Sechstes Capitel.
Auf dem Verdeck.

[70] Da bin ich endlich in freier Luft, die ich mit Wollust einsauge! Man hat mich aus dem erstickenden Kasten befreit und auf das Deck des Fahrzeugs gebracht. Als ich sofort den Horizont mit dem Blicke musterte, konnte ich nirgends mehr Land sehen... Nichts als die Kreislinie, die Meer und Himmel verbindet.

Nein... vom Festlande im Westen ist keine Spur mehr wahrzunehmen, nichts von der Küste, wo das Uferland Nordamerikas sich auf Tausende von Seemeilen ausdehnt!

Augenblicklich ist die Sonne übrigens im Sinken und sendet nur noch schräge Strahlen auf den unermeßlichen Ocean. Es muß gegen sechs Uhr abends sein. Ich sehe nach meiner Uhr... richtig, sechs Uhr dreizehn Minuten.

In der Nacht zum 17. Juni ist nun Folgendes vorgegangen:

Ich wartete, wie gesagt, darauf, daß die Thür meines Behälters sich öffnen sollte und war fest entschlossen, nicht wieder in Schlaf zu fallen. Ich zweifelte nicht, daß es damals schon wieder Tag wäre, doch verging die Zeit weiter, ohne daß jemand kam. Von dem mir zur Verfügung gestellten Mundvorrath war kaum noch etwas übrig, und ich begann von Hunger zu leiden, wenn auch nicht von Durst, denn ich hatte noch etwas Ale übrig gelassen.

Seit meinem Erwachen bewies mir das leise Zittern des Rumpfs, daß sich das Schiff wieder in Bewegung befand, nachdem es seit dem Abend vorher – wahrscheinlich in einer einsamen Bucht am Ufer – still gelegen haben mochte, denn ich hatte nichts von den Stößen bemerkt, ohne die es beim Vorankerlegen nicht abgeht.

Es war also um sechs Uhr, als hinter der Metallwand des Behälters Schritte hörbar wurden. Wollte jemand eintreten?... Ja. Das Schloß knarrte und knirschte, und die Thür ging auf. Der Schein einer Schiffslaterne verdrängte die Finsterniß, in der ich seit meiner Ueberführung an Bord geschmachtet habe.

Zwei Männer erschienen, die ich näher zu betrachten keine Muße fand. Die beiden Männer packten mich an den Armen und verhüllten mir den Kopf mit einem Stück dichten Stoffes, so daß ich nicht das geringste sehen konnte.[70]

Was bedeutete diese Vorsicht?... Was wollte man mit mir beginnen?... Ich versuchte mich zu wehren. Da hielten sie mich nur noch fester... Ich richtete eine Frage an sie, erhielt aber keine Antwort. Die Leute wechselten nur unter sich ein paar Worte, doch in einer Sprache, die ich nicht verstand und deren Ab stammung ich nicht errathen konnte.

Offenbar machte man mit mir wenig Umstände. Freilich, um eines Narrenwärters willen... warum sollte man sich wegen einer so unbedeutenden Persönlichkeit genieren? Ich weiß indeß nicht, ob sich der Ingenieur Simon Hart einer bessern Behandlung zu erfreuen gehabt hätte.

Diesmal wurde mir der Mund jedoch nicht verschlossen, und auch Arme und Beine blieben ungefesselt. Man begnügte sich damit, mich ordentlich fest zu halten, und entfliehen konnte ich hier ja doch nicht.

Gleich nachher werd' ich aus dem Behälter herausgeschleppt und durch einen sehr engen Gang gestoßen. Dann ertönen unter meinen Füßen die Stufen einer metallnen Treppe. Endlich schlägt mir frische Luft ins Gesicht und ich athme voll Begierde...

Hierauf hebt man mich empor und setzt mich auf einem Fußboden nieder, der diesmal nicht aus Eisenplatten bestand und wohl das Verdeck eines Schiffes sein mußte.

Endlich lassen die Arme, die mich hielten, los. Ich bin nun Herr meiner Bewegungen. Ich reiße das Stück Stoff, das mir den Kopf verhüllt, herab und blicke um mich her...

Ich bin an Bord einer Goelette in voller Fahrt, die einen langen Streifen weißen Kielwassers hinter sich läßt.

Ich mußte eine der Wanten ergreifen, um nicht zu straucheln, so sehr blendete mich das helle Tageslicht nach der achtundvierzigstündigen Einsperrung in völliger Finsterniß.


