Achtes Capitel.
Auf der Fahrt. – Die Klippe des »Landlord«. – Die »Licorne«-Bai. – Die »Elisabeth« vor Anker. – Auf der Uferhöhe. – Eine öde Gegend. – Das Land im Süden. – Weitere Pläne.

[115] Sobald sie über die enge Wasserstraße hinausgekommen war, glitt die Pinasse über die weite Meeresfläche zwischen dem Cap der Getäuschten Hoffnung und dem Cap im Osten bei schönem Wetter dahin Ueber den mattblauen Himmel zogen leichte Wolken, die die Sonnenwärme milderten.

Der Wind, der um diese Morgenstunde vom Lande her wehte, begünstigte die Fahrt der »Elisabeth«. Erst wenn sie das Cap im Osten hinter sich hatte, konnte sich ihr der Seewind fühlbar machen.

Das leichte Fahrzeug trug jetzt das vollständige Segelwerk einer Brigantine, sogar ein Außenklüversegel und Topsegel an beiden Masten. In dieser Weise glitt es, mit gutem Winde fast von hinten, ein wenig über Steuerbord geneigt dahin. sein Bug durchschnitt das Wasser. das hier ebenso ruhig wie das eines Binnensees war, und es legte gut acht Knoten zurück und zog einen langen Schweif schäumenden Kielwassers hinter sich her.

Auf dem kleinen Verdecke sitzend, drehten sich Frau Zermatt, Frau Wolston und deren Tochter zuweilen um. Ihre Blicke überflogen das wegen der Entfernung sehr niedrig erscheinende Uferland zwischen Falkenhorst und der Landspitze der Getäuschten Hoffnung. Alle freuten sich über das angenehme Auf- und Abwiegen bei der schnellen Fahrt. während ihnen noch ein Lufthauch die Wohlgerüche vom Lande her zutrug.

Welche Gedanken regten sich aber in Betsie. welche Erinnerungen an die verflossenen zwölf Jahre wachten in ihr wieder auf! Sie sah sich noch einmal in jenem, als einziges Rettungsmittel aus leeren Tonnen improvisirten Fahrzeuge, das eine einzige Sturzwelle hätte zum Kentern bringen können, sah sich zusammengekauert in dem gebrechlichen Gefährte, einer unbekannten Küste zutreibend, doch mit allen, die sie liebte, mit ihrem Gatten, ihren vier Söhnen, von denen der jüngste kaum fünf Jahre zählte, und sah im Geiste sich endlich landen, dort an der Mündung des Sckakalbaches, wo auch das erste Zelt errichtet worden war, bevor sie mit den ihrigen nach Falkenhorst und dann nach Felsenheim übersiedelte.[115] Sie erinnerte sich auch ihrer tödtlichen Angst, allemal wenn Zermatt sich mit seinen Söhnen nach dem zertrümmerten Schiffe begab. Und jetzt, auf der wohlausgerüsteten und geschickt geführten, seetüchtigen Pinasse nahm sie ohne jede Furcht an dieser Reise zur Erforschung des Ostens der Insel theil. Welche Veränderungen waren hier obendrein seit etwa fünf Monaten eingetreten, während sich in der nächsten Zukunft noch wichtigere voraussehen ließen.

Der ältere Zermatt bemühte sich, den Wind auszunützen, der mit der zunehmenden Entfernung der »Elisabeth« vom Lande Neigung zum Abflauen zeigte.

Wolston, Ernst und Jack hielten die Schoten in den Händen, um diese nach Bedarf anzuziehen oder schießen zu lassen. Es wäre sehr unangenehm gewesen, vor Erreichung des Caps im Osten, wo dann eine Seebrise wehte, hier von einer Windstille überrascht zu werden.

»Ich fürchte, daß der Wind ganz einschläft, sagte auch Wolston, denn unsere Segel erschlaffen mehr und mehr.

– Ja, das ist zu erwarten, bestätigte der ältere Zermatt. Da er uns aber jetzt noch von rückwärts her trifft, wollen wir das Focksegel mehr nach der einen, das Briggsegel mehr nach der anderen Seite hinausrücken; damit kommen wir doch wohl etwas schneller vorwärts.

– Und das muß uns treffen, wo wir nur noch eine halbe Stunde brauchten, die Landspitze zu umschiffen! bemerkte Ernst.

