Erstes Capitel.
Etwas aus früherer Zeit.

[221] Am Morgen des 2. October gegen acht Uhr glitten die Piroguen »Gallinetta« und »Moriche« erst den die rechte Seite der Halbinsel des Atabapo begleitenden Flußarm hinunter und dann bei günstigem Nordwestwinde den Oberlauf des Orinoco hinauf[221] Nach dem Gespräch zwischen dem Sergeanten Martial und Jacques Helloch am Abend vorher konnte der Erstere dem Zweiten nicht länger die Erlaubniß, sie – »seinen Neffen und ihn« – bis zur Mission von Santa-Juana zu begleiten, verweigern. Jetzt war das Geheimniß Jeanne von Kermor's dem, der sie gerettet hatte, bekannt, und jedenfalls würde es – daran war kein Zweifel – auch Germain Paterne bald nicht mehr unbekannt sein. Offenbar mußte es schwierig werden, diese Mittheilung zu unterdrücken, ja es erschien sogar bei den Umständen, unter denen der zweite Theil der Reise vor sich gehen sollte, vortheilhafter, den Schleier zu lüften. Das bisher so sorgsam behütete Geheimniß würden die beiden jungen Männer den Herren Miguel, Felipe, Varinas und Mirabal gewiß ebenso wie dem Gouverneur der Provinz gegenüber zu bewahren wissen. Waren ihre Nachforschungen von Erfolg gekrönt, so blieb dem Oberst von Kermor die Freude vorbehalten, jenen seine Tochter vorzustellen.

Es wurde auch beschlossen, weder Valdez oder Parchal, noch einen von den Schiffsleuten über die letzten Vorgänge und Enthüllungen aufzuklären, und man konnte es nur billigen, daß der Sergeant Martial Jeanne für seinen Neffen Jean ausgegeben hatte in der Hoffnung, dadurch manche Schwierigkeiten eines solchen Zuges aus dem Wege zu räumen. Es war jedenfalls rathsam, von diesem klugen Verhalten nicht abzuweichen.

Nun male man sich die Verblüffung, die Niedergeschlagenheit und darauf den Ingrimm des alten Soldaten aus, als Jacques Helloch ihm eröffnete, daß er das Geheimniß durchschaut habe, daß er wisse, in Jean von Kermor Jeanne von Kermor vor sich zu haben! Doch nein, ein solcher Versuch wäre mindestens nutzlos, denn man würde das Richtige dabei doch nicht treffen.

Ebensowenig brauchen wir wohl die sehr natürliche Verlegenheit hervorzuheben, die sich des jungen Mädchens bemächtigte, als Jacques Helloch und Germain Paterne zum erstenmale wieder vor ihr standen. Beide wollten ihr ihre Hochachtung, ihre Ergebenheit zu erkennen geben und sie ihrer Verschwiegenheit versichern. Ihr entschlossener Charakter, der der gewöhnlichen Scheu ihres Geschlechtes überlegen war, gewann in ihr aber sehr bald wieder die Oberhand.

»Für Sie bleib' ich Jean... immer nur Jean, sagte sie, den beiden Landsleuten die Hände entgegenstreckend.

– Stets, mein Fräulein, antwortete Germain Paterne mit einer Verbeugung.[222]

– Jawohl... Jean... mein lieber Jean... versicherte Jacques Helloch, und bis zu dem Tage, wo wir Fräulein Jeanne von Kermor den Armen ihres Vaters wieder zugeführt haben!«

Es versteht sich von selbst, daß jetzt Germain Paterne keinen weiteren Einspruch gegen die Reise erheben zu dürfen glaubte, die bis zu den Quellen des Orinoco und vielleicht noch darüber hinaus ausgedehnt werden sollte.

Ihm persönlich kam das ja ganz gelegen; er bekam dadurch vielfache Gelegenheit, seine Sammlungen zu bereichern, daß er die Pflanzenwelt des obern Orinoco durchforschte. Das gestattete ihm auch, seine Mission als Naturforscher besser zu erfüllen, und der Minister der öffentlichen Aufklärung hätte sicherlich keine Ursache gehabt, sich über die Verlängerung der Reise mißbilligend zu äußern.