Ich beuge mich hinaus... sehe nach unten... (S. 75.)
Ich beuge mich hinaus... sehe nach unten... (S. 75.)

Auf dem Decke bewegen sich etwa zehn Leute von ziemlich grob zugeschnittenem Aussehen hin und her. Alle sind sich sehr unähnlich und ich könnte nicht sagen, welcher Nationalität sie angehörten. Uebrigens lassen sie mich ganz unbeachtet.

Was die Goelette angeht, dürfte sie, meiner Schätzung nach, zweihundertfünfzig bis dreihundert Tonnen groß sein. Ziemlich breit gebaut, hat sie recht starke Masten und die große Segelfläche muß ihr bei günstigem Winde eine recht erhebliche Geschwindigkeit verleihen.[71]

Am Hintertheile steht ein Mann mit sonnenverbranntem Gesicht, die Hände an den Griffen des Steuerrades, und hält die Goelette im richtigen Curs.

Ich hätte gern den Namen des Fahrzeugs gelesen, das das Aussehen einer Lustjacht hatte; ich wußte nur nicht, ob dieser neben dem Bug oder am Stern angeschrieben war.

So trete ich an einen der Matrosen heran.

»Welches Schiff ist das?« frag' ich ihn.[72]

Keine Antwort; ich muß wohl annehmen, daß der Mann mich gar nicht verstanden hat.

»Wo ist der Kapitän?« setzte ich hinzu.

Der Matrose giebt auf diese Frage ebensowenig Antwort, wie auf die frühere.

Ich begebe mich nun nach dem Vordertheil der Goelette.

Hier hängt über dem Gestell der Winde eine Glocke. Vielleicht ist in deren Metall ein Name, der Name der Goelette, eingraviert.


Einer packt mich am Arme und nöthigt mich... (S. 76.)
Einer packt mich am Arme und nöthigt mich... (S. 76.)

[73] Nichts dergleichen.

Ich kehre nach dem Hintertheile zurück und wende mich mit einer erneuerten Frage an den Mann am Steuerrade.

Dieser wirst mir einen wenig ermunternden Blick zu, zuckt nur die Achseln und stützt sich fester auf das Rad, um die Goelette, die stark abgewichen war, in ihre Richtung zurückzuführen.

Da fällt mir ein, Umschau zu halten, ob Thomas Roch hier ist... Ich sehe ihn nicht... Sollte er sich gar nicht an Bord befinden?... Das wäre unerklärlich. Warum sollte man aus dem Healthful-House allein den Wärter Gaydon entführt haben?... Kein Mensch daselbst hat ja vermuthen können, daß ich der Ingenieur Simon Hart wäre, und auch wenn man das wußte, welches Interesse hätte jemand daran haben können, sich meiner Person zu bemächtigen, und was könnte man von mir erwarten?...

Da Thomas Roch also nicht auf dem Deck ist, vermuthe ich, er werde in einer der Cabinen des Schiffs eingeschlossen sein. Wenn man ihn nur wenigstens rücksichtsvoller behandelt hat, als seinen frühern Wärter!

Doch halt einmal – daß das mir nicht eher aufgefallen ist! – Wie kommt denn diese Goelette eigentlich vorwärts? Die Segel sind eingezogen, kein Zoll Leinwand ist draußen... der Wind hat sich gelegt... vereinzelte Luftstöße, die von Osten her kommen, sind ihr geradezu hinderlich, da wir in dieser Richtung steuern. Und doch gleitet die Goelette, deren Bug sich leicht hebt und senkt, schnell dahin, so daß der durch das Wasser rauschende Kiel seine Schwimmlinie durch einen langen Schaumstreifen bezeichnet. Bis weit zurück bleibt das wirbelnde Wasserband hinter uns sichtbar.

Das Schiff wäre demnach eine Dampfjacht?... Nein! Zwischen Fock- und Großmast erhebt sich kein Schornstein... Sollte es ein elektrisches Fahrzeug sein, dessen Schraube durch Accumulatoren oder durch mächtige galvanische Batterien in Bewegung gesetzt würde, die ihm eine so beträchtliche Geschwindigkeit verliehen?...

Ich wußte diese Art der Fortbewegung in der That kaum anders zu erklären. Da der eigentliche Treibmechanismus jedenfalls aus einer Schraube bestehen muß, müßte ich diese, wenn ich mich über die Reling hinausbeuge, doch arbeiten sehen und hätte mich nur noch über die Kraftquelle, die sie bewegt, zu unterrichten.