– Nun, wenn die Brise sich gänzlich legt, sagte Jack, so müssen wir wohl die Riemen einlegen und bis zum Cap hin rudern. Wenn wir zu vieren, Herr Wolston, mein Vater, Ernst und ich, zugreifen, wird die Pinasse, denke ich, auch noch von der Stelle kommen.

– Und wer soll dann das Steuer handhaben, wenn Ihr alle rudert? fragte Frau Zermatt.

– Du, Mutter... oder Frau Wolston... oder auch Annah. Ja, warum nicht Annah? Ich bin überzeugt, daß es sie nicht in Verlegenheit setzen würde, das Ruder wie ein richtiger Seemann von Backbord nach Steuerbord umzulegen.

– Ja, warum denn nicht, antwortete das junge Mädchen lachend, wenigstens, wenn ich nur Jacks Anweisungen nachzukommen habe?

– O, ein Schiff zu führen, erklärte Jack, ist auch nicht schwieriger, als einen Haushalt zu leiten, und die Fähigkeit dazu ist ja allen Frauen angeboren!«[116]

Es wurde indeß nicht nöthig, zu den langen Riemen zu greifen oder sich – was noch einfacher gewesen wäre – von dem Canot schleppen zu lassen. Als die zwei Segel nach beiden Seiten hinaus eingestellt waren, wirkte der diese unmittelbar treffende Wind kräftiger auf die Pinasse, die sich dadurch dem Cap im Osten merkbar näherte. Obendrein deuteten noch einige Anzeichen darauf, daß jenseit des Caps Seewind wehte. Nach dieser Seite zu zeigte das Meer mindestens eine Lieue weiter hinaus einen grünlichen Schimmer. Zuweilen leuchteten kleine, weißräudige Wellen beim Ueberstürzen ihres Kammes heller auf. Die Fahrt ging also in erwünschter Geschwindigkeit weiter, und es war kaum halb neun Uhr, als die »Elisabeth« sich bereits dem Cap gegenüber befand.

Nun wurde die Segelstellung verändert und das kleine Fahrzeug glitt noch schneller, leicht schaukelnd, vorwärts, was übrigens weder dessen männliche, noch dessen weibliche Fahrgäste belästigte.

Da die Brise in gleichmäßiger Stärke anhielt, schlug Zermatt vor, nach Nordosten abzuweichen, um den Klippengürtel zu umschiffen, auf dem der »Landlord« zertrümmert worden war.

»Das ist ja leicht auszuführen, antwortete Wolston, und was mich betrifft, würde ich begierig sein, einmal das Riff zu sehen, wohin der Sturm, soweit außerhalb Ihres Curses zwischen dem Cap der Guten Hoffnung und Batavia, Sie damals verschlagen hatte.

– Ein Schiffbruch, der so zahlreiche Opfer kostete, setzte Frau Zermatt hinzu, während sich ihre Züge bei der Erinnerung an den schrecklichen Unfall verdüsterten. Mein Mann, meine Kinder und ich, wir waren ja die einzigen, die dabei dem Tode entrannen!

– Es hat also, fragte Frau Wolston, nie etwas davon verlautet, daß jemand von der Besatzung aus dem Meere aufgenommen worden wäre oder sich auf die benachbarte Küste gerettet hätte?

– Nach der Aussage des Lieutenants Littlestone, kein einziger, antwortete der ältere Zermatt. Der »Landlord« hat überhaupt lange Zeit als mit Mann und Maus untergegangen gegolten.

– Da war, mischte Ernst sich ein, die Mannschaft des »Dorcas«, auf dem auch Jenny sich befand, doch etwas besser daran, denn von ihr sind wenigstens der Unterbootsmann und zwei Matrosen nach Sydney gebracht worden.

– Ganz recht, bestätigte der ältere Zermatt. Doch vermöchte wohl jemand zu beurtheilen, ob noch andere Ueberlebende vom »Landlord« an einer der[117] Küsten des Indischen Oceans Zuflucht gefunden haben könnten, und ob diese, ebenso wie wir hier in der Neuen Schweiz, nach so langen Jahren noch an derselben Stelle verweilen?

– O, das ist ja nicht unmöglich, rief Ernst, denn unsere Insel liegt kaum dreihundert Lieues von Australien entfernt. Dessen Westküste wird aber von europäischen Schiffen sehr selten angelaufen, und etwaige Schiffbrüchige hätten freilich kaum Aussicht, aus der Gewalt der Eingeborenen zu entkommen.

