatte sich die Zahl seiner Häuser sowohl, als auch die seiner Einwohner in dem Zeitraume von sieben Jahren, aber doch nur in bescheidener Weise, vermehrt.
San-Fernando wird im höchsten Falle fünf- bis sechshundert Einwohner haben. Sie beschäftigen sich mit dem Bau kleinerer Fahrzeuge, die hier viel gebraucht werden, oder treiben Handel mit Kautschuk, Gummi und Früchten, von letzteren vorzüglich mit denen der Piriguaopalme.
Von diesem Dorfe aus ging im Jahre 1882 der von Lejeanne begleitete Doctor Crevaux zu seinem Zuge den Guaviare aufwärts aus – zu jener Erforschungsfahrt, die dem Nekrologe der Entdecker unsers Zeitalters ein weiteres Opfer hinzufügen sollte.
Die Bevölkerung von San-Fernando umfaßt einige Familien von Weißen, eine gewisse Zahl Neger und außerdem Indianer, die zum größten Theile dem Stamme der Banivas angehören. Die Autorität des Präsidenten der Republik und des Congresses wird hier durch einen Gouverneur vertreten, der nur über eine sehr kleine Zahl von Soldaten verfügt. Diese Miliz versieht hauptsächlich den Polizeidienst im Gebiete der Provinz und wird durch Heranziehung weiterer Leute verstärkt, wenn es einmal gilt, die Banden, die das Uferland des Orinoco und seiner Zuflüsse unsicher machen, zur Vernunft zu bringen.
Die Banivas verdienen unter den autochthonen Rassen Venezuelas besondre Erwähnung. Ihre physische Constitution stellt sie über die Zugehörigen andrer Stämme. Sie zeigen einen kräftigen Körperbau mit muskulösen Gliedern, intelligentes Gesicht, sozusagen edles Blut, das unter ihrer röthlichen Haut dahinfließt, und glänzende Augen, die ein wenig schief stehen. Auch vom moralischen Gesichtspunkte aus betrachtet überragen sie die übrigen Eingebornen, denn sie sind erwerbsthätig, ob sie nun als Ruderer dienen oder Hängematten oder Estrillas verfertigen, welch letztere zum Schleppen der Flußschiffe dienen. Die Gutmüthigkeit und Ehrenhaftigkeit dieser Indianer empfehlen sie den Reisenden, die ihrer Dienste bedürfen. Sie sind Fischer, Jäger und verstehen sich ebenso[205] auf den Anbau und die Ernte des Kautschuks. Im Vergleich zu den Piaroas sind sie nicht einmal abergläubisch zu nennen. Doch obwohl Anhänger der katholischen Religion, zu der sie durch glaubenseifrige Missionäre bekehrt wurden, haben sie einzelne alte, örtliche Gebräuche beibehalten, die, wie es scheint, nur sehr schwer auszurotten sind.
Obgleich die Wohnstätten in San-Fernando meist auch nur den Namen Hütten oder Strohhäuschen verdienen, finden sich darunter doch einige, die einen gewissen Comfort bieten.
Die Herren Miguel, Felipe und Varinas fanden Unterkommen beim Gouverneur. Der hochangesehene Mann bestand darauf, die drei Gelehrten aus Ciudad-Bolivar als Gäste aufzunehmen. Wahrscheinlich wurde die Behausung Seiner Excellenz also noch der Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen, die sie nahezu unbewohnbar machten. Auf diesem Punkte waren Herr Miguel und seine beiden Collegen indeß noch nicht angelangt. Ehe man in ernste Verhandlungen eintreten konnte, mußten die in Frage kommenden Oertlichkeiten besichtigt, näher erforscht und jedes Für und Wider zur Formulierung eines Urtheils gegeneinander abgewogen werden. Die Streitfrage erheischte also eine sorgsame Untersuchung der Mündung der drei Flüsse, längeren Aufenthalt an der Vereinigung des Atabapo und des Guaviare, vielleicht auch auf die Strecke von so und so viel Kilometern die Besichtigung ihres Laufes. Vorläufig hatten indeß die Vertreter und Vertheidiger der drei Wasseradern gründlich auszuruhen, um sich von den Mühsalen einer über sechswöchigen Reise auf dem unteren und mittleren Orinoco zu erholen.
