[130] Am folgenden Tage war es des älteren Zermatt erste Sorge, den Horizont nach Osten hin prüfend zu besichtigen. Hinter einer leichten Dunstwand, die sich voraussichtlich bald auflöste, stieg, vergrößert durch die Strahlenbrechung, der Sonnenball in vollem Glanze herauf und verkündete einen prächtigen Tag. Nichts deutete auf eine Veränderung der Wetterlage, auf irgend welche atmosphärische Störung hin. Seit drei oder vier Tagen behauptete sich schon ein ziemlich gleichbleibender hoher Stand der Barometersäule. Die Luft enthielt keine Feuchtigkeit und war nur durch den darin schwebenden leichten Staub etwas weniger durchsichtig. Die ziemlich frische Brise wehte stetig aus Norden. Das Meer blieb dabei bis auf eine Lieue vom Lande so gut wie ganz ruhig. Die Pinasse konnte ihre Fahrt längs der Küste also in voller Sicherheit fortsetzen.
Um sechs Uhr, wo sich schon alle auf dem Verdeck befanden, wurden die Haltetaue losgeworfen. Unter dem Focksegel, der Brigantine und den Klüversegeln treibend, glitt das kleine Fahrzeug nach Umschiffung der Landspitze ins freie Meer hinaus, wo es noch besser in den Wind kam. Eine halbe Stunde später folgte die »Elisabeth« mit dem Bug nach Süden und von Wolston gesteuert, den Windungen der Küste immer in der Entfernung von etwa zehn Kabellängen, so daß man auch die kleinsten Einzelheiten von den Einschnitten des Strandes bis zum Kamme der felsigen Steilküste genau erkennen konnte.
Einer Schätzung nach, mußte das im Süden gesehene Thal gegen vier bis fünf Lieues von der »Licorne«-Bai entfernt liegen, und zwei bis drei Stunden[130] genügten jedenfalls, diese Strecke zurückzulegen. Die Fluthwelle, die schon kurz vor Sonnenaufgang eingesetzt hatte, verlief in der nämlichen Richtung und hatte wahrstheinlich den höchsten Stand gerade erreicht, wenn die »Elisabeth« an ihrem Ziele eintraf. Dann sollte entschieden werden, was man, entsprechend der Natur der Oertlichkeit und sonstigen Umständen, beginnen wollte.
Zu beiden Seiten der »Elisabeth« tummelten sich spielend flüchtige Schaaren prächtiger Störe, von denen manche sieben bis acht Fuß maßen. Obgleich Jack und Ernst gern einige davon harpunirt hätten, konnte ihr Vater ihnen das doch nicht gestatten, da die Fahrt dadurch unnöthigerweise unterbrochen und verzögert worden wäre. Mit Makrelen und Seedrachen, die im Weiterfahren gefangen werden konnten, lag das anders. Mittels nachgeschleppter Angelschnüren wurden denn auch einige Dutzend dieser vortrefflichen Fische erlangt, die in Salzwasser gekocht beim nächsten Halteplatze aufgetischt werden sollten.
Das Aussehen der Küste änderte sich vorläufig nicht. Diese zeigte eine ununterbrochene Reihe hoher Kalkstein- oder Granitwände, die sich unten im Sande verloren und viele Aushöhlungen aufwiesen, worin das Meer furchtbar dröhnen und rauschen mußte, wenn ein Sturmwind von der Seeseite her die Wellen hineinjagte. Das trostlos öde Ufer machte auf alle einen recht traurigen Eindruck.
Als man jedoch weiter nach Süden kam, wurde es daran schon lebhafter, da hier ganze Völker von Fregattenvögeln, Meerschwalben, Möven und Albatrosse mit betäubendem Geschrei umherschwärmten und sich auch zuweilen bis auf Schußweite näherten.
Da mußte sich Jack freilich straffe Zügel anlegen, seine Jagdlust wäre aber doch vielleicht Siegerin geblieben, wenn ihn Annah nicht um Schonung der unschuldigen Vögel gebeten hätte.