Der Steuermann läßt mich unbehindert an das Achter herantreten, wirst mir jedoch einen ironischen Blick zu.[74]

Ich beuge mich hinaus... sehe nach unten...

Keine Spur von dem Durcheinanderwirbeln, das eine Schraube doch hätte erzeugen müssen. Nur ein oben glattes Kielwasser, das sich drei bis vier Kabellängen weit ausdehnt, ganz ebenso, wie es ein dahin segelndes Fahrzeug hervorbringt. Doch welcher Art ist nun die Kraftmaschine, der die Goelette diese wunderbare Geschwindigkeit verdankt? Ich habe schon gesagt, daß der Wind eher ungünstig stand, und das Meer erhebt sich nur in langen, niedrigen Wogen, die keine Schaumkämme bilden.

Das wird mir nicht unbekannt bleiben, und ohne daß die Mannschaft auf meine Person achtet, begebe ich mich wieder nach dem Vordertheile.

An der Treppenkappe daselbst angelangt, sehe ich mich einem Manne gegenüber, dessen Gesicht mir nicht unbekannt erscheint. Auf den Treppenüberbau gestützt, läßt der Mann mich herankommen... er sieht mich an, als erwartete er, daß ich ihn anreden sollte...

Jetzt entsinn' ich mich. Das ist der Mann, der den Grafen d'Artigas bei seinem Besuche im Healthsul-House begleitete... Ganz sicher... ich kann mich nicht täuschen...

Der reiche Fremdling also ist es, der Thomas Roch entführt hat, und ich befinde mich an Bord der »Ebba«, seiner Jacht, die in den Gewässern des östlichen Amerika so wohlbekannt ist!... Nun gut! Der Mann, der hier vor mir steht, wird mir sagen, was ich zu erfahren ein Recht habe. Ich erinnre mich, daß er, wie der Graf d'Artigas, englisch sprach. Er wird mich verstehen und sich nicht weigern, auf meine Fragen zu antworten.

Meiner Meinung nach muß dieser Mann der Kapitän der »Ebba« sein.

»Herr Kapitän, beginne ich, Sie hab' ich schon im Healthsul, House im Pavillon des französischen Erfinders gesehen. Erkennen Sie mich wieder?«

Er begnügt sich mit einem forschenden Blicke auf mich, würdigt mich aber keiner Antwort.

»Ich bin der Wärter Gaydon, fahre ich fort, der Wärter Thomas Roch's, und ich möchte wissen, warum Sie mich entführt und an Bord dieser Goelette gebracht haben?...«

Mein Gegenüber unterbricht mich durch ein Zeichen, doch richtete er dasselbe nicht an mich, sondern an einige beim Vorderkastell befindliche Matrosen.

Einer davon tritt auf mich zu, packt mich am Arme und nöthigt mich, ohne sich um eine zornige Bewegung, die ich nicht unterdrücken kann, zu[75] bekümmern, die Treppe an der Luke nach den Mannschaftsräumen hinabzusteigen.

Diese Treppe besteht freilich nur aus einer eisernen Leiter, die senkrecht dicht neben der Wand angebracht ist. Auf dem ersten Absatz befindet sich an jeder Seite eine Thür, die die Verbindung zwischen dem Volkslogis, der Wohnung des Kapitäns und andern daran stoßenden Cabinen vermittelt.

Will man mich aufs neue in den finstern Behälter stecken, worin ich mich schon vorher tief unten im Schiffsraum befand?

Die Leute führen mich nach einer links gelegnen Cabine, die durch eine Lichtpforte im Rumpfe erhellt wurde. Der kreisrunde Eisenrahmen ist jetzt aufgeschlagen und läßt reichlich frische Luft eindringen. Die Ausstattung des Raumes bildet ein Lager mit Bettzeug und Decke, ein Tisch, ein Lehnstuhl, eine Toilette und ein Schrank... alles höchst sauber.

Auf dem Tisch stehen Teller u. s. w. für mich. Ich brauche nur Platz zu nehmen, und als der Küchenjunge, nachdem er einige Schüsseln hingesetzt hatte, sich entfernen wollte, richte ich das Wort an ihn.

Wiederum ein Stummer! Es ist ein halber Knabe von Negerrasse, und vielleicht versteht er meine Sprache überhaupt nicht.

Die Thür wird geschlossen; ich esse mit Appetit und verschiebe auf spätre Zeit alle Fragen, auf die man mich doch nicht immerfort ohne Antwort lassen konnte.