Was Jeanne von Kermor anging, konnte diese nur herzlich dankbar dafür sein, daß die beiden jungen Männer ihre Bemühungen mit den ihrigen vereinigen, sie bis zur Mission von Santa-Juana begleiten wollten und daß sie bereit waren, in ihrem Interesse allen Zufälligkeiten eines solchen Zuges die Stirn zu bieten, dadurch aber ihre Aussichten auf Erfolg zu vermehren. Ihr Herz floß auch über vor Erkenntlichkeit gegen den, der sie dem Tode entrissen hatte und während der ganzen Reise an ihrer Seite bleiben wollte.

»Mein alter, lieber Freund, sagte sie zu dem Sergeanten Martial, Gottes Wille geschehe!... Er weiß ja, was er thut...

– Eh' ich ihm dafür danke, möcht' ich freilich erst das Ende abwarten,« begnügte sich der alte Soldat zu antworten.

Dann brummte er in seiner Ecke vor sich hin und schämte sich wie ein Onkel, der seinen Neffen verloren hat.

Jacques Helloch hielt es für ganz selbstverständlich, Germain Paterne zu erklären:

»Du begreifst wohl, daß wir Fräulein von Kermor nicht verlassen konnten.

– Ich begreife Alles, lieber Jacques, sogar die Dinge, von denen Du schlankweg behauptest, daß ich sie nicht verstände. Einen jungen Mann hast Du zu retten geglaubt, und ein junges Mädchen hast Du dem Tode entrissen; da liegt es ja auf der Hand, daß es uns rein unmöglich ist, eine so interessante Persönlichkeit zu verlassen.

– Das hätt' ich auch einem Jean von Kermor gegenüber nicht gethan! versicherte Jacques Helloch. Nein, ich hätte nie zugegeben, daß er sich solchen[223] Gefahren aussetzte, ohne daß ich sie mit ihm theilte. Es war meine Pflicht... unser Beider Pflicht, Germain, ihm bis zum Ziele behilflich zu sein...

– Sapperment!« rief Germain Paterne scheinbar in größtem Ernst.

Wir fügen hier ein, was Fräulein von Kermor ihren Landsleuten in kurzen Worten mitgetheilt hatte.

Der 1829 geborne, jetzt also im dreiundsechzigsten Jahre stehende Oberst von Kermor hatte 1859 eine Kreolin aus Martinique geheiratet. Die beiden ersten Kinder dieser Ehe waren schon in sehr zartem Alter verstorben. Jeanne hatte sie niemals kennen gelernt, und Herr und Frau von Kermor waren schon über diesen Verlust untröstlich gewesen.

Herr von Kermor, ein ausgezeichneter Officier, verdankte seinem Muthe, seinen Kenntnissen und andern besondern Eigenschaften ein glänzendes, schnelles Avancement. Mit vierzig Jahren war er bereits Oberst. Der Soldat, später Corporal und Sergeant Martial hatte sich mit Leib und Seele diesem Officier ergeben, der ihm auf dem Schlachtfelde von Solferino das Leben gerettet hatte. Beide kämpften später auch zusammen in dem unglücklichen Feldzug gegen die deutschen Heere.

Zwei bis drei Wochen vor der 1870 er Kriegserklärung hatten Familienverhältnisse Frau von Kermor genöthigt, nach Martinique zu reisen. Hier erblickte Jeanne das Licht der Welt. Trotz des Kummers, der ihn über den Verlauf des Feldzuges bedrückte, freute sich der Oberst doch herzlich über die Geburt dieses Kindes. Hätte ihn die Pflicht nicht zurückgehalten, so wäre er zu Gattin und Kind nach den Antillen geeilt, um beide nach Frankreich heimzuholen.