Der Sergeant Martial und Jean von Kermor konnten sich in einer Art leidlichen Gasthauses einmiethen, das unweit des Hafens lag und wo sie weitere Auskunft abzuwarten gedachten, um danach ihre Nachsuchungen in dieser oder jener Richtung fortzusetzen.
Jacques Helloch und Germain Paterne zogen es vor, gleich auf ihrer Pirogue zu bleiben. Einmal an diese schwimmende Wohnstätte gewöhnt, glaubten sie sich hier besser untergebracht, als irgend wo anders. Die »Moriche« hatte sie nach San-Fernando gebracht, und die »Moriche« sollte sie nach Caïcara zurückführen, sobald ihre wissenschaftliche Mission erledigt wäre.
Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß die Schiffsleute, gleich nachdem die Wuth des Chubasco gebrochen war, sich beeilt hatten, die drei Falcas nach dem Hafen von San-Fernando zu schaffen. Das gelang noch am[206] nämlichen Abend, denn jene heftigen Stürme pflegen sich meist schon binnen zwei bis drei Stunden auszutoben. Ganz ohne Beschädigung waren die Piroguen bei den wiederholten Zusammenstößen auf dem Strome und bei dem schließlichen Auflaufen am Ufer freilich nicht davongekommen; die erlittenen Havarien waren aber so leichter Natur, daß sie schnell ausgebessert werden konnten. An Zeit jedoch fehlte es weder der »Maripare«, noch der »Moriche«, da ihre Passagiere jedenfalls in San-Fernando verweilen sollten. Mit der »Gallinetta« lag das nur insofern anders, als Jean, ohne einen Tag zu verlieren, weiter fahren wollte, sobald ihn irgendwelche Aufschlüsse auf die Spuren des Oberst von Kermor hinwiesen.
Seine Reisegenossen, die sich für das Unternehmen des jungen Mannes ja so lebhaft interessierten, wollten auch nichts unversucht lassen, weitere Nachrichten zu erlangen. Durch Herrn Miguel und seine beiden Collegen war ferner die Mitwirkung des Gouverneurs von San-Fernando so gut wie gesichert, und kein Besserer als er hätte ja eine genaue Umfrage in die Hand nehmen können. Jacques Helloch und Germain Paterne wollten ebenfalls ihr Möglichstes thun, um ihre Landsleute zu unterstützen. Sie besaßen Empfehlungsbriefe an einen hervorragenden und sehr gefälligen weißen Bewohner des Ortes, an einen jetzt achtundsechzigjährigen Herrn Mirabal, dessen schon Chaffanjon in dem Berichte über seinen Zug nach den Quellen des Orinoco mit dankbarer Anerkennung Erwähnung thut. Die beiden – oder vielmehr die vier – Franzosen fanden bei dessen hochachtbaren, liebenswürdigen Familie gewiß den besten Empfang.
Ehe wir jedoch von den Schritten erzählen, die die Reisenden nach ihrem Eintreffen in San-Fernando unternahmen, sei noch kurz geschildert, wie sie nach der Strandung der Piroguen den Weg nach der Ortschaft zurücklegten.
Wie erwähnt, trug der Sergeant Martial Jean in den Armen, die Herren Miguel, Felipe und Varinas gingen den Beiden voraus, und Jacques Helloch nebst Germain Paterne folgten ihnen nach. Letzterer hatte versichert, daß eine ruhige Nacht dem jungen Manne alle früheren Kräfte wiedergeben werde. Vorsorglicherweise hatte er gleich seine Reiseapotheke mitgenommen, an Hilfe und Pflege konnte es dem jungen Manne also nicht fehlen. Es war freilich ebenso verletzend wie unbegreiflich, daß der Sergeant Martial Germain Paterne immer in gewisser Entfernung zu halten suchte, wenn dieser sich einmal theilnehmend nähern wollte.[207]
»Es ist schon gut... schon gut! knurrte er dann. Mein Neffe athmet ebenso frei wie Sie und ich, und sobald die »Gallinetta« im Hafen liegt, wird es uns an nichts mangeln.
– In einigen Stunden wird sie da sein, erklärte Jacques Helloch, der von Valdez und Parchal wußte, daß die Piroguen noch am Abend eintreffen sollten.
– Das ist ja recht schön, erwiderte der Sergeant Martial, doch wenn wir in San-Fernando nur ein gutes Bett finden... Ah, Herr Helloch, ich danke Ihnen auch noch, daß Sie den Kleinen gerettet haben!«
Offenbar hatte er sich schließlich gesagt, daß er jenem diesen einfachen und kurzen Dank schuldig sei, und dennoch brachte er ihn nur sehr trocknen Tones hervor und musterte dabei Jaques Helloch mit recht verdächtigem Blicke.