Wiederum bin ich Gefangner, diesmal jedoch unter beiweitem angenehmeren Verhältnissen, die sich, wie ich annehmen darf, bis zum Eintreffen an unserm Bestimmungsort schwerlich ändern werden.

Damit überlass' ich mich wieder meinen Grübeleien. Mein erster Gedanke ist: Der Graf d'Artigas war es, der diese Entführungsgeschichte angezettelt hat, er ist der Urheber des Raubes Thomas Roch's, und ohne Zweifel ist der französische Erfinder in einer nicht minder bequemen Cabine an Bord der »Ebba« untergebracht.

Doch wer ist im Grunde jene Persönlichkeit?... Woher kommt der Fremdling? Wenn er sich Thomas Roch's bemächtigt hat, so will er sich doch, es koste was es wolle, in Besitz des Geheimnisses des Fulgurators setzen. Einen andern Grund konnte er zu dem Gewaltact nicht haben. Ich muß mich also hüten, nicht zu verrathen, wer ich bin, denn jede Aussicht auf Wiedererlangung meiner Freiheit würde schwinden, wenn man über meine Person die Wahrheit erführe.[76]

Da giebt es Geheimnisse zu erforschen, Unerklärliches zu erklären... Die persönlichen Verhältnisse dieses Grafen d'Artigas, seine Absichten für die Zukunft, die Richtung, der seine Goelette folgt, ihren Heimathafen, und auch diese Fortbewegung ohne Segel oder Schraube und mit einer Schnelligkeit von mindestens zehn (See-) Meilen in der Stunde zu ergründen...

Endlich, am Abend, dringt ein recht kühler Luftstrom durch die Lichtpforte der Cabine. Ich schließe sie mittelst der Flügelschraube, und da meine Thür von außen verriegelt ist, scheint es mir das beste, mich auf das Lager zu strecken und bei den sanften Bewegungen dieser merkwürdigen »Ebba« angesichts des Atlantischen Oceans einzuschlummern.

Am nächsten Morgen steh' ich frühzeitig auf, mache schnell Toilette, kleide mich an und warte.

Da fällt mir zuerst ein, nachzusehen, ob die Thür jetzt auch noch verschlossen ist.

Nein, das ist nicht der Fall; ich stoße sie auf, klettre die eiserne Leiter wieder hinauf und befinde mich auf dem Verdeck.

Auf dem Hintertheile sind die Matrosen noch mit dem Abwaschen desselben beschäftigt, und zwei Männer – einer davon ist der Kapitän – unterhalten sich mit einander. Der Kapitän erscheint nicht überrascht, mich zu sehen, und macht durch ein Zeichen den andern auf mich aufmerksam.

Dieser Zweite, den ich bisher noch nicht gesehen hatte, war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, mit schwarzem, doch mit einzelnen Silberfäden vermischtem Haar und Bart, von schlanker Gestalt, lebhaftem Auge und intelligentem Gesichtsausdrucke. Er nähert sich dem hellenischen Typus, und ich konnte an seiner griechischen Abstammung nicht länger zweifeln, als ich ihn Serkö nennen hörte – den Ingenieur Serkö, wie der Kapitän der »Ebba« sagte.

Der letztere heißt Spade – der Kapitän Spade – und dieser Name läßt an italienischen Ursprung denken. Also ein Grieche, ein Italiener und eine Mannschaft, die aus allen Winkeln der Erde hergeholt ist, eingeschifft auf einer Goelette mit norwegischem Namen – das alles zusammen muß doch gewiß einen berechtigten Verdacht erwecken.

Und der Graf d'Artigas mit dem spanischen Namen und dem asiatischen Typus... woher stammt dieser?...

Der Kapitän Spade und der Ingenieur Serkö sprechen mit gedämpfter Stimme. Der erstere beobachtet scharf den Mann am Steuer, der sich um die[77] Angaben des Compasses, welcher vor seinen Augen in dem gewöhnlichen »Häuschen« steht, nicht besonders zu kümmern scheint. Er folgt offenbar mehr den Zeichen, die ihm ein Matrose auf dem Vorderdeck giebt und auf die hin er mehr nach Steuerbord oder nach Backbord hin beidreht.

Thomas Roch ist auch da, neben der kleinen Mannschaftswohnung auf dem Verdeck. Er blickt hinaus auf das grenzenlose, verlassne Meer, das am Horizont von keiner Landlinie abgeschlossen wird. Doch konnte man denn bei dem Irrsinnigen nicht auf alles gefaßt sein, sogar daß er sich plötzlich über Bord stürzte?...