Unter den gegebenen Verhältnissen wollte Frau von Kermor aber nicht warten, bis das Ende des Krieges ihrem Manne erlaubte, sie abzuholen. Es drängte sie, an seiner Seite zu weilen, und im Mai 1871 schiffte sie sich in Saint-Pierre-Martinique auf einem nach Liverpool bestimmten englischen Packetboote, dem »Norton«, ein.

Frau von Kermor hatte noch eine Kreolin bei sich, die Amme ihres Töchterchens, das erst wenige Monate alt war. Sie wollte diese Frau in ihrem Dienst behalten, wenn sie in die Bretagne und nach Nantes, wo sie vor ihrer Abreise gewohnt hatte, zurückgekehrt wäre.

In der Nacht vom 23. zum 24. Mai wurde der »Norton« aber bei dichtem Nebel durch den Dampfer »Vigo« von Santander angefahren. In Folge dieses Zusammenstoßes versank der »Norton« fast auf der Stelle mit allen[224] Passagieren, bis auf fünf, mit der ganzen Besatzung, bis auf zwei Mann, ohne daß das andre Schiff noch mehr Menschenleben hätte retten können.

Frau von Kermor hatte nicht Zeit gefunden, ihre Cabine zu verlassen, die an der Seite lag, wo der Zusammenstoß erfolgte; die Amme kam ebenfalls ums Leben, obgleich es ihr gelungen war, mit dem Kinde das Deck zu erreichen.

Wie durch ein Wunder gehörte das Kind nicht zu den Opfern des Unfalls, dank dem hilfbereiten Muthe eines der zwei Matrosen vom »Norton«, denen es gelang, den »Vigo« zu erreichen.[225]

Nach dem Versinken des »Norton« blieb der »Vigo«, der zwar am Bug beschädigt war, dessen Maschinen von der Collision aber nicht gelitten hatten, noch am Ort der Katastrophe liegen und ließ seine Boote aufs Meer. Alles bis zum hellen Tage fortgesetzte Suchen nach noch lebenden Verunglückten hatte leider keinen Erfolg, und das Schiff mußte nun der nächstgelegenen Antilleninsel zusteuern, wo es acht Tage darauf eintraf.


Nun male man sich die Gemüthsstimmung des alten Soldaten aus... (S. 229.)
Nun male man sich die Gemüthsstimmung des alten Soldaten aus... (S. 229.)

Von hier aus wurden die wenigen Geretteten, die auf dem »Vigo« Zuflucht gefunden hatten, nach ihrem Bestimmungsorte befördert.

Unter den Passagieren dieses Dampfers befand sich eine spanische Familie, die aus Havanna stammende Familie Eridia, und diese erbot sich, die kleine Jeanne aufzunehmen. Ob das Kind jetzt in der Welt ganz allein dastand, konnte vorläufig niemand wissen. Einer der geretteten Matrosen erklärte zwar, die Mutter des kleinen Mädchens sei eine auf dem »Norton« eingeschiffte Französin gewesen, deren Name ihm aber unbekannt geblieben wäre. Den Namen konnte man auch nur nachträglich erfahren, wenn er bei dem Commissionär des englischen Dampfers vor dessen Abgang eingeschrieben wäre. Das war aber nicht der Fall, wie es sich bei der über den Zusammenstoß der beiden Schiffe eingeleiteten Untersuchung herausstellte.

Von den Eridia's an Kindesstatt angenommen, folgte Jeanne diesen nach Havanna. Hier sorgten jene für ihre Erziehung, nachdem sie sich vergeblich bemüht hatten, zu erkunden, wem und welcher Familie sie eigentlich angehörte. Man gab der Kleinen hier den Namen Juana. Von Natur gut veranlagt, lernte sie eifrig und entwickelte sich geistig recht vortheilhaft bis zu ihrem vierzehnten Jahre, wo sie die französische Sprache ebenso vollkommen wie die spanische beherrschte. Die Geschichte ihres Lebens war Juana nicht verheimlicht worden. In Folge dessen fühlte sie sich immer nach Frankreich hingezogen, wo vielleicht ihr Vater lebte, der sie beweinte und sie wohl niemals zu sehen fürchtete.