– Aus allem geht hervor, erklärte Wolston, daß diese Meerestheile sehr gefährlich sind und häufig von Stürmen heimgesucht werden. Binnen weniger Jahre der Verlust des »Landlord«... der des »Dorcas«...

– Gewiß, meinte Ernst; doch vergessen wir dabei nicht, daß die Lage unserer Insel zur Zeit jener Schiffbrüche noch auf keiner Karte angegeben war, und damit erklärt es sich leicht, daß mehrere Fahrzeuge auf den sie umgebenden Klippen zu Grunde gehen konnten. In allernächster Zeit aber wird ihre geographische Lage ebenso genau bestimmt und bekannt sein, wie die aller übrigen Inseln im Indischen Meere.

– Desto schlimmer, rief Jack, ja, desto schlimmer, denn damit wird die Neue Schweiz für alle und jeden zugänglich!«

Die »Elisabeth« segelte jetzt im Westen von der Klippe hin, und da sie sich bisher hatte dicht am Winde halten müssen, um die am weitesten hinausragenden Felsen zu umschiffen, brauchte sie sich jetzt nur in der Richtung des Windes treiben zu lassen.

An der anderen Seite des Riffs wies der ältere Zermatt Herrn Wolston auf den engen Einschnitt hin, in den eine ungeheure Woge einst den »Landlord« geschleudert hatte. Eine Oeffnung, die dicht über der Schwimmlinie des Schiffes erst mittels Axt ausgebrochen und dann durch eine Sprengung erweitert worden war, hatte es ermöglicht, die darin enthaltenen Gegenstände schleunigst zu bergen, bis durch eine spätere Pulverexplosion die völlige Zertrümmerung des Rumpfes herbeigeführt wurde. Vom Schiffe blieb gar nichts auf der Klippe zurück, alles spülte die Fluth nach und nach an die Küste, und zwar ebenso die Theile, die ihrer Natur nach schon von selbst schwammen, wie die anderen, die durch damit verbundene leere Tonnen vor dem Untersinken gesichert worden waren, wie die Kochöfen, die Gegenstände aus Eisen, Blei und Kupfer, und die vierpfündigen Geschütze, von denen jetzt zwei auf der Haifischinsel und zwei in der Nähe von Felsenheim standen.[118]

Längs der Felsen hinsegelnd, bemühten sich die Passagiere, zu erkennen, ob nicht noch andere Trümmer auf dem Grunde des klaren und ruhigen Wassers lägen. Fritz hatte nämlich, als er mit dem Kajak nach der Perlenbucht gekommen war, auf dem Meeresgrunde noch eine Anzahl größerer Kanonenrohre, Kugeln, Lafetten, eine Menge Eisentheile, Bruchstücke eines Schissskiets und eines Spills entdeckt, deren Hebung freilich nur mit Hilfe einer Taucherglocke ausführbar gewesen wäre. Doch selbst im Besitze einer solchen, hätte der ältere Zermatt davon wenig Vortheil gehabt. Augenblicklich war auf dem Meeresboden gar nichts mehr zu sehen; eine Sandlchichi verhüllte, mit langen Algen vermischt, die letzten Trümmer des »Landlord«.

Nach Vollendung der Fahrt um die Klippe steuerte die »Elisabeth« südwärts, um nahe am Cap im Osten vorüberzukommen. Der ältere Zermatt leitete das Fahrzeug mit größter Vorsicht, denn ein Ausläufer des Caps reichte durch den Klippengürtel ziemlich weit ins Meer hinaus.

Dreiviertel Stunden später konnte die Pinasse jenseit dieses Landvorsprunges, der wahrscheinlich den östlichsten Punkt der Neuen Schweiz bildete, der Uferlinie in der Entfernung von einer halben Lieue folgen, wobei sie durch einen Landwind von Nordwesten unterstützt wurde.

Im Laufe dieser Fahrt konnte der ältere Zermatt sich aufs neue überzeugen, welch trostlos öden Anblick die Ostküste der Neuen Schweiz darbot. Kein Baum auf dem steilen Ufer, keine Spur von Pflanzenwuchs an seinem Fuße, kein Bach, der sich über den nackten, verlassenen Strand hinschlängelte... nichts als Gesteinsmassen, die gleichmäßig von der Sonne mürbe gebrannt erschienen. Welch ein Unterschied gegenüber den grünen Ufern der Rettungsbucht und den Landstrecken bis hinaus zum Cap der Getäuschten Hoffnung!

»Wären wir nach dem Scheitern des »Landlord«, äußerte sich darüber der ältere Zermatt, nach dieser Seite der Küste getrieben worden, was wäre dann aus uns geworden und wie hätten wir nur nothdürftig unser Leben sichern sollen?

– Ja, meinte Wolston, da wären Sie eben gezwungen gewesen, weiter ins Innere vorzudringen. Doch auch beim Hinwandern um das Ufer der Rettungsbucht würden Sie ja auf die Stelle gestoßen sein, wo sich anfänglich das Lager von Zeltheim erhob.

– Das ist ja anzunehmen, lieber Wolston, erwiderte der ältere Zermatt, doch um den Preis welcher Anstrengung. und welche Beute der Verzweiflung wären wir in den ersten Tagen gewesen![119]

– Und wer weiß denn, setzte Ernst hinzu, ob unser aus Tonnen gebildetes Floß nicht an den Felsen hier zerschellt wäre? Wie anders dort an der Mündung des Schakalbaches, wo die Landung leicht und gefahrlos stattfinden konnte.

– Der Himmel hat Sie sichtlich begünstigt, liebe Freunde, sagte Frau Wolston.

– Ja, sichtlich, meine beste Merry, antwortete Frau Zermatt, und ich bringe ihm noch jeden Tag meinen Dank dafür dar!«

Gegen elf Uhr erreichte die »Elisabeth« die »Licorne«-Bai, und eine halbe Stunde später ging sie am Fuße eines Uferfelsens, in der Nähe der Stelle, wo die englische Corvette gelegen hatte. vor Anker.

Der ältere Zermatt wollte, mit Zustimmung der anderen, in diesem Winkel der Bai ans Land gehen, hier den Rest des Tages zubringen und am nächsten Morgen mit Tagesanbruch die Fahrt längs der Küste fortsetzen.

Nachdem der Anker gefaßt hatte, wurde der Hintertheil der Pinasse mit einem Sorrtau näher ans Ufer gezogen, und alle betraten den mit festem, seinem Sande bedeckten Strand.

Rings um die Bai erhob sich ein gegen hundert Fuß hohes, aus Kalkstein bestehendes Steilufer, auf dessen Kamm man nur durch eine enge, in seiner Mitte sich öffnende Schlucht gelangen konnte.

Die beiden Familien gingen zunächst auf dem Strandgebiete umher, wo sich noch immer Spuren des früheren Lagers vorfanden. Da und dort zeigten sich noch Fußstapfen im Sande, wo dieser vom Wasser nicht mehr erreicht wurde, Holzreste von den Reparaturarbeiten an der Corvette, die Löcher der Zeltpfähle, einzelne Kohlenstückchen zwischen den Kieseln und selbst noch Asche von den Feuerstätten.

Diese Wahrnehmungen veranlaßten den älteren Zermatt zu folgender, unter den vorliegenden Umständen gewiß treffenden Bemerkung:

»Angenommen, wir besuchten, sagte er, die Ostküste hier heute zum erstenmale und fänden diese noch frischen Spuren einer unzweifelhaft kurz vorher erfolgten Landung, müßten wir dann nicht tief betrübt darüber sein? An dieser Stelle hätte also ein Schiff geankert, seine Besatzung hätte im Hintergrunde der Bai auf dem Lande gelagert, und wir, wir hätten gar nichts davon bemerkt! Und wenn das Schiff darauf diese öde Küste wieder verlassen hatte, konnte dann jemand die Hoffnung hegen, daß es je hierher zurückkehren werde?


Augenblicklich war auf dem Meeresboden gar nichts mehr zu sehen. (S. 119.)
Augenblicklich war auf dem Meeresboden gar nichts mehr zu sehen. (S. 119.)

– Das ist nur zu wahr, meinte Betsie. Doch welchem Umstande verdanken wir es, von der Ankunft der »Licorne« Kunde erhalten zu haben?

– Einem Zufalle, rief Jack, einem reinen Zufalle!

– Nein, mein Sohn, entgegnete der ältere Zermatt, und was auch Ernst darüber gesagt haben mag, wir verdanken das doch unserer Gewohnheit, jedes Jahr zu dieser Zeit die Geschütze auf der Haifischinsel abzufeuern, und auf diese Schüsse hatte die Corvette voriges Jahr mit drei anderen geantwortet.

– Da muß ich mich wohl fügen! gestand Ernst.

– Und welche Unruhe, fuhr sein Vater fort, welche Angst hat uns die darauffolgenden Tage gepeinigt, weil die stürmische Witterung uns verhinderte, nach jener Insel zurückzukehren, um die Signalschüsse zu wiederholen! Welche Furcht hat uns erfüllt, daß das Schiff schon wieder abgesegelt wäre, ehe wir uns mit ihm in Verbindung setzen konnten!

– Jawohl, liebe Freunde, bemerkte Wolston, es wäre für Euch eine bittere Enttäuschung gewesen, überzeugt zu sein, daß ein Schiff in dieser Bai geleg'n hatte, ohne mit ihm in Verkehr getreten zu sein. Meiner Ansicht nach hätten sich dadurch aber Eure Aussichten, von hier wieder weggehen zu können, immerhin wesentlich verbessert.

– Das ist richtig, stimmte ihm Ernst zu, denn unsere Insel war dann nicht mehr unbekannt, da das betreffende Schiff ihre geographische Lage aufgenommen und für deren Eintragung in die Seekarten gesorgt hätte. Später wäre dann doch irgend ein Schiff eingetroffen, um von der Insel Besitz zu nehmen...

– Nun kurz und gut, sagte Jack, die »Licorne« ist hierher gekommen, die »Licorne« ist von uns besucht worden, die »Licorne« ist wieder abgesegelt, die »Licorne« wird auch zurückkehren, und was uns jetzt zu thun obliegt, ist – meine ich...

– Zu frühstücken? fragte Annah Wolston lachend.

– Ganz recht! erwiderte Ernst.

– Nun denn: zu Tische, rief Jack, denn mich hungert dermaßen, daß ich gleich meinen Teller mit verzehren und... jedenfalls auch verdauen könnte!«

Alle waren gern bereit, sich ein Stück weit vom Strande, nahe dem Ufereinschnitte und geschützt vor den Strahlen der Sonne, niederzulassen. Fleischconserven, geräucherter Schinken, kaltes Geflügel, Cassavakuchen und frischgebackenes Brot wurde den Vorräthen der Pinasse entnommen. An Getränk enthielt die[123] Cambüse des Fahrzeuges einige Fäßchen Meth und sogar etliche Flaschen Wein von Falkenhorst, die beim Nachtisch geleert werden sollten.

Nach Herbeischaffung der Nahrungsmittel und des Eßgeschirres richteten Frau Wolston, Frau Zermatt und Annah das Frühstück auf einer feinsandigen, mit ganz trockenem Varec bedeckten Stelle an, und alle aßen sich gehörig satt, um bis zur Hauptmahlzeit am Abend um sechs Uhr bequem aushalten zu können.

Freilich, nur ans Land zu gehen, sich wieder einzuschiffen, einen anderen Punkt der Küste anzulaufen und ihn ebenso wieder zu verlassen, das wäre der Mühen dieser Fahrt nicht werth gewesen. Das Gebiet des Gelobten Landes bildete jedenfalls doch nur den allerkleinsten Theil der Neuen Schweiz.

Nach Beendigung der Mahlzeit begann Wolston denn auch:

»Diesen Nachmittag schlage ich vor, zu einem kleinen Marsche ins Innere zu verwenden.

– Und ohne eine Minute zu verlieren! rief Jack. Wir sollten jetzt eigentlich schon eine gute Lieue von hier weg sein.

– Na, na! Vor dem Frühstücke hätten Sie nicht in dieser Weise gesprochen, spöttelte Annah lächelnd, denn Sie haben doch mindestens für Vier gegessen...

– Ja, ich bin aber auch bereit, viermal so viel Weg als andere zurückzulegen, antwortete Jack, selbst bis ans Ende der Welt, natürlich unserer kleinen Welt, zu gehen.

– Wenn Du uns aber so weit davonläufst, liebes Kind, würden wir Dir unmöglich folgen können. Weder Frau Wolston oder Annah, noch Deine eigene Mutter könnten es wagen, Dich zu begleiten.

– Ja, setzte der ältere Zermatt hinzu, ich weiß kaum noch, was ich anfangen soll, die stürmische Ungeduld unseres Jack zu zügeln. Es giebt nichts, was ihn zurückhalten könnte! Ich glaube sogar, Fritz entwickelte nie so viel...

– Fritz? wiederholte Jack. Muß ich denn nicht danach trachten, ihn nach jeder Richtung hin zu ersetzen? Wenn er zurückkommt, wird er doch nicht mehr derselbe sein, wie vor der Abreise.

– Und warum denn nicht? fragte Annah.

– Weil er dann verheiratet, Familienvater, vielleicht, wenn er lange zögert, Papa oder gar Großpapa ist...

– Wo denken Sie hin, Jack? ließ sich Frau Wolston vernehmen. Fritz und Großvater nach nur einjähriger Abwesenheit!

– Na... Großvater oder nicht... verheiratet ist er dann doch.[124]

– Warum sollte er deshalb aber nicht mehr der alte sein? fragte Annah.

– Lassen Sie Jack nur reden, liebe Annah, antwortete Ernst. Die Reihe, ein vortrefflicher Ehemann zu sein, wird auch an ihn kommen...

– Ebenso wie an Dich, Brüderchen, sagte darauf Jack mit einem Seitenblicke auf Ernst und das junge Mädchen. Was mich betrifft, sollte es mich wundernehmen, denn ich glaube von der Natur eigens zum Onkel geschaffen zu sein... zum besten aller Onkel... zum Onkel der Neuen Schweiz! So viel ich weiß, handelt es sich aber heute nicht darum, in hochzeitlichem Gewande vor dem Felsenheimer Standesbeamten zu paradiren, sondern ein gutes Stück über dieses Steilufer hinauszudringen.

– Ich meine, bemerkte Frau Wolston, Frau Zermatt, Annah und ich, wir thäten am besten, während Eueres vielleicht bis zum Abende andauernden und gewiß ermüdenden Ausfluges ruhig hier zu bleiben. Der Strand ist ja völlig verlassen und wir haben keinen schlimmen Besuch zu befürchten Uebrigens wäre es ja auf jeden Fall leicht, an Bord der Pinasse zu gelangen. Laßt Ihr uns hier an der Lagerstelle zurück, so habt Ihr wenigstens keinen Aufenthalt, keine Verzögerung zu befürchten.

– Ich, meine liebe Merry, sagte der ältere Zermatt, glaube zwar auch, daß Ihr hier in vollkommener Sicherheit wäret, und doch würde es mich beunruhigen, Euch ganz allein zu wissen.

– Nun gut, schlug Ernst vor, ich wünsche nichts mehr, als auch zurückzubleiben, während...

– Aha, schnitt ihm Jack das Wort ab, da guckt unser Gelehrter heraus. Zurückbleiben, um die Nase in ein paar alte Schmöcker stecken zu können! Ich wette, er hat ein oder zwei Bände irgendwo in der Pinasse versteckt. Gut also; er mag hier bleiben, doch unter der Bedingung, daß Annah mit uns geht.

– Und Frau Wolston und Deine Mutter ebenfalls, setzte der ältere Zermatt hinzu. Alles erwogen, ist das besser. Sie mögen, wenn sie müde sind, Halt machen...

– Und dann mag ihnen Ernst Gesellschaft leisten, rief Jack hell auflachend.

– Versäumen wir keine Zeit mehr, mahnte Wolston. Das Schwierigste wird es sein, dieses Steilufer, dessen Höhe ich zu hundert bis hundertfünfzig Fuß veranschlage, zu erklimmen. Glücklicherweise scheinen die Seitenwände des Einschnitts nirgends besonders steil zu sein, so daß man ohne Gefahr nach der[125] Hochfläche gelangen kann. Einmal da oben, werden wir ja sehen, was dann zu thun ist.

– Vorwärts also, vorwärts!« trieb Jack voll Ungeduld.

Vor dem Aufbruche untersuchte der ältere Zermatt noch die Haltetaue der »Elisabeth«. Er überzeugte sich, daß das Fahrzeug auch bei tiefster Ebbe nicht bis zum Grunde sinken und bei der höchsten Fluth nirgends an Felsen stoßen könnte.

Die kleine Gesellschaft wandte sich nun dem schluchtartigen Einschnitte zu. Natürlich führten die Männer jeder ein Gewehr, Kugeln, ein Pulverhorn und auch von Jack angefertigte Kugel- und Schrotpatronen mit sich. Der jagdlustige Jack hoffte stark darauf, einiges Wild zu erlegen oder vielleicht gar ein bekanntes oder unbekanntes Raubthier in diesem Theile der Neuen Schweiz zur Strecke bringen zu können.