Dieser antwortete nur mit einem Neigen des Kopfes und blieb einige Schritte zurück.
In dieser Weise erreichten die »Schiffbrüchigen« die Ortschaft, wo der Sergeant Martial, dem Herr Miguel den Weg angab, zwei Zimmer erhalten konnte, in deren einem Jean jedenfalls besser als unter dem Deckhause der »Gallinetta« aufgehoben war.
Germain Paterne kam, ohne daß sein Gefährte sich ihm angeschlossen hätte, im Laufe des Abends mehreremale, um sich nach dem Befinden des jungen Mannes zu erkundigen. Als Antwort wurde ihm versichert, daß Alles zum besten gehe und man seiner Dienste, für die er einen kargen Dank erhielt, jetzt entrathen könne.
Das Erste verhielt sich auch so; der junge von Kermor schlummerte friedlich, und sobald die Pirogue im Hafen angelegt hatte, brachte Valdez einen Reisesack mit Kleidungsstücken, die der Sergeant Martial für den nächsten Morgen bereit legte.
Und als da Germain Paterne in seiner Doppeleigenschaft als Arzt und Freund wieder vorsprach, wurde ihm, trotz alles Murmelns des Onkels, von Jean der freudigste Empfang nur als Freund zutheil. Der junge Mann spürte nichts mehr von dem Unfalle am Tage vorher und dankte ihm herzlichst für seine dienstwillige Hilfe.
»Ich hatte Ihnen ja gesagt, daß die ganze Sache keine Bedeutung hätte, ließ sich da der Sergeant Martial vernehmen.
– Damit haben Sie wohl recht gehabt, Sergeant; sie hätte aber auch eine sehr ernste Wendung nehmen können, und ohne meinen Freund Jacques...[208]
– Ja, ihm, dem Herrn Helloch verdanke ich's ja, heute noch zu leben, fiel Jean ein, und wenn ich ihn wiedersehe, weiß ich gar nicht, wie ich ihm..
– O, er hat nur seine Pflicht gethan, schnitt ihm Germain Paterne das Wort ab, und selbst wenn Sie nicht unser Landsmann gewesen wären...
– Na ja, es ist schon gut, brummte der Sergeant Martial, und wenn wir Herrn Helloch treffen...«
Sie trafen ihn indeß nicht, wenigstens nicht an diesem Vormittag, ob er sich nun absichtlich beiseite hielt, oder es ihm nur widerstrebte, einen Dank[209] für das, was er gethan hatte, entgegenzunehmen. Nur Eines ist gewiß, daß er nämlich sehr nachdenklich und schweigsam an Bord der »Moriche« zurückblieb, so daß Germain Paterne, nachdem er ihm von dem Befinden des jungen Mannes Mittheilung gemacht hatte, ihm kaum vier Worte zu entlocken vermochte.
Jacques Helloch und Jean sahen sich jedoch am Nachmittage wieder Etwas verlegen – der Sergeant Martial biß sich dabei grimmig in den Schnurrbart – ergriff er die ihm entgegengestreckte Hand, drückte sie aber nicht so warm wie gewöhnlich.
Dieses Zusammentreffen fand bei Herrn Mirabal statt. Jacques Helloch befand sich hier mit dem Empfehlungsschreiben, das an den alten Herrn gerichtet war. Der Sergeant Martial und Jean hatten auch den Gedanken gehabt, sich an ihn zu wenden, um vielleicht etwas Näheres über den Oberst von Kermor zu erfahren.
Herr Mirabal verhehlte den Franzosen, die an ihn gewiesen waren oder sich aus eigenem Antrieb an ihn gewendet hatten, in keiner Weise seine Befriedigung, sie zu empfangen. Er erklärte, ganz zu ihrer Verfügung zu stehen und nichts unversucht lassen zu wollen, was ihnen von Vortheil sein könnte. Die Theilnahme, die er für die Reisenden, deren Sprache er beherrschte, sofort empfand, verrieth sich deutlich in seiner Haltung, in seinen Vorschlägen und in dem Eifer, womit er sie über alle hiesigen Verhältnisse unterrichtete. Den Doctor Crevaux hatte er gesehen, als er durch San-Fernando kam; er erinnerte sich auch des Herrn Chaffanjon, dem einige Dienste zu leisten er sich so glücklich gefühlt hatte... er werde – so versicherte er – nicht weniger für Jacques Helloch und Germain, für den Sergeant Martial und dessen Neffen thun, die auf ihn unter allen Umständen rechnen dürften.
Der junge Mann erklärte ihm hierauf, aus welchem Grunde er nach Venezuela gekommen sei, und das konnte die Theilnahme, die Herr Mirabal für ihn hegte, natürlich nur noch steigern.
Nun erhob sich zuerst die Frage, ob der bejahrte Herr sich entsinnen könne, daß der Oberst von Kermor vor dreizehn Jahren einmal in San-Fernando verweilt habe.
Die Antwort fiel für den jungen Mann nicht gerade befriedigend aus. Auch nach längerem Nachdenken erinnerte sich Herr Mirabal nicht, daß sich hier ein Oberst dieses Namens aufgehalten hätte.[210]
Jeans Gesicht bekam einen kummervollen Ausdruck, und seinen Augen entquollen einige Thränen.
»Sind Sie, Herr Mirabal, fragte Jacques Helloch, hier schon lange Zeit ansässig?
– Ueber vierzig Jahre, antwortete der alte Herr, und ich habe San-Fernando auch nur selten, und dann nur auf kurze Zeit verlassen. Hätte sich ein Reisender, wie der Oberst von Kermor, hier einige Tage aufgehalten, so hätte ich ihn gewiß gesehen und wäre mit ihm in Beziehung getreten. Unser Ort ist nicht so groß und nicht so volkreich, daß ein Fremder nicht von Allen bemerkt worden wäre und ich nicht von ihm gehört hätte.
– Ja... wenn er aber sein Incognito zu bewahren suchte?
– Darauf fehlt mir die Antwort, erklärte Herr Mirabal; sollte er dazu Veranlassung gehabt haben?...
– Herr Mirabal, sagte Jean, mein Vater hat Frankreich vor dreizehn Jahren verlassen, und seine Freunde haben von seiner Abreise erst weit später Kunde bekommen. Selbst mein Onkel, der Sergeant Martial, war damals nicht über das Vorhaben seines Oberst unterrichtet.
– Nein, gewiß nicht! rief der alte Soldat. Ich würde ihn schon davon zurückgehalten haben!
– Doch Sie, mein liebes Kind? fragte Herr Mirabal.
– Ich befand mich zu jener Zeit nicht im Hause meines Vaters, antwortete Jean, sichtlich etwas zögernd. Meine Mutter und ich, wir verweilten einige Zeit in den Colonien, und bei der Rückfahrt nach Frankreich kam meine Mutter durch einen Schiffbruch ums Leben. Ich wurde damals gerettet, und als ich, wieder viele Jahre später, nach der Bretagne heimkam, hatte mein Vater Nantes schon verlassen – seit dieser Zeit wissen wir nichts mehr von ihm.«
Offenbar lag in dem Leben dieses jungen Mannes ein Geheimniß verborgen, wie das Jacques Helloch schon geahnt hatte. Da es ihm aber nicht zukam, es zu entschleiern, bewahrte er nach dieser Seite stets die strengste Zurückhaltung. Jedenfalls unterlag es keinem Zweifel, daß der Oberst von Kermor die Heimat bereits verlassen hatte, als sein Sohn daselbst eintraf, und daß der Sergeant Martial – mochte dieser nun mit ihm verwandt sein oder nicht – unbedingt nicht wußte, wohin er gegangen war.
»Und doch haben Sie, liebes Kind, fuhr Herr Mirabal fort, stichhaltige Gründe, zu glauben, daß Ihr Vater nach San-Fernando gekommen wäre?[211]
– Nicht allein stichhaltige, Herr Mirabal, sondern ganz beweiskräftige Gründe.
– Und die wären?...
– Ein von meinem Vater geschriebener und unterzeichneter Brief, der aus San-Fernando eintraf, ist im Laufe des Jahres 1879 einem seiner Freunde zugegangen.
– Das ist allerdings ein Beweis für... ja, wenn nicht etwa... erwiderte Herr Mirabal in abgebrochenen Sätzen. Es giebt in Venezuela nämlich noch eine andre Ortschaft dieses Namens, an der Ostseite des Orinoco... San-Fernando des Apures.
– Nein, nein, der Brief kam aus San-Fernando de Atabapo, und der Poststempel trägt das Datum des 5. Juni 1879.
– Warum, liebes Kind, haben Sie sich aber nicht damals gleich zu Nachsuchungen entschlossen?
– Weil wir Beide, mein Onkel und ich, von diesem Briefe erst vor drei Monaten Kenntniß erhielten. Der Freund, an den er gerichtet war, durfte niemand davon Mittheilung machen, und erst nach dessen Ableben hat seine Familie ihn uns zugestellt. Ach, wäre ich nicht in weiter Ferne gewesen, als mein Vater das Heimatland verließ... er wäre gewiß nicht fortgegangen!«
Tief bewegt zog Herr Mirabal Jean an sich und umarmte ihn zärtlich. Er fragte sich, was er wohl thun könnte, um ihm zu helfen. Eine Thatsache überwog ja Alles, die, wonach ein vom Oberst von Kermor geschriebener und vom 5. Juni 1879 datierter Brief aus San-Fernando de Atabapo abgegangen war.
»Und doch, äußerte Herr Mirabal, versagt hier meine Erinnerung... nein... ich weiß von nichts, obwohl ich jener Zeit sicherlich in San-Fernando gewesen bin.
– Es ist aber doch kaum glaublich, rief der junge Mann, daß mein Vater hier durchgereist, ja sich sogar, wenigstens kurze Zeit, hier aufgehalten hätte, ohne daß davon irgend etwas nachzuweisen wäre!«
Dazu entrang sich ihm ein schwerer Seufzer, als ob ihm die so bestimmte und niederschmetternde Aussage des Herrn Mirabal die letzte Hoffnung geraubt hätte.
»Verzweifeln Sie nur nicht, Jean – er sagte diesmal nicht »mein lieber Jean« – erwiderte Jacques Helloch, der seine Erregung übrigens kaum[212] selbst bemeistern konnte. Jedenfalls ist der Oberst von Kermor in San-Fernando gewesen, ohne daß Herr Mirabal davon Kenntniß erhielt.«
Der Herr des Hauses erhob den Kopf.
»Andre Personen haben ihn vielleicht kennen gelernt, fuhr Jacques Helloch fort. Wir werden danach Umschau und Nachfrage halten. Drum noch einmal, Jean, nicht gleich auf jeden Erfolg verzichten!«
Der Sergeant Martial sah den jungen Mann nur an, verhielt sich aber schweigend. Er schien diesem immer wieder zu sagen, was er schon seit der Abreise oft genug wiederholt hatte: »Du wirst sehen, mein armes Kind, daß wir eine ganz nutzlose Fahrt unternehmen!«
»Da es ja nicht ausgeschlossen ist, nahm Herr Mirabal wieder das Wort, daß ich von der Anwesenheit des Oberst von Kermor nichts erfahren hätte, werde ich Nachforschungen anstellen, mich bei hiesigen Einwohnern erkundigen. Auch ich möchte Sie bitten, nicht vorschnell zu verzweifeln. Daß Ihr Herr Vater nach San-Fernando gekommen ist, steht ja fest. Doch trat er auch unter seinem wahren Namen auf? Reiste er vielleicht nicht in seiner Eigenschaft als Oberst? Wer mag das wissen?«
Diese Hypothese erschien ja annehmbar, wenn man sich auch kaum erklären konnte, warum der Oberst seinen Namen und seinen Stand verheimlicht haben sollte.
»Wenn Herr von Kermor, bemerkte Jacques Helloch dazu, nicht gerade bei seiner Fahrt durch San-Fernando unerkannt bleiben wollte.
– Weshalb aber eine solche Verheimlichung? fragte Herr Mirabal.
– Mein Vater hatte gar schweren Kummer erlitten, antwortete der junge Mann, dessen Herz immer heftiger zu pochen anfing. Nach dem Tode meiner armen Mutter glaubte er, in der Welt ganz verlassen dazustehen...
– Doch Sie, mein armes Kind?
– Mich hielt er ebenfalls für todt,« erwiderte Jean, während der Sergeant Martial in seiner Ecke heimlich brummte.
Offenbar paßte es ihm keineswegs, seinen Neffen in dieser Weise ausgefragt zu sehen. Dabei wurden verschiedene Einzelheiten ans Licht gezogen, die er immer gern, wenigstens so weit sie mit der Vergangenheit seines angeblichen Neffen zusammenhingen, im Dunkeln gelassen hätte.
Weder Herr Mirabal, noch Jacques Helloch stellten übrigens weitere Fragen. Der von schwerem Unglück geprüfte Oberst von Kermor hatte geglaubt, im Geheimen abreisen zu müssen... so geheim, daß auch sein alter Waffengefährte[213] nichts von seiner Absicht erfuhr. Es war demnach nicht unwahrscheinlich, daß er seinen Namen in der Hoffnung vertauscht hatte, niemals an dem Orte entdeckt zu werden, wohin er sich mit seinem von so harten Schlägen zerstörten Leben geflüchtet hatte.
Nach ihrer Rückkehr in den Gasthof gingen der Sergeant Martial und Jean an diesem Tage nicht wieder aus.
Am nächsten Tage hatte Jean eine Unterredung mit dem Gouverneur der Provinz des Orinoco, dem Herr Miguel ihn vorgestellt hatte.
Seine Excellenz konnte ihm freilich nichts auf seinen Vater Bezügliches mittheilen. Der Gouverneur nahm seine Stelle in San-Fernando erst seit fünf Jahren ein. Doch wenn er dem jungen Manne auch keine Auskunft geben konnte, so wollte er sich wenigstens Herrn Mirabal bei den Nachforschungen anschließen die dieser anzustellen übernommen hatte.
Der zweite Tag verstrich, ohne daß die Angelegenheit einen Schritt weiter gekommen wäre. Der Sergeant Martial wüthete gegen sich selbst. So weit gekommen zu sein, so viele Gefahren ausgestanden zu haben, und Alles... Alles rein vergeblich! Wie hatte er nur so schwach sein können, einer solchen Reise zuzustimmen, so schwach, sie zu unternehmen! Jedenfalls gelobte er sich, seinen Unmuth nicht vor dem unglücklichen Jean laut werden zu lassen, denn das hätte den Schmerz des jungen Mannes, der ja schon allein so bestürzt, so verzweifelt war, noch weiter verschlimmert.
Jacques Helloch bemühte sich inzwischen, Erkundigungen einzuziehen, was sich zunächst leider erfolglos erwies. An Bord der »Moriche« zurückgekehrt, verfiel er einer so traurigen Stimmung, daß Germain Paterne darüber ordentlich erschrak. Sein Freund, der sonst so gern plauderte, so gleichmäßig heiter und mittheilsam war, antwortete kaum noch auf seine Fragen.
»Was hast Du denn? redete Germain Paterne ihn an.
– O... nichts.
– Nichts... das bedeutet zuweilen Alles. Ich gebe ja gern zu, daß die Lage des armen jungen Mannes recht betrübend ist; das ist für Dich aber doch kein Grund, Deine Mission gänzlich aus dem Auge zu verlieren.
– Meine Mission?
– Allerdings. Du bist doch nicht, ich mag das wenigstens nimmermehr glauben, von dem Minister der öffentlichen Aufklärung nach dem Orinoco geschickt worden, um hier nur den Oberst von Kermor wiederzufinden?[214]
– Ja, warum denn nicht?
– Ich bitte Dich, Jacques, laß uns ernsthaft sprechen! Du bist so glücklich gewesen, den Sohn des Oberst retten zu können...
– Den Sohn! rief Jacques Helloch lebhafter. Ach ja... den Sohn!... Nun, Germain, vielleicht... ja, es wäre wohl besser gewesen, daß Jean umkam, wenn er seinen Vater doch nicht wiederfinden soll.
– Ich begreife Dich nicht, Jacques.
– Weil das Dinge sind, von denen Du nichts verstehst... von denen Du nichts verstehen kannst.
– Ich danke bestens!«
Germain Paterne nahm sich vor, seinen Gefährten nicht weiter auszuforschen, er fragte sich nur, was dessen immer wachsende Zuneigung zu dem jungen von Kermor eigentlich für Sinn habe.
Am folgenden Tage, als Jean mit dem Sergeanten Martial bei Herrn Mirabal erschien, wollte dieser in Begleitung Jacques Helloch's ihn grade aufsuchen.
Nach gehaltener Umfrage bei den Bewohnern von San-Fernando hatte sich ergeben, daß ein Fremder vor einem Dutzend Jahren thatsächlich in dem Orte verweilt habe. Doch ob das ein Franzose gewesen war, konnte niemand sagen; auf jeden Fall schien er aber Ursache gehabt zu haben, ein strenges Incognito zu bewahren.
Jean glaubte hiermit in das Dunkel der geheimnißvollen Angelegenheit einen ersten Lichtstrahl fallen zu sehen. Ob man nun auf Ahnungen Gewicht legen darf oder nicht, ihm kam der Gedanke, daß dieser Fremde sein Vater gewesen sei... sein Vater gewesen sein müsse.
»Und weiß man auch, Herr Mirabal, fragte er, wohin sich jener Reisende bei seinem Weggange von hier gewendet hatte?
– Ja, mein Kind; er ist nach der Gegend des obern Orinoco weitergezogen.
– Und seitdem hat man nichts mehr von ihm gehört?
– Niemand weiß, was aus ihm geworden ist.
– Das ließe sich vielleicht auskundschaften, meinte Jacques Helloch, wenn man auf diesem Theile des Stromes Nachforschungen anstellte.
– Ja freilich, doch das wäre wohl ein zu gefahrvolles Unternehmen, bemerkte Herr Mirabal, und sich auf so schwachfüßige Anzeichen hin dem auszusetzen...«[215]
Der Sergeant Martial gab durch eine Handbewegung zu erkennen, daß er die Anschauung des Herrn Mirabal theilte.
Jean selbst schwieg zwar dazu, doch in seiner entschlossenen Haltung, in dem Feuer, das aus seinen Augen strahlte, erkannte man den festen Entschluß, keine Hindernisse zu achten, die Reise, und wenn sie auch noch so gefahrvoll wäre, fortzusetzen und seine Pläne nicht aufzugeben, sondern bis zum Ende zu verfolgen.
Herr Mirabal verstand ihn sehr gut, als Jean zu ihm sagte:
»Ich danke Ihnen, Herr Mirabal, und auch Ihnen, Herr Helloch, für das, was Sie gethan haben. Ein Fremder ist hier zu der Zeit gesehen worden, wo mein Vater sich in San-Fernando befand, wo er einen Brief von hier abschickte...
– Gewiß; doch daraus schon schließen zu wollen, daß das der Oberst von Kermor gewesen sei... wendete der alte Herr ein.
– Warum das nicht? rief Jacques Helloch. Liegt nicht die Wahrscheinlichkeit vor, daß er es gewesen wäre?
– Kurz, da jener Fremde sich nach dem obern Orinoco begeben hat, erklärte Jean, werde ich ebenfalls dahin gehen!
– Jean... Jean! rief der Sergeant Martial, indem er auf den jungen Mann zueilte.
– Ich werde dahin gehen!« wiederholte Jean in einem Tone, der seinen unerschütterlichen Entschluß erkennen ließ.
Dann wandte er sich wieder an den Herrn des Hauses.
»Giebt es wohl am obern Orinoco Flecken oder Dörfer, wohin ich mich begeben könnte, um noch weitere Aufklärung zu erlangen, Herr Mirabal?
– Dörfer... ja... mehrere; zum Beispiel Guachapana, la Esmeralda und noch andre. Wenn es aber möglich ist, die Spuren Ihres Vaters wieder zu entdecken, liebes Kind, so wird das jenseits der Quellen, in der Mission von Santa-Juana der Fall sein.
– Wir haben von dieser Mission schon reden hören, sagte Jacques Helloch. Ist sie erst neueren Ursprungs?
– Sie wurde schon vor mehreren Jahren gegründet, antwortete Herr Mirabal, und erfreut sich, soviel ich weiß, glücklichen Gedeihens.
– Eine spanische Mission?...
– Ja, sie wird von einem spanischen Missionär, dem Pater Esperante, geleitet.[216]
– Sobald unsre nöthigen Vorbereitungen zur Weiterreise beendet sind, erklärte Jean, brechen wir nach Santa-Juana auf.
– Mein liebes Kind, sagte der alte Herr, ich darf Sie nicht in Unwissenheit darüber lassen, daß die Gefahren am obern Orinoco sehr groß sind. Abgesehen von Anstrengungen und Entbehrungen, laufen Sie auch Gefahr, Indianerhorden in die Hand zu fallen, die wegen ihrer Grausamkeit sehr berüchtigt sind, in die der wilden Quivas, welche jetzt von einem aus Cayenne entwichenen Sträfling angeführt werden.