Leicht wird man sich den Schmerz vorstellen können, den der Oberst von Kermor bei dem doppelten Schlage empfand, welcher ihn seiner Gattin und seines Kindes beraubte, das er noch nicht einmal kannte. Im Kriegsgetümmel des Jahres 1871 hatte er ja gar nicht erfahren, daß Frau von Kermor sich entschlossen hatte. Martinique zu verlassen, um zu ihm zu kommen. Er wußte also auch nicht, daß sie an Bord des »Norton« gegangen war. Und als er es erfuhr, ging ihm gleichzeitig die Nachricht von dem schrecklichen Schiffsunfälle zu. Vergeblich ließ er überall Nachfragen anstellen. Sie ergaben nichts andres[226] als die Gewißheit, daß seine Gattin und sein Töchterchen mit der Mehrzahl der Passagiere und Mannschaften des Packetbootes zugrunde gegangen wären.

Die Trauer des Oberst von Kermor kannte keine Grenzen. Er verlor ja gleichzeitig die angebetete Lebensgefährtin und ein Kind, das von ihm noch nicht den ersten Kuß bekommen hatte. Die Wirkung dieses zweifachen Unglücks auf ihn war so mächtig, daß er den Verstand zu verlieren fürchtete; er erkrankte auch so schwer, daß die Familie von Kermor ohne die sorgsame Pflege seines alten Soldaten, des Sergeanten Martial, vielleicht mit ihm ausgestorben wäre.

Der Oberst überstand zwar die Krankheit, seine Genesung zog sich aber sehr lange hin. Da er sich jedoch einmal entschlossen hatte, auf seinen Beruf, der der Ehrgeiz seines ganzen Lebens gewesen war und ihm noch eine glänzende Zukunft in Aussicht stellte, zu verzichten, erbat er sich 1873, als er nur vierundvierzig Jahre zählte und in der Vollkraft des Lebens stand, seine endgiltige Entlassung.

Seit er diese erhalten hatte, lebte der Oberst von Kermor höchst zurückgezogen in einem bescheidenen Landhause von Chantenay-sur-Loire, in der Nähe von Nantes. Er empfing keinen Freund mehr und hatte als einzigen Gesellschafter den Sergeanten Martial, der gleichzeitig mit ihm den Dienst im Heere aufgab. Er war nur noch ein unglücklicher Verlassener nach einem Schiffbruche an menschenleerer Küste – nach einem Schiffbruche, der ihm alle irdischen Beziehungen geraubt hatte.

Zwei Jahre später verschwand der Oberst von Kermor gänzlich. Eine Reise vorschützend, verließ er Nantes, und ohne Nachricht über ihn erhalten zu können, wartete der Sergeant Martial vergebens auf seine Rückkehr. Zehntausend Francs Renten, die Hälfte seines Vermögens, hatte er dem ergebenen Waffengefährten zurückgelassen, und dieser bekam sie von dem Notar der Familie pünktlich ausgezahlt. Die andre Hälfte hatte der Oberst von Kermor flüssig gemacht und mitgenommen... wohin?... das sollte vorläufig ein undurchdringliches Geheimniß bleiben.

Die Schenkungsurkunde zu Gunsten des Sergeanten Martial war von einem Schreiben folgenden Wortlautes begleitet:

»Ich sage hiermit ein letztes Lebewohl meinem braven Soldaten, mit dem ich, was mir noch gehört, theilen will. Er suche nicht, mich aufzufinden – es würde verlorene Mühe sein. Ich bin todt für ihn, für meine Freunde,[227] todt für die Welt, so wie alle die Wesen, die ich auf Erden am innigsten geliebt habe.«

Weiter enthielt das Schreiben nichts.