»Und unter diesen Albatrossen, bemerkte sie, befindet sich vielleicht auch der unserer Jenny. Welcher Kummer für sie, Jack, wenn Sie jetzt gerade dieses arme Thier tödteten!
– Annah hat recht, ließ Ernst sich vernehmen.
– Immer recht, erwiderte Jack, und ich verspreche hiermit, niemals auf einen Albatros zu schießen, ehe nicht der Bote vom Rauchenden Felsen wieder aufgefunden worden ist.
– Soll ich Ihnen sagen, fuhr Annah fort, was ich mir denke?
– Ei natürlich, ich bitte darum, sagte Jack.[131]
– Nun, ich denke, daß wir diesen Albatros noch eines Tages wiedersehen dürften...
– Freilich, freilich, weil ich ihn nicht getödtet haben werde!«
Gegen neun Uhr befand sich die Pinasse der Bodensenke, die durch das plötzliche Zurückweichen des Steilufers nach dem Innern zu gebildet wurde, schon fast gegenüber. Der Kamm der Küste begann sich zu erniedrigen. Weniger steile Wände verbanden diese mit dem Sande des äußeren Strandes, dafür lagen im Wasser desto mehr Klippen, die zuweilen bis auf zwei Kabellängen weit hinausreichten. Die »Elisabeth« näherte sich dem Lande mit größter Vorsicht. Ueber den Bug hinausgebeugt, beobachtete Wolston aufmerksam das Wasser jeden verdächtigen Wirbel darin und jede Veränderung seiner Farbe, kurz, alles was die Nähe einer Klippe vermuthen ließ.
»Sapperment, rief da plötzlich Jack, nun soll wenigstens niemand mehr sagen, daß die Küste hier verlassen sei! Da drüben sieht man ja merkwürdige Gestalten in großer Zahl!«
Alle wandten den Blick nach dem Strande und den Felsen dahinter, wo Jacks scharfes Auge lebende Wesen in großer Menge erkannt haben wollte.
»Erkläre Dich doch deutlicher, sagte seine Mutter. Du siehst dort Menschen... vielleicht Wilde...?«
Frau Zermatt verstand darunter Angehörige der grausamen indo-malaiischen Urbevölkerung, die sie mit Recht ernstlich fürchtete.
– Nun, so antworte doch, Jack, drängte sein Vater.
– Beruhigt Euch, beruhigt Euch nur! rief Jack. Von menschlichen Wesen hab' ich ja nicht gesprochen. Wenn die da drüben zwei Beine haben, so haben sie doch auch Federn!
– Also sind es wohl Fettgänse? fragte Ernst.
– Oder Pinguine... wie Du willst.
– Darin kann man sich täuschen, Jack, antwortete Ernst, weil beide Vogelarten in der Ordnung der Schwimmpsötter einander sehr nahe stehen.
– Sagen wir also, um Euch unter einen Hut zu bringen, bemerkte der ältere Zermatt, sie gehören beide zu den Gänsen... ein Name, der sich durch ihre Beschränktheit genügend rechtfertigt.
– Und gerade deshalb hat man sie zuweilen für Menschen angesehen, bemerkte Jack.
– Sie Spottvogel! rief ihm Annah zu.[132]
– O, nur aus größerer Ferne, setzte der ältere Zermatt hinzu. Betrachtet nur ihren von weißen Federn umgebenen Hals. die kurzen Flügel, die wie kleine Arme herabhängen, ihren aufrecht stehenden Kopf, ihre schwarzen Füße und die schnurgeraden Reihen, die sie gewöhnlich bilden. Man glaubt da, eine Truppe in Uniform vor sich zu sehen. Erinnert Ihr Euch, Kinder, wie zahlreich diese Fettgänse früher auf den Felsen an der Mündung des Schakalbaches vorkamen?
– Gewiß, versicherte Ernst; ich seh' es auch noch heute, wie Jack sich mitten unter die Gesellschaft stürzte, wie er bis zum Gürtel im Wasser stand und so tapfer um sich schlug, daß er ein halbes Dutzend Fettgänse mit dem Stocke erlegte.
– Ganz richtig, bestätigte Jack; und da ich jener Zeit erst acht Jahre alt war, habe ich später etwa nicht gehalten...