Ich weiß nicht, ob es mir gestattet sein wird, mit meinem frühern Pflegebefohlnen aus dem Healthful-House zu verkehren.

Während ich auf ihn zugehe, beobachten mich der Kapitän Spade und der Ingenieur Serkö, lassen mich aber gewähren.

Ich nähere mich also Thomas Roch, der mich nicht kommen sieht, und jetzt steh' ich an seiner Seite.

Thomas Roch sieht nicht aus, als ob er mich erkennte, und rührt sich nicht von der Stelle.

Seine lebhaft, fast unheimlich glänzenden Augen blicken fortgesetzt hinaus in die Ferne. Glücklich, diese belebende, von Salzverdunstung geschwängerte Atmosphäre zu athmen, dehnt sich seine Brust in langen Zügen. Zu dieser an Sauerstoff überreichen Luft kommt noch das Licht einer prächtigen Sonne von wolkenlosem Himmel, in deren Strahlen sich alles rings umher badet. Ob er sich wohl von der plötzlichen Veränderung seiner Lage Rechenschaft giebt?... Sollte er sich an das Healthsul-House, an den Pavillon, den er halb als Gefangener bewohnte, und an seinen Wärter Gaydon schon nicht mehr erinnern?... Das ist höchst wahrscheinlich. Die Vergangenheit ist in seiner Erinnerung ausgelöscht, er lebt nur in der Gegenwart.

Meiner Ansicht nach ist Thomas Roch indeß auch hier an Bord der »Ebba«, inmitten des unendlichen Weltmeers, noch immer derselbe, noch ebenso unberührt von Allem, wie ich ihn fünfzehn Monate lang gepflegt und gesehen habe. Sein Geisteszustand hat sich nicht verändert und die Vernunft leuchtet nur etwas in ihm auf, wenn die Rede auf seine Entdeckungen kommt. Der Graf d'Artigas kennt diese Verhältnisse, die er bei seinem Besuche im Healthsul-House ja durchschauen mußte, und darauf gründet er unzweifelhaft seine Hoffnung, früher oder später hinter das Geheimniß des Erfinders zu kommen.[78]

»Thomas Roch?«... rede ich ihn an.

Meine Stimme erregt ihn, und nachdem er mich einen Augenblick angestarrt hat, schweifen seine Blicke wieder hinaus ins Weite.

Ich ergreife seine Hand und drücke sie leise, er entzieht sie mir aber mit heftiger Bewegung, geht weg, ohne mich erkannt zu haben, und begiebt sich nach dem Hintertheile der Goelette, wo der Kapitän Spade noch mit dem Ingenieur Serkö steht.

Hätte er gar die Absicht, sich an einen dieser Männer zu wenden, und wird er antworten, wenn sie auf ihn sprechen? Mir gegenüber hat er es doch nicht gethan...

In diesem Augenblick leuchten seine Züge wie von einem Blitze erwachender Intelligenz heller auf; seine Aufmerksamkeit ist – ich kann daran gar nicht zweifeln – von der Fortbewegung der Goelette gefesselt.

Wirklich richten sich seine Blicke nach der Takelage der »Ebba«, deren Segel eingebunden sind und die doch schnell durch das ruhige Wasser hingleitet.

Thomas Roch schreitet wieder zurück, geht am Steuerbord hin und kommt nach der Stelle, wo sich ein Schornstein erheben müßte, wenn die »Ebba«eine Dampfjacht wäre, ein Schornstein, dem dann gewiß schwarze Rauchwolken entströmten.

Was mir seltsam vorkam, erscheint Thomas Roch also ebenfalls so. Er vermag sich nicht zu erklären, was auch ich unerklärlich fand, und so wie ich es gethan, begiebt er sich nach dem Achter, um zu sehen, wie die Schraube arbeitet.

An den Seiten der Goelette tummelt sich eine Schaar von Meerschweinen. So schnell die. Ebba-auch fährt, wird es den gelenkigen Thieren nicht schwer, sie zu überholen, und sie spielen, schnellen sich in ihrem natürlichen Elemente auf und überstürzen sich mit wunderbarer Gewandtheit.

Thomas Roch bemerkt sie freilich nicht und folgt ihnen auch nicht mit den Augen, sondern beugt sich über die Reling hinaus.