Der Sergeant Martial wollte indeß nicht daran glauben, daß er seinen Oberst niemals wiedersehen sollte. Er veranlaßte mehrfache Schritte, um zu entdecken, in welchem Lande, fern von Allen, die ihn gekannt und denen er ein Lebewohl für immer gesagt hatte, er seine verzweifelte Existenz wohl begraben hätte.

Inzwischen wuchs das kleine Mädchen in der Familie ihrer Adoptiveltern heran. Ein Dutzend Jahre verliefen, ehe es den Eridia's gelang. einige Aufklärung über die Angehörigen des Kindes zu erhalten. Endlich erfuhren sie aber, daß eine Frau von Kermor, die sich damals unter den Passagieren an Bord des »Norton« befunden hatte, die Mutter Jeannes gewesen sei, und daß deren Gatte, der Oberst gleichen Namens, noch lebe.

Das Kind war jetzt zu einem Mädchen von vierzehn Jahren geworden, das sich zu einer reizenden Erscheinung zu entwickeln versprach. Gut unterrichtet, ernsthaft und von lebhaftem Pflichtgefühl beseelt, verrieth sie eine für ihr Alter und Geschlecht ungewöhnliche Willenskraft.

Die Eridia's glaubten sich nicht berechtigt, ihr die zuletzt erhaltenen Nachrichten zu verheimlichen, und von diesem Tage an schien es, als ob eine wirkliche Offenbarung über sie gekommen wäre. Sie hielt sich für berufen, ihren Vater wiederzufinden. Dieser Glaube beherrschte alle ihre Gedanken, er nahm sie so sehr gefangen, daß er eine sichtbare Veränderung ihres ganzen Wesens hervorbrachte. So glücklich sie sich sonst auch fühlte, so liebevoll sie in dem Hause, worin sie ihre Kindheit verbracht hatte, behandelt worden war, lebte sie doch nur noch in dem Gedanken, den Oberst von Kermor aufzusuchen. Bekannt war bisher nur, daß dieser sich in der Bretagne in die Nähe seiner Vaterstadt Nantes zurückgezogen hatte. Nun schrieb man dahin, ob er auch jetzt noch daselbst weile. Wie niederschmetternd lautete für das junge Mädchen aber die Antwort, die sie belehrte, daß ihr Vater schon seit einer Reihe von Jahren spurlos verschwunden sei.

Da erbat sich Fräulein von Kermor von ihren Adoptiveltern die Erlaubniß, nach Europa zu reisen. Sie wollte nach Frankreich, nach Nantes gehen, dort werde es ihr gelingen, die angeblich verloren gegangenen Spuren ihres Vaters zu entdecken. Wo die Bemühungen fremder Personen scheiterten, konnte ja eine[228] Tochter, die sich mehr durch natürlichen Instinct leiten ließ, immer noch Erfolg haben.

Kurz, die Eridia's stimmten, wenn auch ohne einen Funken von Hoffnung, ihrer Abreise zu und verpflichteten sie nur, zurückzukehren, wenn sich ihre Nachforschungen als vergeblich erwiesen. Fräulein von Kermor verließ also Havanna und traf nach glücklicher Ueberfahrt in Nantes ein, wo sie nur den Sergeanten Martial fand, der über das Schicksal seines Oberst noch ebenso im Unklaren war, wie früher.

Nun male man sich die Gemüthsstimmung des alten Soldaten aus, als dieses Kind, das man bei dem Unfalle des »Norton« mit umgekommen glaubte, die Schwelle des Hauses in Chantenay überschritt. Er wollte es erst nicht für wahr halten und mußte es schließlich doch glauben. Die Gesichtszüge Jeannes erinnerten ihn an die ihres Vaters, an seine Augen, an den ganzen Gesichtsausdruck, kurz, an Alles, was man an Aehnlichkeiten durch Bluterbschaft zu sehen gewöhnt ist. So nahm er denn das junge Mädchen gleich einem Engel auf, den ihm sein Oberst aus jener Welt geschickt habe.