– Jawohl, Du hast, was Du versprachst, gehalten! bezeugte ihm sein Vater lächelnd. Die Vögel aber, die wir so unfreundlich behandelt hatten, flohen darauf bald die Ufer der Rettungsbucht und haben dann offenbar auf dieser Küstenstrecke Zuflucht gesucht.«
Ob aus diesem oder einem anderen Grunde, thatsächlich hatten die Pinguine oder Fettgänse, gleich in den ersten Monaten nach Einrichtung der Wohnstätte in Felsenheim, die Ufergebiete der Bucht gänzlich verlassen.
Bei der Weiterverfolgung des Ufers kam die »Elisabeth« sehr nahe an ausgedehnten Untiefen vorüber, wo bei Tiefebbe die salzigen Essloreszensen auf dem Grunde trocken liegen mußten. Hier fanden von den späteren Colonisten gewiß Hunderte Beschäftigung als Salzarbeiter, und die ganze Bevölkerung konnte dann das so nothwendige Gewürz aus dieser reichen Quelle beziehen.
Vom Fuße des Steilufers, das mit einem scharfen Winkel endigte, lief noch eine lange, unterseeische Landzunge aus. Die Pinasse mußte sich deshalb auch eine gute halbe Lieue vom Strande entfernt halten. Als sie später wieder nach der Küste zu einbog, steuerte sie geraden Weges auf die Ausbuchtung zu, wo das Thal mündete, das von den Höhen neben der »Licorne«-Bai gestern schon gesehen worden war.
»Ein Fluß!... Da ist ein Fluß!« rief Jack, der nach der Flechting des Fockmastes hinaufgestiegen war.
Als darauf der ältere Zermatt den betreffenden Theil des Uferlandes mittels Fernrohres betrachtete, zeigte sich ihm folgendes:
Rechts stieg hinter einer scharfen Biegung die Böschung des Steilufers nach den Abhängen des Innern hinaus. Links endigte die Küste mit einem ziemlich[133] weit, mindestens drei bis vier Lieues, draußen liegenden Landvorsprünge, das Land selbst aber prangte im Grün von natürlichen Wiesen und von Wäldern, die bis zum äußersten Horizonte wie terrassenartig hinter einander lagen. Zwischen den erwähnten zwei Punkten breitete sich die Bucht aus, ein natürlicher Hafen, der durch felsige Wälle gegen die gefährlichen Ostwinde geschützt war und zu dem die Zufahrtsstraßen leicht passirbar zu sein schienen.
Fast in der Mitte mündete ein von schönen Bäumen beschatteter Fluß mit klarem, ruhigem Wasser. Dieser schien auch schiffbar zu sein, und sein Bett wendete sich, so weit man es von hier aus erkennen konnte, nach Südwesten zu.
Einen schöneren Ankerplatz konnte es für die Pinasse kaum geben. Sie wurde also einer dahin führenden Wasserstraße gerade gegenüber gebracht und ihr Segelwerk auf die Brigantine und ein Klüversegel vermindert; damit glitt sie nun langsamer mit Steuerbordhalsen dicht vor dem Winde hin. Die Fluth war immer noch eine Stunde lang im Steigen und begünstigte ihre Fortbewegung. Das Meer brandete jetzt nirgends; bei Tiefebbe freilich mochte es sich wohl an den dann freiliegenden Klippen heftiger brechen.
Natürlich wurde keine Vorsichtsmaßregel vernachlässigt. Der ältere Zermatt am Steuer, Wolston und Ernst zum Auslugen auf dem Vordertheile und Jack auf einer Stenge reitend, so behielten alle die Fahrstraße im Auge, durch die die »Elisabeth« einsegeln sollte. Frau Zermatt saß nebst Frau Wolston und deren Tochter erwartungsvoll auf dem Verdecke. Niemand sprach ein Wort unter der doppelten Einwirkung der Neugierde und einer unklaren Unruhe bei der Annäherung an dieses noch völlig unbekannte Land, das jetzt ohne Zweifel zum erstenmale von Menschen betreten werden sollte. Die Stille wurde nur durch das Plätschern des Wassers längs der Schiffswände unterbrochen, durch das gelegentliche Killen (d. i. Flattern) der Segel oder einen Zuruf Jacks und durch das Geschrei von Meerschwalben oder Möwen, die erschreckt nach den Uferfelsen der Bucht entflohen.