Sofort eilen der Kapitän Spade und der Ingenieur Serkö, in der Befürchtung, daß er ins Meer fallen könnte, auf ihn zu, halten ihn mit starker Hand und ziehen ihn nach dem Verdeck zurück.

Ich bemerke übrigens – denn ich habe hierin eine lange Erfahrung – daß Thomas Roch verwundert und erregt ist. Er dreht sich um sich selbst, ficht mit den Händen in der Luft herum und murmelt unverständliche Worte, die sich an niemand richten, vor sich hin.[79]

Es ist nur zu deutlich, daß ihm wieder ein Anfall droht, ein Anfall, ähnlich dem, der ihn am letzten im Healthsul-House zugebrachten Abend heimgesucht hatte und dessen Folgen so schrecklich werden sollten. Man wird ihn ergreifen und in seine Cabine hinunter schaffen müssen und wird mich dann rufen, um ihm die specielle Pflege angedeihen zu lassen, die ich ihm gegenüber anzuwenden gewöhnt bin.

Inzwischen verlieren ihn der Kapitän Spade und der Ingenieur Serkö nicht aus dem Auge; wahrscheinlich wollen sie ihn gewähren lassen, und so thut er denn Folgendes:

Nachdem er sich neben den Großmast begeben, dessen Segelwerk seine Blicke vergebens gesucht haben, tritt er ganz dicht heran, schlägt seine Arme darum und versucht ihn herauszuziehen, indem er an der Nagelbank rüttelt.

Die Fruchtlosigkeit seines Bemühens erkennend, versucht er noch einmal am Fockmaste, was ihm am Großmaste mißlungen war. Seine nervöse Erregung steigert sich immer mehr, unarticulierte Schreie folgen den sinnlosen Worten, die ihm entschlüpfen...

Plötzlich stürzt er sich auf die Wanten am Backbord, klammert sich daran an, und ich frage mich, ob er sich nicht hinaufschwingen und bis zur Spitze der Stenge klettern wird...

Doch wenn man ihn nicht zurückhält, läuft er Gefahr, auf das Deck herabzustürzen oder durch eine Schlingerbewegung ins Meer geschleudert zu werden.

Schon springen einige Matrosen auf ihn zu, umfassen ihn, können ihn aber nicht von den Wanten abzerren, so fest halten sich seine Hände daran. Bei einem Anfalle, das weiß ich, sind seine Kräfte verdoppelt, und um seiner Herr zu werden, hab' ich oft noch andre Wärter zu Hilfe nehmen müssen. Diesmal überwältigen die Leute von der Goelette – große, urkräftige Burschen – den unglücklichen Kranken. Thomas Roch wird langsam auf das Deck gelegt, wo ihn zwei Matrosen trotz seines Widerstrebens festhalten.


Wenn ein Segel oder eine Rauchsäule sichtbar wurde... (S. 85.)
Wenn ein Segel oder eine Rauchsäule sichtbar wurde... (S. 85.)

Jetzt gilt es nur noch, ihn in die Cabine hinunter zu bringen und ihm Ruhe zu gönnen, bis der Anfall vorübergegangen ist. Das geschieht denn auch, entsprechend der Anordnung einer andern Persönlichkeit, deren Stimme mir jetzt ans Ohr schlägt.

Ich wende mich um und erkenne den Mann.

Es ist der Graf d'Artigas mit demselben düstern Gesichtsausdruck und befehlerischen Auftreten, wie ich ihn im Healthful-House gesehen habe.[80]

Sofort gehe ich auf ihn zu. Ich muß eine Erklärung bekommen... ich werde sie erhalten.

»Mit welchem Rechte, Herr Graf... beginne ich.

– Mit dem Rechte des Stärkeren,« schneidet der Graf d'Artigas meine Frage ab.

Damit begiebt er sich nach dem Hintertheile, während die Leute Thomas Roch nach seiner Cabine schaffen.[81]

Quelle:
Jules Verne: Vor der Flagge des Vaterlands. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXIX, Wien, Pest, Leipzig 1897, S. 70-82.
Lizenz:

Buchempfehlung

Tschechow, Anton Pawlowitsch

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Das 1900 entstandene Schauspiel zeichnet das Leben der drei Schwestern Olga, Mascha und Irina nach, die nach dem Tode des Vaters gemeinsam mit ihrem Bruder Andrej in der russischen Provinz leben. Natascha, die Frau Andrejs, drängt die Schwestern nach und nach aus dem eigenen Hause.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon