[335] Bisher schon ernster als je, drohte die Lage sich jetzt noch weiter zu verschlimmern. So lange sich die Unglücklichen, wenn auch den Gefahren des Meeres ausgesetzt, noch in dem Fahrzeuge befanden, hatten sie doch Aussicht, von einem Schiffe aufgenommen zu werden oder ein Land zu erreichen. Ein Schiff war ihnen nicht begegnet. Ein Land hatten sie zwar gefunden, das erwies sich aber als fast unbewohnbar, und doch mußten sie jetzt auf alle Hoffnung verzichten, es verlassen zu können.[335]
»Wären wir freilich, so äußerte sich John Block gegen Fritz, von einem derartigen Sturme auf offenem Meere überrascht worden, so läge die Schaluppe mit uns jetzt tief unten auf dem Grunde!«
Fritz erwiderte kein Wort, und unter einer Sündfluth von Regen und Hagel flüchtete er zu Jenny, Doll und Suzan, die in ängstlicher Sorge in der Grotte saßen.
Dank deren Richtung und Lage am Winkel des Vorberges, war das Wasser nicht in sie hineingedrungen.
Gegen Mitternacht, als der Regen aufgehört hatte, häufte der Obersteuermann eine Menge trockenes Seegras, das er aus Vertiefungen am Steilufer geholt hatte, nahe am Eingang der Höhle an. Bald loderte ein lebhaftes Feuer in die Höhe, an dem die vom Regen und Wellenschlag durchnäßten Kleidungsstücke getrocknet wurden.
Während der größten Heftigkeit des Unwetters stand der ganze Himmel stets in Flammen. Erst als die Wolken weiter nach Norden abzogen, milderte sich das furchtbare Rollen des Donners. So lange die Bucht aber noch von fernen Blitzen erleuchtet wurde, vermehrte sich eher noch die Gewalt des Sturmes, der die hohen, schäumenden Wogen über den Strand hinaustrieb.
Mit dem Tagesgrauen traten die Insassen der Höhle wieder ins Freie. Zerrissene Wolken jagten über den Kamm der hohen Felswand dahin; die niedrigsten davon schienen fast an deren Rande hinzustreichen. In der Nacht hatte diesen der Blitz an zwei oder drei Stellen getroffen, das verriethen noch viele große Sprengstücke, die unten am Steilufer lagen. Nirgends aber zeigte sich ein Spalt oder ein Riß, durch den man nach dem oberen Plateau hätte emporklimmen können.
Harry Gould, Fritz und John Block besichtigten, was von dem Fahrzeuge noch übrig geblieben war. Das bestand aus dem Maste, dem Fock- und dem Klüversegel, dem Takelwerk nebst den Rollen und Flaschenzügen, ferner aus dem Steuer, dem kleinen Anker und seiner Kette, den Rudern, den Planken der Bänke und den Trinkwasserfässern. Die meisten dieser mehr oder weniger beschädigten Gegenstände ließen sich gewiß noch irgendwie verwerthen.
»Das Unglück hat uns recht grausam heimgesucht! sagte Fritz. Hätten wir jetzt nur die armen Frauen – drei Frauen und ein Kind – nicht bei uns! Welches Los wartet ihrer auf diesem Uferlande, das wir nun nicht mehr verlassen können!«
Franz verhielt sich, trotz seines innigen Gottvertrauens, jetzt schweigend... er wußte wohl selbst nicht, was er hätte sagen sollen.
John Block legte sich inzwischen die Frage vor, ob der Sturm die Schiffbrüchigen – diesen Namen verdienten sie wohl – nicht noch schlimmer geschädigt habe. Er befürchtete, der Wogenschwall könnte auch die Schildkröten vernichtet und ihre Eier aus den flachen Gruben im Sande weggeschwemmt haben. Welch unersetzlicher Verlust, wenn diese, fast einzige Nahrungsquelle versiegt war![339]
Der Obersteuermann winkte Franz zu sich heran und raunte ihm einige Worte zu. Dann überkletterten beide den Vorberg und begaben sich nach der jenseitigen Uferstrecke, um diese bis zu dem Hügel an ihrem Ende zu besichtigen.
Während der Kapitän Gould, Fritz und James über den Strand hin nach dem westlichen Vorberge gingen, nahmen Jenny, Doll und Suzan ihre gewohnte Beschäftigung wieder auf: die Ordnung und Besorgung des Haushaltes, wenn man in der gegebenen Lage von einem solchen reden kann. Der kleine Bob spielte in kindlicher Unbefangenheit im Sande und wartete höchstens darauf, daß seine Mutter ihm ein Stück in siedendem Wasser erweichten Schiffszwieback bringen sollte. Welch verzweifelnde Angst erfüllte dagegen Suzan bei dem Gedanken an das Elend und die Entbehrungen, denen ihr Kind jedenfalls nicht gewachsen sein würde.
Nachdem sie im Innern der Höhle alles in Ordnung gebracht hatten, gesellten sich Jenny und Doll wieder zu Frau Wolston, mit der sie in recht trüber Stimmung plauderten...
Konnten sie von etwas anderem sprechen, als von ihrer seit gestern so arg verschlimmerten Lage? Doll und Suzan, die noch trostloser zu sein schienen, als die junge Frau, wagten kaum, sich die Zukunft auszumalen, und ihre Augen füllten sich mit heißen Thränen.
»Was soll nun aus uns werden? sagte Suzan.
– Vor allem laßt uns das Vertrauen bewahren, antworte Jenny, und uns bemühen, die Männer nicht zu entmuthigen.
– Es ist nun aber, fuhr Doll fort, ganz unmöglich, von hier wegzugehen. Wenn dann gar erst die schlechte Jahreszeit kommt...
– Dir, liebe Doll, unterbrach sie Jenny, wiederhole ich ebenso wie Suzan, daß den Muth zu verlieren, zu gar nichts führt.
– Wer könnte hier noch die leiseste Hoffnung hegen? rief Frau Wolston, die einer Ohnmacht nahe war.
– Und doch, Du mußt es... es ist Deine Pflicht! sagte Jenny. Denk' an Deinen Mann, an James, dem Du das Herz zerreißen wirst, wenn er Dich weinen sähe!
– Du bist stark, Jenny, meinte Doll, Du hast schon einmal gegen schweres Unglück gekämpft... doch wir...
– Ihr? antwortete Jenny Vergeßt Ihr denn, daß der Kapitän Gould und Fritz, daß Franz, James und John Block ihr möglichstes thun werden, alle zu retten?[340]
– Was werden sie aber thun können? fragte Suzan.
– Das weiß ich jetzt noch nicht. Suzan. Sie werden aber Erfolg haben, wenn wir ihre Kraft nicht dadurch lähmen, daß wir uns der Verzweiflung überlassen.
– Mein Kind... mein Kind!« murmelte die arme Mutter, die ihre Seufzer fast erstickten.
Ganz bestürzt, seine Mutter weinen zu sehen, machte Bob große Augen.
Da zog ihn Jenny an sich und nahm ihn auf die Knie.
»Deine Mutter hat sich geängstigt, mein Herzchen, sagte sie. Sie rief nach Dir und Du gabst keine Antwort, und dann... Du spieltest doch im Sande, nicht wahr?
– Ja, antwortete Bob, mit dem Schiffe, das mir der gute Onkel Block gebaut hat. Ich wollte aber auch ein hübsches weißes Segel dazu haben, daß es fortschwimmen könnte. Da im Sande ist eine ganze Menge Löcher mit Wasser drin, darauf wollte ich es setzen. Tante Doll hat versprochen, mir ein Segel zu machen...
– Jawohl, mein kleiner Bob, das sollst Du auch noch heute bekommen, sagte Doll.
– Dann lieber zwei Segel, fuhr das Kind fort, zwei, wie die von der Schaluppe, auf der wir hierher gefahren sind.
– Natürlich, zwei, antwortete Jenny. Tante Doll wird Dir ein schönes Segel machen, und ich nähe Dir auch eines.
– Danke, danke, Tante Jenny, rief Bob in die Hände klatschend. Wo ist denn aber unser großes Schiff? Ich sehe es ja gar nicht mehr.
– Das ist... ist zum Fischfang ausgefahren, erklärte Jenny. Es wird schon bald wiederkommen und schöne, zappelnde Fische mitbringen. Du hast ja übrigens Dein Schiffchen, das vom Onkel Block...
– Ja, ich werde ihm aber doch sagen, daß er mir noch ein anderes baut, eines, worin ich fahren kann, auch mit Papa und Mama... mit Tante Doll und Jenny und mit allen anderen!«
Der arme Kleine! Er sprach in seiner Unschuld aus, was jetzt am meisten noth that: der Ersatz der Schaluppe; doch wie war dieser möglich?