Es war um elf, als der Anker niedersank, und zwar zur Linken der Mündung, nahe einer Art natürlichen Quais, der eine bequeme Landung gestattete. Ein wenig weiter rückwärts boten große Palmen hinreichenden Schutz gegen die Strahlen der jetzt nahe ihrer Mittagshöhe stehenden Sonne. Nach einem hier verzehrten Frühstücke sollte dann ein Ausflug zur Besichtigung des Innern unternommen werden.[134]
Wir brauchen wohl kaum zu erwähnen, daß die Flußmündung hier sich ebenso verlassen erwies, wie die Mündung des Schakalbaches, als die Schiffbrüchigen das Land daselbst zum erstenmale betraten. Es schien als ob hier noch niemals ein Menschenfuß gewandelt wäre. An Stelle eines schmalen, vielfach gewundenen und unschiffbaren Rio zeigte sich hier aber ein wirklicher Fluß, der wenigstens bis zur Mitte des Inselgebietes hineinreichen mochte.
Jack sprang aus Land, sobald die »Elisabeth« nahe genug herangekommen war, und legte sie längs der Felsen an, indem er das Fahrzeug mittels eines an dessen Hintertheil befestigten Seiles schleppte. Das Canot brauchte man hier also zum Landen nicht zu benutzen, und bald standen alle am Ufer versammelt. Zunächst wurden Mundvorräthe nach der schattigen Stelle unter der Baumgruppe geschafft, denn alle verspürten einen gewaltigen Appetit, der durch die mehrstündige Fahrt in freier Seeluft nur noch verschärft worden war.
Das Essen – und wenn es auch etwas gierig vor sich ging – schloß aber doch den Austausch von Fragen und Antworten nicht aus. Da fielen mancherlei Bemerkungen und darunter folgende, die von Herrn Wolston ausging:
»Ist es nicht zu bedauern, daß wir nicht lieber am rechten Ufer des Flusses gelandet sind? An der Seite hier ist das Land niedrig, während es auf der anderen in dem Seitenwalle des Steilufers wohl hundert Fuß emporragt...
– Und mir würde es ein Leichtes gewesen sein, dessen Kamm zu erklimmen, erklärte Jack. Von dort aus würden wir mindestens eine weite Aussicht über das Land gehabt haben.
– Nun, über den Landeinschnitt hier können wir mit dem Canot ja jede Minute hinwegkommen, antwortete der ältere Zermatt. Ist Ihr Bedauern denn wirklich berechtigt, lieber Wolston? Am jenseitigen Ufer sehe ich weiter nichts als Stein und Sand, an der Grenze des öden Gebietes, das sich vom Cap im Osten bis nach der Bucht hier ausdehnt. Auf unserer Seite dagegen giebt es grünes Laub, Bäume und Schatten und weiter hinaus das Gebiet, das wir von der See aus sehen konnten und dessen Ersorsthung keine Schwierigkeiten bieten kann. Nein, meiner Ansicht nach konnten wir keine bessere Wahl treffen.
– Und wir stimmen dem auch zu, nicht wahr, Herr Wolston? sagte Betsie.
– Ja, ich füge mich, Frau Zermatt, vorzüglich auch, da wir ja nach Belieben auf das rechte Ufer übersetzen können.
– Ich möchte sogar behaupten, erklärte Frau Wolston, daß wir uns hier so wohl fühlen...[135]
– Daß Sie gar nicht wieder von hier fortgehen möchten, fiel Jack ein. Gut also! Abgemacht! Wir geben Felsenheim und Falkenhorst auf. überhaupt das ganze Gelobte Land, und gründen an der Mündung dieses prächtigen Flusses die zukünftige Hauptstadt der Neuen Schweiz!
– Aha, Jack ist schon im Durchgehen! bemerkte Ernst.
Doch abgesehen von seinen Spässen, ist es nicht zu bestreiten, daß die Wichtigkeit dieses Wasserlaufes und die Tiefe der Bucht an seiner Mündung für die Anlage einer Colonie mehr Vortheile bieten, als die Mündung unseres Schakalbaches. Zunächst freilich gilt es, die Gegend hier in hinreichender Ausdehnung zu besichtigen und nachzuweisen, daß sie nicht von mancherlei gefährlichen Raubthieren bevölkert ist...
– Das heißt: als Weiser sprechen, sagte Annah Wolston.
– Wie wir das von Ernst gewöhnt sind, ließ sich sein Bruder vernehmen.
– Jedenfalls, setzte der ältere Zermatt hinzu, wird es keinem von uns, so schön und reich das Land hier auch sein mag, einfallen, das Gelobte Land aufzugeben.
– Gewiß nicht, bestätigte Frau Zermatt, ein solcher Verzicht würde mir das Herz brechen.
– Ich verstehe Sie, meine liebe Betsie, sagte darauf Frau Wolston, und was mich betrifft, würde ich mich niemals entschließen können, Sie zu verlassen, um hier zu wohnen.
– Nun, nun, mischte sich Wolston selbst ein, davon ist auch gar nicht die Rede, sondern nur von einem Ausfluge, der nach dem Frühstück unternommen werden soll.«
Da alle mit dieser Erklärung übereinstimmten, schlossen sie sich auch den letzten Vorschlage Wolston's bereitwilligst an. Dessen Gattin, seine Tochter und Frau Zermatt hätten freilich lieber von der Theilnahme an dem voraussichtlich anstrengenden Ausfluge abgesehen.
»Ich möchte Euch, sagte da der ältere Zermatt nach einiger Ueberlegung, doch nicht an dieser Stelle, nicht einmal für wenige Stunden allein wissen, und Du, Betsie, erinnerst Dich gewiß, daß ich mich niemals entschlossen habe, aus Felsenheim wegzugehen, ohne es der Obhut eines unserer Söhne anzuvertrauen. Was sollte in unserer Abwesenheit im Falle einer Gefahr aus Euch werden? Nein. ich könnte keinen Augen blick ruhig sein! Es wird sich ja nach Wunsch einrichten lassen, denn warum sollten wir, da der Fluß schiffbar erscheint, ihn nicht alle zusammen hinauf fahren?
– Mit dem Canot? fragte Ernst.
– Nein, mit der Pinasse, die ich auch nicht ohne Wächter hier zurücklassen möchte.
– Ganz richtig, meinte Betsie, und wir sind dann alle drei bereit, Euch zu begleiten.
– Wird denn die »Elisabeth« gegen die Strömung aufkommen können? fragte noch Frau Wolston.[139]
– Wir könnten uns eine uns günstige Strömung zu nutze machen, erklärte der ältere Zermatt, wenn wir den Wiedereintritt der Fluth abwarten. Die Ebbe muß bald eintreten und nach sechs Stunden hätten wir dann den Vortheil...
– Ja, wäre es dann aber nicht schon zu spät, noch aufzubrechen? warf Frau Wolston ein.
– Freilich, schon etwas sehr spät, gab der ältere Zermatt zu. Es erscheint mir deshalb rathsamer, heute hier zu bleiben, die Nacht an Bord zu verbringen und morgen gleich bei Tagesanbruch mit der neuen Fluth abzufahren.
– Und was beginnen wir bis dahin? fragte der thatenlustige Jack.
– Bis dahin, antwortete sein Vater, hätten wir genügend Zeit, die Bucht und ihre nächste Umgebung zu besichtigen. Da es aber schon recht heiß ist, dürfte es sich empfehlen, daß die Damen unsere Rückkehr hier am Platze abwarten.
– Sehr gern, antwortete Frau Wolston, doch unter der Voraussetzung, daß Sie sich nicht zu weit von hier entfernen.
– O, es handelt sich ja nur um einen Spaziergang am linken Ufer, von dem wir nicht abweichen werden,« versprach der ältere Zermatt, der immer darauf hielt, in der Nachbarschaft des Lagerplatzes zu bleiben.
Infolge dieses Beschlusses gewann man also einen Einblick in das tiefliegende Thal, ehe man in dessen Inneres wirklich eindrang.
Die Herren Zermatt und Wolston setzten demnach mit Jack und Ernst über den Fluß und bestiegen am anderen Ufer die mäßigen Anhöhen, die den Wasserlauf im Westen mit dem übrigen Lande verbanden.
Wie es schon von der See aus erkannt worden war, zeigte das gegenüberliegende Gebiet ein sehr fruchtbares Aussehen: Wälder, deren Laubmassen bis über Sehweite hinausreichten, Ebenen mit üppigem Graswuchs, wo Tausende von Wiederkäuern Nahrung gefunden hätten, ein ganzes Netz von Rios, die dem Flusse zuströmten, und endlich, gleich einer Barrière am südwestlichen Horizonte, die Bergkette, die schon früher gesehen worden war.
»Was jenen Höhenzug betrifft, begann der ältere Zermatt, muß ich zugestehen, daß er weniger entfernt ist, als wir geglaubt haben, als wir ihn zum erstenmale von den Höhen neben dem Grünthale erblickten. Damals ließ ihn wohl nur ein Dunstvorhang so bläulich erscheinen, daß ich seine Entfernung auf fünfzehn bis zwanzig Lieues schätzte. Das war eine optische Täuschung. Ernst wird sie wohl zu erklären wissen.[140]
– Gewiß, Vater; an jenem Tage haben wir die Strecke bis dahin für doppelt so groß gehalten, als sie thatsächlich ist. Wenn wir die Entfernung jener Berge auf sieben bis acht Lieues von Grünthal schätzen, dürfte das der Wahrheit sehr nahe kommen.
– Ich theile diese Ansicht, sagte Wolston, nur bleibt die Frage offen, ob es wirklich dieselbe Bergkette ist.
– Es ist dieselbe, versicherte Ernst; ich glaube auch nicht, daß die Neue Schweiz so groß sein könne, noch eine andere von gleicher Ausdehnung aufzuweisen.
– Warum denn nicht? erwiderte Jack. Warum sollte unsere Insel nicht die Ausdehnung Siciliens, Madagascars, Neuseelands oder gar Neuhollands haben?
– Und warum nicht gar die eines wirklichen Festlandes? rief Wolston lachend.
– Sie scheinen damit sagen zu wollen, entgegnete Jack, daß ich die Neigung hätte, alles zu übertreiben...
– Da versuche nur gar nicht, Dich weiß zu brennen, mein Junge, ermahnte ihn der ältere Zermatt. Alles in allem ist es ja doch nur ein Zeugniß für Deine leicht erregbare Phantasie. Es ist aber zu bedenken, daß unsere Insel, wenn sie die von Dir vorausgesetzte und wohl auch gewünschte Größe hätte, schwerlich bis heute der Aufmerksamkeit der Seefahrer entgangen wäre...
– Der der Alten und der Neuen Welt, setzte Ernst hinzu. Ihre Lage in diesem Theile des Indischen Oceans ist eine gar zu vortheilhafte, und wenn sie vorher entdeckt worden wäre, unterläge es auch keinem Zweifel, daß zum Beispiel England...
– Thun Sie sich keinen Zwang an, lieber Ernst, sagte Wolston launigen Tones. Wir anderen Engländer, wir sind Coloniengründer und haben das angeborene Verlangen, alles zu colonisiren, was sich dazu eignet...
– Kurz, setzte der ältere Zermatt hinzu, von dem Tage der Entdeckung unserer Insel an, wäre diese ohne Zweifel auf den Karten der Admiralität eingetragen worden und man hätte sie jedenfalls Neu-England und nicht die Neue Schweiz genannt..
– Jedenfalls, erklärte Wolston, hat sie durch die Verzögerung nichts verloren, da Sie, der erste Besitznehmer, das Land an Großbritannien überlassen haben...
– Und möchte die »Licorne«, setzte Jack hinzu, uns die Annahme dieses Angebotes bringen!«[141]
Der ältere Zermatt hatte jedenfalls recht, die jener nach Südwesten verlaufenden Bergkette zugeschriebene Entfernung zu berichtigen. Von der Mündung des Flusses aus konnte die Strecke bis dahin, allem Anscheine nach eine gleich große wie vom Grünthal aus, sieben bis acht Lieues kaum überschreiten. Dabei fragte es sich nun blos, ob sie sich in der Mitte der Insel oder neben deren südlichen Küste erhöbe.
War das erst klargestellt, so sah sich Ernst auch in der Lage, eine vollständige Karte der Neuen Schweiz zu entwerfen. Dieser so natürliche Wunsch rechtfertigte gewiß den Vorschlag Wolston's, das Land bis zum Fuße jener Berge zu durchstreifen und selbst die Anhöhen zu ersteigen. Dieser Plan konnte freilich nur nach Wiedereintritt der schönen Jahreszeit ausgeführt werden.
Die bisher besuchten Theile der Insel hatte Ernst natürlich schon möglichst genau gemessen und auf einer Karte eingetragen. Das nördliche Ufer hatte danach zwölf Lieues Länge; im östlichen Theile bildete es eine ziemlich regelmäßige Linie vom Cap im Osten bis zum Eingange zur Rettungsbucht; weiterhin dehnte sich die genannte Bucht in Gestalt eines Schlauches aus, mit dem sie die felsige Küste zwischen dem Strande bei Falkenhorst und dem Cap der Getäuschten Hoffnung berührte; von diesem Punkte und nach Westen hin breitete sich die Nautilusbucht aus, die, mit dem Cap Camus endigend, den Ostfluß aufnahm; darauf folgte endlich, einen weiten Bogen beschreibend, die große Perlenbucht zwischen dem sogenannten Bogengewölbe und dem ihm gegenüber aufragenden Vorgebirge, und von diesem, im Südwesten vier Lieues entfernt, der Rauchende Berg. Ueber das auf der einen Seite vom Meere, auf der anderen von der Nautilusbucht begrenzte Gebiet des Gelobten Landes, das auf der Rückseite von einer langen Umwallung vom engen Eingange der Rettungsbucht bis zur Nautilusbucht umschlossen wurde, konnte man also auf anderem Wege als durch den Paß der Cluse nicht hinausdringen. Dieser gegen vier Quadratlieues messende Landstrich umfaßte den Schakalbach, den Rio von Falkenhorst, den Schwanensee, die Wohnstätten Falkenhorst und Felsenheim, die Meiereien von Waldegg und Zuckertop, sowie die Einsiedelei. Eberfurt.
Die Ausflügler folgten immer nur dem Ufer des Wasserlaufes, von dem sich der ältere Zermatt auf keinen Fall entfernen wollte. Ernst kam das übrigens sehr gelegen.
»Nach unserer Rückkehr, sagte er zu seinem Vater, werde ich den Lauf eines Theiles dieses Flusses und somit auch das von ihm bewässerte Thal[142] aufzeichnen können. Bei der überraschenden Fruchtbarkeit dieses uns neuen Landstriches ist es ganz unzweifelhaft, daß unsere Insel hinreichen würde, mehrere tausend Colonisten zu ernähren.
– Oho, gleich so viele! rief Jack, der seine Unzufriedenheit, daß »sein zweites Vaterland« einmal so stark bevölkert sein könnte, gar nicht zu verhehlen sachte.
– Ich möchte auch voraussagen, fuhr Ernst fort, daß zukünftige Colonisten – da eine Stadt großen Vortheil von der Lage an einer Flußmündung hat – sich jedenfalls werden im Hintergrunde dieser Bucht ansiedeln wollen...
– Was wir ihnen auch nicht verwehren würden, fiel der ältere Zermatt ein, denn niemals würde sich einer von uns entschließen, das Gelobte Land zu verlassen.
– Und besonders auch, weil Frau Zermatt dem nicht zustimmen würde, wie sie ja ausdrücklich erklärt hat, bemerkte dazu Wolston.
– Die Mutter hat recht, rief Jack. Und dann fragt nur noch unsere wackeren behaarten und gefiederten Diener, fragt Sturm, Brummer, Rasch und Blaß, fragt Brüll, Pfeil, Flink und Knipp den Zweiten, sowie Leichtfuß, Brausewind, auch Türk, Braun und Falb, die mit hier sind, ob sie wohl auswandern wollten. Man verleihe ihnen nur Stimmrecht, veranstalte eine Abstimmung über diese Frage, und ich weiß, da sie die Majorität bilden, welche Entscheidung aus der Urne hervorgehen würde!
– Na, beruhige Dich nur, Jack, meinte der ältere Zermatt, wir werden nicht in die Lage kommen, unsere Thiere darum befragen zu müssen...
– Thiere, die aber nicht so dumm sind, wie dieser Name glauben lassen könnte!« erwiderte Jack, der durch seine Worte und Bewegungen die beiden jungen Hunde zum lustigen Umherspringen veranlaßte.
Gegen sechs Uhr waren Zermatt und seine Begleiter wieder am Lagerplatze eingetroffen, nachdem sie noch längs der Küste auf deren Strande mit einem Hintergrunde harziger Bäume hingegangen waren. Die Mahlzeit wurde auf dem Grase eingenommen und die Theilnehmer daran labten sich an gebackenen Gründlingen, die sich im süßen Wasser des Flusses an den Angelschnüren gefangen hatten, welche Ernst für Annah zurecht gemacht hatte. Der Fluß schien sehr fischreich zu sein, und in den vielen Rios, die weiter oben in diesen mündeten, wimmelte es von Krebsen, von denen man sich noch einige Dutzend vor der Abfahrt einzufangen versprach.[143]
Nach dem Essen hatte offenbar niemand Eile, an Bord der Pinasse zurückzukehren, und nur wegen Mangels an einem Zelte mußte man dem Wunsche, gleich auf dem Strande zu schlafen, schließlich doch entsagen. Es war aber auch ein herrlicher Abend. Ein leichte, mit den Wohlgerüchen vom Lande, wie mit den Dämpfen aus einer Räucherpfanne, beladene Brise erfrischte die Atmosphäre. Nach einem unter der Glut der Tropensonne verbrachten Tage war es ein Hochgenuß, diese erquickende, belebende Luft mit vollen Zügen einzuathmen.
Alle Anzeichen versprachen die Fortdauer der schönen Witterung. Draußen am Horizonte lagerte eine leichte Dunstwand. Der in den höheren Luftschichten schwebende atmosphärssche Staub milderte das Leuchten der Sterne. Die kleine Gesellschaft lustwandelte hier- und dorthin und plauderte von den Plänen für den nächsten Tag. Gegen zehn Uhr erst begaben sich alle auf die »Elisabeth« zurück und suchten ihre Lagerstätten auf, letzteres nur Ernst nicht, dem die erste Wache zugefallen war.
Eben als alle unter dem Verdecke verschwinden wollten, machte Frau Zermatt noch eine nicht unbeachtet zu lassende Bemerkung.
»Ihr habt doch etwas vergessen, sagte sie.
– Vergessen, Betsie? fragte ihr Gatte.
– Jawohl, nämlich dem Flusse hier einen Namen zu geben.
– Da hast Du recht, stimmte ihr der ältere Zermatt zu, und dieses Versehen würde unseren Ernst bei Aufstellung seines geographischen Namensverzeichnisses nicht wenig in Verlegenheit setzen.
– Ei nun, schlug Ernst vor, da liegt uns ja ein gewisser Name sehr nahe... Nennen wir also den Fluß nach unserer Annah...
– Recht so, Ernst, rief Jack. Das wird Ihnen Vergnügen machen, Annah, nicht wahr?
– Ganz sicherlich, antwortete das junge Mädchen. Ich möchte aber lieber einen anderen Namen vorschlagen, der dieser Ehre würdiger wäre.
– Nun also, welchen denn? fragte Frau Zermatt.
– Den der Familie unser lieben Jenny!«
Alle stimmten dem gern zu, und von diesem Tage ab gab es auf der Karte der Neuen Schweiz auch den Montrose-Fluß.[144]
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