Zu jener Zeit hatte er freilich schon jede Hoffnung aufgegeben, zu erfahren, nach welchem Lande sich der Oberst von Kermor in seiner verzweifelnden Trauer geflüchtet hätte.

Jeanne entschloß sich sofort, das väterliche Haus nicht gleich wieder zu verlassen. Das Vermögen, das der Sergeant erhalten hatte und das er ohne Bedenken bereit war, ihr wieder abzutreten, wollten Beide dazu verwenden, erneute Nachforschungen anzustellen.

Vergeblich bemühte sich die Familie Eridia, Fräulein von Kermor zur Rückkehr zu ihr zu bewegen; sie mußte sich schließlich in die Trennung von ihrer Adoptivtochter fügen. Jeanne dankte ihren Wohlthätern für Alles, was diese für sie gethan hatten, und bewahrte die wärmste Erkenntlichkeit für die, die sie vor Ablauf einer langen Zeit voraussichtlich nicht wiedersehen sollte. Für sie war aber der Oberst von Kermor noch am Leben, und das ließ sich vielleicht auch annehmen, da eine Nachricht von seinem Ableben weder dem Sergeanten Martial, noch einem seiner in der Bretagne zurückgelassenen persönlichen Freunde zugegangen war. Sie wollte ihn suchen, wollte ihn auf jeden Fall finden. Der Liebe des Vaters entsprach ganz die Liebe der Tochter, obgleich Beide einander noch niemals gesehen hatten. Es verknüpfte sie das Band der Natur, ein so festes Band, daß nichts es sprengen konnte.[229]

Das junge Mädchen blieb mit dem Sergeanten Martial also in Chantenay. Letzterer hörte, daß sie wenige Tage nach ihrer Geburt in Martinique auf den Namen Jeanne getauft worden war, und er setzte diesen Namen wieder an die Stelle dessen, den sie bei der Familie Eridia geführt hatte. Jeanne lebte bei ihm, stets bemüht, die leisesten Anzeichen zu beachten, die es gestattet hätten, den Spuren des Oberst von Kermor nachzugehen.

An wen sollte sie sich aber wenden, um über den Abwesenden die geringste Nachricht zu erhalten? Der Sergeant Martial hatte ja schon alle Mittel erschöpft, in gleichem Sinne Erkundigungen einzuziehen. Und nun war der Oberst von Kermor obendrein ausgewandert, weil er in der Welt ganz allein dazustehen glaubte. Ach, wenn er hätte wissen können, daß seine aus dem Schiffbruche gerettete Tochter im Vaterhause auf ihn wartete!

Mehrere Jahre vergingen. Kein Lichtstrahl hatte das bisherige Dunkel unterbrochen. Ohne Zweifel hätte den Oberst von Kermor auch ein unergründliches Geheimniß noch weiter verhüllt, wenn es nicht unter folgenden Umständen zu einer unerwarteten Offenbarung gekommen wäre.

Der Leser erinnert sich des Briefes, der, vom Oberst unterzeichnet, 1879 in Nantes eingetroffen war. Dieser Brief kam aus San-Fernando de Atabapo in Venezuela, Südamerika. An den Rechtsanwalt, einen Freund der Familie von Kermor gerichtet, bezog er sich nur auf eine rein persönliche Angelegenheit, die dieser regeln sollte. Gleichzeitig empfahl ihm der Absender darin ernstlich, über das Vorhandensein des Briefes unverbrüchliches Stillschweigen zu bewahren. Der Anwalt schied bereits aus dem Leben, als Jeanne von Kermor sich noch in Martinique befand und als noch niemand wußte, daß sie die Tochter des Oberst war. Erst sieben Jahre darauf wurde der Brief, damals schon dreizehn Jahre alt, unter den Papieren des Verstorbenen gefunden. Da beeilten sich seine Erben, die die Geschichte Jeanne von Kermor's kannten und ebenso wußten, daß sie sich bei dem Sergeanten Martial aufhielt, wie daß sie Alles versucht hatte, auf ihren Vater bezügliche Schriftstücke zu entdecken – ihr von dem Briefe Kenntniß zu geben.

Jeanne von Kermor war inzwischen mündig geworden. Seitdem sie, man könnte sagen, »unter den Mutterflügeln« des alten Waffengefährten ihres Vaters gelebt, hatte sich ihre bei der Familie Eridia erhaltene Ausbildung unter dem sachlichen und ernsten Unterricht, den die neuere Pädagogik bietet, noch wesentlich vervollkommnet.[230]

Da kann man sich wohl vorstellen, von welch unwiderstehlichem Drange sie erfaßt wurde, als jenes Schriftstück in ihre Hände kam – erbrachte es doch den Beweis. daß der Oberst von Kermor 1879 in San-Fernando geweilt hatte. Und wußte man deshalb auch noch nicht, was später aus ihm geworden wäre, so war es doch eine Andeutung, der so ersehnte Hinweis, auf Grund dessen die ersten Schritte zu seiner Aufsuchung unternommen werden konnten Jetzt gingen wiederholt Briefe an den Gouverneur von San-Fernando ab... die Antworten lauteten immer gleichmäßig, daß niemand einen Oberst von Kermor kenne oder sich erinnern könne, daß ein solcher nach dem Orte gekommen sei. Und doch war an der Echtheit des Briefes gar nicht zu deuteln.

Unter diesen Umständen erschien es natürlich am rathsamsten, selbst nach San-Fernando zu gehen, und Jeanne faßte ohne Bedenken den Entschluß, nach jener Gegend am obern Orinoco zu reisen.

Fräulein von Kermor war mit der Familie Eridia in ununterbrochenem Briefwechsel geblieben. So theilte sie den Adoptiveltern auch ihre Absicht mit, sich dahin zu begeben, wo es ihr vielleicht möglich wäre, die ersten Spuren von ihrem Vater wieder zu entdecken, und jene konnten sie, trotz der Schwierigkeiten einer solchen Reise, in ihrem Entschlusse nur bestärken.

Doch wenn Jeanne von Kermor diesen offenbar weitaussehenden Plan entworfen hatte, war damit noch gar nicht gesagt, daß auch der Sergeant Martial ihm zustimmen müßte. Er verwarf ihn vielleicht von Anfang an, widersetzte sich der Ausführung dessen, was Jeanne als Pflicht betrachtete, und erhob Widerspruch schon aus Besorgniß vor den Anstrengungen und Gefahren, denen sie sich in den weltfernen Gebieten Venezuelas aussetzte... Viele Tausend Kilometer zurückzulegen!... Ein junges Mädchen, das sich in ein so abenteuerliches Wagniß stürzte... nur geführt von einem alten Haudegen... denn eines wußte er: wenn sie abreiste, würde er sie selbstverständlich begleiten.

»Und doch hat mein guter Martial zuletzt nachgeben müssen, sagte Jeanne, ihre Mittheilungen beendigend, worin sie den zwei jungen Männern das Geheimniß ihrer Vergangenheit offenbart hatte. Ja, er hat nun zugestimmt, und das mußte er wohl; nicht wahr, mein alter Freund?

– Leider hab' ich genügende Ursache, es zu bereuen, antwortete der Sergeant Martial, da trotz aller Vorsicht...

– Unser Geheimniß entdeckt worden ist! setzte das junge Mädchen lachend hinzu. Nun da bin ich eben nicht mehr Dein Neffe und Du bist nicht[231] mehr mein Onkel. Herr Helloch und Herr Paterne werden davon aber keinem Menschen ein Wort sagen; nicht wahr, Herr Helloch?

– Keinem Menschen, geehrtes Fräulein!

– O, nicht Fräulein, Herr Helloch, beeilte sich Jeanne von Kermor zu widersprechen; die gefährliche Gewohnheit, mich so zu nennen, dürfen Sie gar nicht annehmen. Sie würden mich dabei zuletzt verrathen. Nein... Jean... nur Jean!

– Ja wohl... Jean... ganz kurz, höchstens der Abwechslung wegen: unser lieber Jean, sagte Germain Paterne.

– Und jetzt, Herr Helloch, werden Sie sich auch erklären können, was der gute Martial mir angesonnen hatte. Er wurde mein Onkel, ich sein Neffe. Ich habe mir das Aussehen eines jungen Mannes gegeben, mir das Haar abgeschnitten, und in dieser Weise verändert hab ich mich in Saint-Nazaire nach Caracas eingeschifft. Das Spanische war mir so geläufig wie meine Muttersprache – was im Verlauf der Reise von großem Nutzen sein mußte – und nun bin ich hier in San-Fernando! Wenn ich aber meinen Vater wiedergefunden habe, kehren wir über Havanna nach Europa zurück. Er muß jedenfalls einen Besuch der edelmüthigen Familie abstatten, die so lange seine Stelle an mir vertreten hat und der wir Beide so unendlichen Dank schulden!«

In Jeanne von Kermor's Augen glänzte eine Thräne; sie faßte sich jedoch schnell und fuhr in ihrer Rede fort.

»Nein, lieber Onkel, nein, darüber ist nicht zu klagen, daß unser Geheimniß enthüllt worden ist. Gott hat es gewollt, ebenso wie es sein Wille war, daß wir zwei Landsleute, zwei wohlwollende und ergebene Freunde, unterwegs treffen sollten. Im Namen meines Vaters, meine Herren, danke ich Ihnen aus ganzer Seele für das, was Sie für mich bereits gethan haben und noch zu thun willens sind!«

Das junge Mädchen streckte die Hände Jacques Helloch und Germain Paterne entgegen, die sie mit freundschaftlicher Wärme drückten.

Am nächsten Tage nahmen die jungen Leute, der Sergeant Martial und Jean – diesen Namen legen wir ihm auch ferner für alle erforderlichen Fälle bei – Abschied von den Herren Miguel, Felipe und Varinas, die bereits ihre Vorbereitungen trafen, um die beiden Nebenflüsse, den Guaviare und den Atabapo, mit kritischer Brille zu besichtigen. Die beiden Collegen sahen den jungenMann nicht ohne lebhafte

Besorgnisse, trotz der schützenden Begleitung seiner Landsleute, nach dem Bett des obern Orinoco weiterziehen. Herr Miguel wünschte ihm indessen von Herzen Glück zu dem Erfolg seiner Fahrt.

»Vielleicht finden Sie, liebes Kind, sagte er, uns bei Ihrer Rückkehr hier noch wieder, wenn wir, meine Collegen und ich, über unsre Streitfrage nicht haben einig werden können.«


Sie wurde von unwiderstehlichem Drange erfaßt... (S. 231)
Sie wurde von unwiderstehlichem Drange erfaßt... (S. 231)

Zuletzt verabschiedete sich auch der Gouverneur von San-Fernando und gab den Reisenden Briefe an die Vorstände der wichtigsten, stromaufwärts gelegenen Ortschaften mit; auch Herr Mirabal hatte sich eingestellt, um Jean noch einmal väterlich zu umarmen – und dann schiffte sich die kleine Gesellschaft auf ihren zur Abfahrt bereit liegenden Piroguen ein.

Selbst viele Einwohner des Ortes strömten herbei, der Abreise beizuwohnen. Hochrufe und Glückwünsche begrüßten die beiden Falcas, als sie vom linken Stromufer abstießen. Nachdem sie um die Felsmassen herumgekommen waren, die sich an der Stelle erheben, wo der Atabapo und der Guaviare ihre Fluthen mischen, steuerten sie nach dem Orinoco hinaus und verschwanden bald in der Richtung nach Osten.

Quelle:
Jules Verne: Der stolze Orinoko. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXIII–LXXIV, Wien, Pest, Leipzig 1899, S. 221-233,235.
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