»Geh, spiele nur weiter, mein Schatz, sagte Jenny, lauf' aber nicht zu weit davon!
– Nein, ganz hier in der Nähe, Tante Jenny!« versprach der Kleine.[341]
Dann umarmte er seine Mutter und lief in kindlicher Fröhlichkeit hinweg.
»Meine liebe Suzan, meine beste Doll, nahm Jenny wieder das Wort, Gott kann es nicht wollen, daß dieses herzige Kind nicht gerettet werde. Nein, das kann er nicht wollen... und seine Rettung ist doch auch die unsere!... Ich bitte Euch: keine Schwäche, keine Thränen! Vertraut auf die gütige Vorsehung, wie ich es immer gethan habe.«
Die Worte der muthigen Jenny kamen ihr wirklich aus dem Herzen, als eine Eingebung ihrer unerschrockenen Seele, die sie niemals verzweifeln ließ. Kam die rauhe Jahreszeit heran, ohne daß sie diese Küste hatten verlassen können – und daran war, ohne daß sie zufällig von einem Schiffe aufgenommen würden, gar nicht zu denken – so mußten sie sich eben auf eine Ueberwinterung einrichten. Die Grotte würde gegen schlechtes Wetter Schutz bieten; die Masse dürrer Seepflanzen lieferte genug Heizmaterial, wenn es zu kalt wurde, Fischfang und Jagd versprachen, die Ernährung aller zu sichern... unter diesen Umständen war doch einige Hoffnung zu bewahren.
Zunächst war es wichtig zu wissen, ob die Befürchtungen John Block's wegen der Chelidonier gerechtfertigt wären. Nein... zum Glück nicht. Nach einer Stunde kehrten der Obersteuermann und Franz zurück und brachten die gewohnte Menge von Schildkröten, die während des Unwetters unter dem Seegras Schutz gefunden hatten, leider aber kein einziges Ei mit heim.
»Sie werden schon wieder Eier legen, die braven Thiere, meinte John Block, und werden sich des Vertrauens würdig zeigen, das wir in sie setzen!«
Alle mußten bei den Scherzworten des Obersteuermanns unwillkürlich lächeln.
Bei ihrem Gange bis zum anderen Vorberge hatten der Kapitän Gould, Fritz und James sich überzeugt, daß es unmöglich war, anders als zu Wasser um diesen herum zu kommen. Dort gieng, einmal in dieser und dann in entgegengesetzter Richtung, eine sehr starke Strömung. Selbst bei stillem Wetter hätte die heftige Brandung jedem Boote eine Annäherung verhindert, und der beste Schwimmer wäre weit ins Meer hinaus getrieben worden oder schon zwischen den Uferblöcken verunglückt.
Die Nothwendigkeit, das Oberland des Steilufers auf andere Weise zu erreichen, machte sich jetzt also mehr als je geltend.
»Was nun? sagte da eines Tages Fritz, der voller Ungeduld an der unersteigbaren Wand emporblickte.[342]
– Aus einem Gefängniß mit tausend Fuß hohen Mauern gibt es kein Entweichen, antwortete James.
– Wenigstens, wenn man nicht die Mauer durchbricht, meinte Fritz.
– Durchbrechen... diese Granitmasse, die vielleicht noch dicker ist als hoch? bemerkte James.
– Wir können aber doch nicht für immer in diesem Gefängniß bleiben! rief Fritz in ohnmächtiger Wuth, die er nicht zu bemeistern vermochte.
– Sei geduldig und habe Vertrauen, ermahnte ihn Franz, der seinen Bruder zu beruhigen sachte.
– Geduld... die kann ich wohl haben, erwiderte Fritz, doch Vertrauen...«
Worauf hätte sich dieses Vertrauen auch gründen, diese Zuversicht stützen sollen? Rettung konnte ihnen nur winken, wenn zufällig ein Schiff in der Nähe vorbeikam. Doch selbst wenn das der Fall war, blieb es unsicher, ob es die Signale bemerken würde, die ihm der Obersteuermann durch das Entzünden eines Feuers auf dem Strande oder der Spitze des östlichen Vorberges zu geben gedachte.
Vierzehn Tage waren schon verstrichen, seit die Schaluppe hier gelandet war, und mehrere Wochen vergingen weiter ohne jede Aenderung der Sachlage. Bezüglich der Nahrung sahen sich der Kapitän Gould und seine Leidensgefährten auf Schildkröten und deren Eier, sowie auf Krustenthiere, wie Krabben und Hummern, beschränkt. Von den letzteren hatte John Block einige fangen können. Gewöhnlich beschäftigte sich John Block, nicht ohne Erfolg, mit dem Fischfange, wobei ihn Franz meist unterstützte. Mit Schnüren, die an Stelle der Angelhaken mit passend gebogenen, aus den Planken der Schaluppe herrührenden Nägeln versehen waren, gelang es, verschiedene Arten Fische zu fangen, z. B. zehn bis zwölf Zoll lange Goldbrachsen von schön rother Farbe und höchst schmackhaftem Fleisch, ferner kleine Wolfs- und größere Seebarsche und einmal sogar einen mächtigen Stör, der nur mit Hilfe einer Schlinge auf den Strand herausgezogen werden konnte.
Die Seehunde, deren es hier sehr viele gab, ließen als Nahrungsmittel freilich alles zu wünschen übrig. Von ihnen wurde nur das Fett, und zwar zur Anfertigung roher Kerzen, benützt, die einen Docht aus dürrem Seegras bekamen. So beunruhigend die Aussicht auf eine Ueberwinterung auch war, durfte man doch nicht vergessen, für die langen, dunkeln Abende der schlechten Jahreszeit auch für nothdürftige Beleuchtung zu sorgen.[343]
Auf Lachse, die zu gewissen Zeiten so zahlreich den Schakalbach der Neuen Schweiz hinaufstiegen, war hier nicht zu rechnen. Dafür »strandete« aber eines Tages wenigstens ein Schwarm von Heringen an der Mündung des kleinen Rios. Davon wurden mehrere Hunderte erbeutet, und diese bildeten, über einem Feuer von trockenem Tang geräuchert, einen recht schätzenswerthen Nahrungsvorrath.
»Sagt man nicht, bemerkte John Block, daß der Hering die nöthige Butter gleich in sich hat? Na, wenn das wahr ist, dann kann sie diesen hier nicht fehlen! Ich weiß gar nicht, was wir mit all den guten suchen noch anfangen sollen!«
In den sechs folgenden Wochen des hiesigen Aufenthaltes hatte man wiederholt versucht, das Steilufer über den Rücken des Vorberges zu erklimmen. Da das stets vergeblich geblieben war, beschloß Fritz, den Hügel im Osten zu umgehen Er hütete sich aber weislich, jemand – außer John Block – seine Absicht mitzutheilen.
Am Morgen des 7. Decembers begaben sich daraufhin die beiden Männer nach der Ausbuchtung an der Ostseite unter dem Vorwande, wie gewöhnlich Schildkröten holen zu wollen.
Am Fuße der mächtigen Felsmasse des Hügels brachen sich die Wellen mit großer Heftigkeit, und Fritz setzte, wenn er auf die andere Seite des Hügels gelangen wollte, unzweifelhaft sein Leben aufs Spiel.
Vergeblich bemühte sich der Obersteuermann, ihn von dem Wagniß abzuhalten, es blieb ihm nichts übrig, als sich im Nothfall zu seiner Unterstützung bereit zu halten.
Fritz legte die Kleidung ab, befestigte sich eine lange Leine – das Fockreep von der Schaluppe – um den Leib, John Block packte deren Ende, und der junge Mann sprang beherzt ins Wasser.
Hier drohte ihm die zweifache Gefahr, entweder von der Brandung gegen den Fuß des Hügels geschleudert oder von der Strömung hinweggetragen zu werden, im Fall, daß die Leine etwa risse.
Zweimal versuchte Fritz erfolglos, sich über die Wellen emporzuarbeiten, erst beim drittenmale gelang es ihm, sich so weit oben zu halten, daß er einen Blick auf die Gegend jenseit des Hügels werfen konnte. Dann zog John Block ihn nicht ohne Mühe nach dem Ufer zurück.
»Nun, fragte der Obersteuermann, wie sieht es da drüben aus?[344]
– Felsen, nichts als Felsen, antwortete Fritz, als er wieder etwas zu Athem gekommen war. Ich habe nichts anderes gesehen, als kleine Buchten und Steinvorsprünge. Das Steilufer verläuft nach Norden zu in gleicher Weise weiter.
– Darüber wundere ich mich gar nicht!« begnügte sich der Obersteuermann zu antworten.
Als das Ergebniß dieses kühnen Versuches bekannt wurde, von dem Jenny mit begreiflicher Erregung hörte, schien allen jede Hoffnung zu schwinden. Das[345] Eiland, das der Kapitän Gould und die übrigen nicht mehr sollten verlassen können, erwies sich als ein unbewohnbarer und unbewohnter Steinhaufen!
Welch schmerzliche Gedanken rief die Erkenntniß dieser Sachlage wach. Ohne die Meuterei befänden sich die Passagiere der »Flag« jetzt schon seit zwei Monaten in den fruchtbaren Gefilden des Gelobten Landes! Wie mußten sich auch alle die ängstigen, die sie erwarteten und sie doch nicht eintreffen sahen. Wie sollten sich die beiden Familien diese Verzögerung deuten? Wäre die Corvette etwa gar untergegangen? Sollten sie Fritz, Jenny, Franz, James, Suzan und Doll niemals wiedersehen? Und wenn die »Licorne« Schiffbruch gelitten hatte, war das auf der Fahrt von der Insel nach Europa oder vor oder nach ihrem Auslaufen von Capetown geschehen?
Die Angehörigen und Freunde der hier Verlassenen waren wirklich mehr zu beklagen, als diese selbst. Sie wußten jene wenigstens in der Neuen Schweiz in Sicherheit.
Die Zukunft bot ein recht trübes Bild angesichts einer Lage, deren Ausgang niemand vorhersehen konnte.
Und welch neue Besorgniß wäre noch zu so vielen anderen gekommen, wenn alle gewußt hätten, was Harry Gould und dem Steuermann allein bekannt war: daß die Zahl der Schildkröten sich infolge des täglichen Verbrauches merkbar verminderte.
»Vielleicht, äußerte hierzu John Block, kommt das daher, daß die Thiere Kenntniß von einem unterirdischen Gange haben, durch den sie die Buchten im Osten oder Westen erreichen können, ohne daß es uns möglich wäre, ihnen zu folgen.
– Jedenfalls, Block, antwortete Harry Gould, sprechen Sie davon gegen niemand!
– Darüber beruhigen Sie sich, Herr Kapitän. Wenn ich es Ihnen gesagt habe, geschah es nur, weil man Ihnen doch alles mittheilen kann...
– Und auch mittheilen muß, Block!«
Von jetzt ab mußte der Obersteuermann noch mehr als bisher dem Fischfange obliegen, denn das Meer lieferte ja stets, was die Erde zu versagen anfing. Durch eine ausschließliche Ernährung mit Fischen, Weich- und Schalthieren drohte freilich die Gesundheit allmählich Schaden zu erleiden, und wenn erst Krankheiten ausbrachen, dann war der Becher des Unglücks ja übervoll.
Die letzte Woche des Decembers kam heran. Das Wetter blieb immer schön, nur traten einige Gewitter ein, die aber nicht so schwer waren, wie das[346] erste. Die zuweilen außerordentliche Hitze wäre manchmal kaum zu ertragen gewesen ohne den Schatten, den das Steilufer über den Strand hin warf. Das bot doch einigen Schutz gegen die Gluthstrahlen der Sonne, die ihren Tagesbogen am nördlichen Himmel beschrieb.
Zu dieser Zeit erschienen hier auch sehr viele Vögel, und zwar nicht nur Seeschwalben, Trauerenten, Möven und Fregattvögel, die gewohnten Gäste des Strandes, sondern gelegentlich auch ganze Völker von Kranichen und Reihern. Das erinnerte Fritz an seine schönen Jagden auf dem Schwanensee oder in der Umgebung der Meiereien des Gelobten Landes. Auf dem Gipfel des Hügels zeigten sich auch Cormorans, wie der Jennys, der jetzt im Geflügelhof von Felsenheim umherstolzirte, und zuweilen Albatrosse, gleich dem, den sie zu ihrem Boten vom Rauchenden Felsen gemacht hatte.
Alle diese Vögel hielten sich aber in sicherer Entfernung. Wenn sie sich auch auf dem Vorberge niederließen, versuchte man doch vergeblich, ihnen näher zu kommen, denn sie flatterten dann sofort über die unersteigbare Höhe davon.
Eines Tages wurden der Kapitän Gould und alle übrigen durch einen Ruf des Obersteuermanns nach dem Strande gelockt.
»Da seht doch... seht doch! wiederholte John Block, indem er nach dem Rande des oberen Plateaus hinwies.
– Was giebt es denn? fragte Fritz.
– Sehen Sie denn gar nicht die Reihe schwarzer Punkte da oben? erwiderte John Block.
– Das sind Pinguine, erklärte Franz.