– Gefahren, denen mein Vater ins Auge gesehen hat, erwiderte Jean, werde ich auch nicht scheuen, um ihn wiederzufinden!«
Die Unterredung endigte mit dieser Antwort des jungen Mannes. Herr Mirabal sah ein, daß ihn nichts zurückhalten werde. Er würde auf jeden Fall, wie er sich ausgedrückt hatte, »bis ans Ende« gehen.
Voller Verzweiflung folgte der Sergeant Martial Jean nach, der sich nach der »Gallinetta« begab, um verschiedene Kleidungsstücke zu holen.
Als Jacques Helloch mit Herrn Mirabal allein war, konnte dieser ihm nur noch einmal wiederholen, welch großen Gefahren der Sohn des Oberst von Kermor, der nur den alten Soldaten zum Führer hatte, sich aussetzte.
»Wenn Sie einigen Einfluß auf ihn haben, Herr Helloch, fügte er hinzu, so suchen Sie ihn von diesem, auf so unsichern Voraussetzungen aufgebauten Plane abzubringen. Verhindern Sie seine Weiterreise.
– Zurückhalten wird ihn doch nichts, Herr Mirabal; dazu kenne ich ihn zu gut!«
Jacques Helloch kehrte an Bord der »Moriche« zurück. Er war jetzt sorgenvoller als je und antwortete auf die Worte, die sein Gefährte an ihn richtete, überhaupt gar nicht mehr.
Auf dem Hintertheile seiner Pirogue sitzend, beobachtete Jacques Helloch den Schiffer Valdez und zwei seiner Leute, wie diese die »Gallinetta« offenbar für eine weite Reise in Stand setzten. Dazu mußte sie vollständig entladen werden, um ihren Boden genau zu besichtigen und sie durchweg frisch zu kalfatern, was die oft so schwierige letzte Fahrt und die Strandung am Ufer von San-Fernando unbedingt nöthig machten.
Jacques Helloch beobachtete dabei auch Jean, der diese Arbeiten überwachte. Vielleicht erwartete der junge Mann, daß Jacques Helloch ihn ansprechen, ihn wegen der Kühnheit seiner Pläne verwarnen oder abhalten sollte, sie auszuführen.[219]
Dieser blieb jedoch stumm und regungslos auf seinem Platze. In Nachdenken versanken, schien er von einer fixen Idee besessen zu sein, einer jener Ideen, die sich tief ins Gehirn eingraben... es verzehren...
Der Abend kam heran.
Gegen acht Uhr erhob sich Jean, um nach dem Gasthause zurückzukehren und der Ruhe zu pflegen.
»Guten Abend, Herr Helloch! rief er zu diesem hinüber.
– Guten Abend, Jean!« antwortete Jacques Helloch, sich erhebend, als beabsichtige er, dem jungen Manne zu folgen.
Jean schritt indeß, ohne jemals nur den Kopf zu wenden, dahin und verschwand in hundert Schritt Entfernung zwischen den Strohhütten.
Der Sergeant Martial war noch am Ufer etwas zurückgeblieben, stark erregt durch den Gedanken an einen Schritt, den zu thun er sich jetzt entschlossen hatte. So kehrte er noch einmal nach der »Moriche« um.
»Herr Helloch, begann er zögernd, ich hätte einige Worte mit Ihnen zu sprechen.«
Jacques Helloch verließ sofort die Pirogue und trat auf den alten Soldaten zu.
»Was steht Ihnen zu Diensten, Sergeant? fragte er.
– Ich möchte Sie um eine Gefälligkeit bitten... darum, daß Sie meinen Neffen, der auf Ihre Worte, gerade auf Ihre, vielleicht am ersten hört, dazu bewegen, daß er die geplante Weiterreise aufgiebt.«
Jacques Helloch sah dem Sergeant Martial gerade ins Gesicht. Nach einigem Zögern antwortete er endlich:
»Ich werde ihn nicht zu überreden suchen, denn das wäre unnütz, das wissen auch Sie recht gut, dagegen bin ich, vorausgesetzt, daß es Ihnen paßt, zu einem Entschlusse gekommen...
– Zu welchem denn?
– Nun, zu dem, Jean auch ferner zu begleiten.
– Sie... Sie wollen ihn begleiten... meinen Neffen?...
– Der gar nicht Ihr Neffe ist, Sergeant!
– Ihn, den Sohn des Oberst...
– Der gar nicht sein Sohn ist... sondern seine Tochter... die einzige Tochter des Oberst von Kermor!«
Ende des ersten Bandes.[220]
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