Braun und Falk sprangen schweifwedelnd voraus. Die andern folgten ihnen eine schräg verlaufende Art Pfad hinauf, dessen Windungen seine Steilheit milderten. In der Regenzeit mochte der Einschnitt wohl als Abfluß für das von der Höhe herabstürzende Wasser dienen. Jetzt aber, im vollen Sommer, war dieses Wildbett ganz trocken. Da der Weg aber zwischen Felsblöcken hinführte, die durch Störung ihrer Gleichgewichtslage herunterzupoltern drohten, verlangte der Aufstieg doch einige Vorsicht.

Infolge vieler Umwege bedurfte es einer vollen halben Stunde, ehe die Höhe des Steilufers erreicht wurde. Der erste, der oben anlangte, war – das kann ja nicht wundernehmen – der ungeduldige Jack.

Nach Westen hin dehnte sich hier vor ihm eine weite Ebene bis über Sehweite hinaus.

Jack machte erstaunt Halt. Er drehte und wendete sich nach verschiedenen Seiten, bis Wolston zu ihm herangekommen war.

»Das ist ja ein ganzes Land! rief er. Welche Ueberraschung und doch welche Enttäuschung!«

Diese Ansicht theilten alle, als sie nach und nach das Plateau erreicht hatten.

Frau Wolston, Frau Zermatt und Annah hatten sich am Fuße eines Steinblocks niedergesetzt. Nirgends zeigte sich ein Baum, der Schutz vor den sengenden Sonnenstrahlen geboten hätte, nirgends ein Fleckchen Rasen, worauf man sich hätte hinstrecken können. Der steinige, da und dort mit erratischen Blöcken bestreute Erdboden, auf dem jeder Pflanzenwuchs unmöglich war, zeigte[126] sich nur hier und da mit dürftigem Moose bedeckt, das keine Humusschicht zu seinem Gedeihen brauchte. Man hätte, was hier vor Augen lag, wie der ältere Zermatt auch sagte, eine Wüstenei des Steinichten Arabiens an der Grenze des fruchtbaren Gebietes des Gelobten Landes nennen können.

Ja, ein erstaunlicher Unterschied gegenüber der Gegend zwischen dem Schakalbache und dem Cap der Getäuschten Hoffnung, gegenüber dem Landstriche jenseit des Passes der Cluse, dem schönen Grünthale und der nächsten Umgebung der Perlenbucht. Dabei erinnerte man sich unwillkürlich der Worte der Frau Zermatt: was aus der schiffbrüchigen Familie hätte werden sollen, wenn das Tonnenfloß hier an die östliche Küste getrieben worden wäre.

Von dem Steilufer aus bis zu der zwei Lieues im Westen schimmernden Rettungsbucht flog der Blick also über eine völlig wüste Gegend ohne Grün, ohne Bäume, ohne jeden Wasserlauf. Auch kein vierfüßiges Thier war hier zu erspähen, selbst die Seevögel schienen das unwirthliche Gebiet zu meiden.

»Hiermit ist unser Ausflug ja schon zu Ende, erklärte der ältere Zermatt, wenigstens auf diesem Theile unserer Insel.

– Ja freilich, stimmte ihm Wolston bei, und es er scheint mir ganz nutzlos, sich einer brennenden Sonnengluth auszusetzen, nur um ein steinichtes Land zu besichtigen, mit dem doch niemals etwas anzufangen ist.

– Wie launisch und erfindungsreich ist doch die Natur! bemerkte Ernst. Wie liebt sie es, Gegensätze zu erschaffen! Da unten entwickelt sie all ihre productive Kraft... hier tritt uns die entsetzlichste Unfruchtbarkeit entgegen.

– Da ist es wohl das beste, meinte Frau Zermatt, nach dem Strande zurückzukehren und gleich wieder an Bord zu gehen.

– Das ist auch meine Ansicht, schloß Frau Wolston sich ihr an.

– Nun ja, sagte Jack, doch nicht vor einer Ersteigung der höchsten Felsenspitze, die, wie Sie sehen, dort aufragt.«

Er zeigte dabei nach einer Steinmasse hin, die sich links von ihnen gegen sechzig Fuß über den Erdboden erhob. In kaum fünf Minuten hatte er deren Gipfel erreicht. Als er sich dann nach allen Seiten umgewendet hatte, rief er Wolston, seinem Vater und seinem Bruder zu, ihm nachzufolgen. Da er mit der Hand unausgesetzt nach Südosten wies, ließ sich wohl daraus entnehmen, daß er irgend etwas besonderes entdeckt hatte.

Mit einiger Anstrengung waren Wolston und der ältere Zermatt bald zu ihm hinaufgestiegen.[127]

In der erwähnten Richtung zeigte das Gelände neben der Küste allerdings ein völlig anderes Aussehen.

Zwei Lieues von der »Licorne«-Bai endigte das sich plötzlich senkende Steilufer an einer breiten Thalmulde, die höchstwahrscheinlich einer der Hauptflüsse der Insel bewässerte. Auf der Rückseite dieser Bodensenke dehnten sich die grünen Massen dichter Wälder aus. In deren Zwischenräumen und weiter hinaus zeigte das Land eine üppige Vegetation, so weit man es nach Süden und Südosten hin übersehen konnte. Der völlig unfruchtbare Theil schien sich auf ein Gebiet von fünf bis sechs Quadratlieues zwischen dem Cap im Osten und der Rettungbucht zu beschränken. Wenn überhaupt eine Gegend genauerer Besichtigung werth war. so war es ohne Zweifel die, die sich den Blicken der Colonisten jetzt zum erstenmale darbot. Gewiß barg sie manche Ueberraschung, versprach sie mancherlei Vortheile, wenn um ihretwillen auch keiner das Gelobte Land würde vergessen können.

»Brechen wir dahin auf! trieb Jack.

– Ja, vorwärts!« mahnte auch Wolston, schon bereit, in der Richtung nach dem neuen Thale abzugehen.

Zwei tüchtige Lieues aber auf einem mit Geröll bedeckten Boden, wobei der Weg sich überdies vielfach zwischen größern Felsblöcken hinwand, mußten offenbar eine geraume Zeit beanspruchen, von der Strapaze und der auf dieser kahlen Hochfläche nahezu gefährlichen Sonnenhitze gar nicht zu reden.

Der ältere Zermatt hielt es deshalb für seine Pflicht, die Ungeduld Wolston's und Jacks zu zügeln.

»Nicht noch heute, wendete er ein, der Tag ist schon zu weit vorgeschritten. Wir wollen bis morgen warten. Statt diese Gegend zu Fuß zu durchmessen, begeben wir uns dann auf dem Wasserwege dahin. Das Thal, das wir da draußen sehen, läuft jedenfalls an einem Ufereinschnitte aus, an einer Bucht, in die ein Fluß münden dürfte. Findet die Pinasse dort einen guten Ankerplatz, so wollen wir gern ein oder zwei Tage daransetzen, uns das Innere recht gründlich anzusehen.«

Das war ein kluger Vorschlag, dem auch niemand widersprach.

Nach einer kurzen, letzten Umschau stiegen die Herren Zermatt und Wolston mit Jack wieder hinunter und meldeten, was sie beschlossen hatten. Die auf den nächsten Tag verschobene Untersuchung versprach unter Umständen zu verlaufen, die ohne Gefahr und Mühe eine Betheiligung aller gestatten.[128]

Jetzt blieb nur übrig, den Pfad nach dem Passe wieder hinabzugehen, und dann bedurfte es nur weniger Minuten, den Fuß des Steilufers zu erreichen.


 »Das ist ja ein ganzes Land!« rief er. (S. 126.)
»Das ist ja ein ganzes Land!« rief er. (S. 126.)

Mangelte es nun am Strande der »Licorne«-Bai – zum größten Leidwesen Jacks – an jagdbarem Wild, so wimmelte es doch – zur größten Befriedigung Ernsts – von Fischen im Wasser und von Krustenthieren zwischen den Klippen. Mit Hilfe Annahs legte er mehrere Netze aus und machte auch einen reichlichen Fang. Zur Hauptmahlzeit gab es infolge dessen eine tüchtige[129] Schüssel großer Krabben mit wohlschmeckendem Fleische und gebackene Seezunge vorzüglichster Art.

Nach Beendigung des Essens lustwandelte die kleine Gesellschaft noch eine Zeit lang am Strande auf und ab, und gegen neun Uhr waren alle Fahrgäste der »Elisabeth« wieder an Bord zurückgekehrt.

Quelle:
Jules Verne: Das zweite Vaterland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXVII–LXXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1901, S. 115-121,123-130.
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