– Ja, ganz richtig, Pinguine, bestätigte Harry Gould, und wenn sie uns nicht größer als Krähen erscheinen, liegt das an der großen Höhe, in der sie sitzen.
– Und da diese Vögel, bemerkte Fritz, haben nach dem Plateau gelangen können, so muß der Abhang an der anderen Seite des Steilufers leichter zugänglich sein.«
Das war wohl anzunehmen, denn die sehr unbeholfenen und schweren Pinguine hätten mit ihren kurzen Flügelstümpfen nicht bis zu jenem Kamme hinausfliegen können. War dessen Ersteigung auch von Süden her unmöglich, so schien sie doch von Norden her ausführbar zu sein. Bei dem Mangel eines Bootes aber, mit dem man hätte längs der Küste hinfahren können, mußte man darauf verzichten, den Gipfel des Steilufers zu erreichen.[347]
Traurig, gar traurig gestaltete sich das Weihnachtsfest dieses Unglücksjahres. Wie niederdrückend war der Gedanke, welch fröhliche Christmas im großen Saale von Felsenheim inmitten der beiden Familien und in Gesellschaft des Kapitäns Gould und John Block's gefeiert worden wäre! Es schien wirklich, als ob die Qual des Verlassenseins sich damit verdoppelte, und so beschränkte sich die Feier auf innige Gebete, worin sich freilich kaum noch eine schwache Hoffnung ausdrückte.
Und dennoch mußte man wohl dem Schöpfer danken, daß trotz so schwerer Prüfungen die Gesundheit dieser kleinen Welt noch nicht gelitten hatte. Dem Obersteuermann vorzüglich hatten alles Elend und alle Enttäuschungen auch nicht das geringste anhaben können.
»Ich werde fett, erklärte er wiederholt, ja, richtig fett! Das kommt davon, wenn man seine Zeit mit Nichtsthun verbringt!«
Mit Nichtsthun, ach, in dieser unglückseligen Lage war ja leider nichts zu thun.
Am Nachmittag des 29. ereignete sich ein Zwischenfall, der zwar auch keine erwünschte Aenderung der Dinge hervorbringen konnte, der aber die Erinnerung an glücklichere Zeiten wachrief.
Auf dem noch erreichbaren Theile des Vorberges hatte sich ein Vogel niedergesetzt.
Es war ein Albatros, der jedenfalls von weither kam und sehr müde zu sein schien. Er streckte sich so zu sagen, die Füße nach hinten und die Flügel gefaltet, auf dem Felsen aus.
Fritz wollte versuchen, ihn zu fangen. Bei seiner Geschicklichkeit im Schleudern des Lassos konnte ihm das vielleicht gelingen, wenn er eine Leine von der Schaluppe mit einem Laufknoten versah.
Der Obersteuermann machte eine solche Leine zurecht, und Fritz begann den Vorberg vorsichtig und geräuschlos zu erklimmen.
Alle folgten ihm mit den Blicken.
Der Vogel rührte sich nicht; Fritz konnte sich bis auf einige Toisen heranschleichen, dann sauste sein Lasso durch die Luft und schlang sich um den Leib des Albatrosses.
Dieser versuchte kaum, sich zu wehren, als Fritz ihn auf den Armen nach dem Strande hinuntertrug.
Da erscholl aus Jennys Mund ein Schrei der Ueberraschung.[348]
»Er ist es! Er ist es! jubelte sie, den Vogel streichelnd, ich erkenne ihn wieder!
– Wie, rief Fritz, das wäre...
– Ja ja, Fritz, das ist mein Albatros, mein Gefährte vom Rauchenden Felsen, derselbe, dem ich das Billet ans Bein gebunden hatte, das Dir in die Hand gefallen war.«
War das wohl möglich? Täuschte sich Jenny nicht? Sollte dieser Albatros, der niemals nach jenem Eiland zurückgekehrt war, jetzt, drei Jahre später, nach dieser Küste geflogen sein?
Jenny irrte sich indeß nicht, und das zeigte sich handgreiflich, als sie auf ein Bindfadenendchen hinwies, das noch an dem einen Bein des Vogels hing. Von dem Leinwandstückchen, worauf Fritz einige Antwortzeilen geschrieben hatte, war freilich keine Spur mehr zu entdecken.
Der Albatros war gewiß von sehr weit her gekommen, denn diese kräftigen Luftsegler vermögen überraschend große Strecken zu überwinden. Jedenfalls hatte dieser hier vom Osten des Indischen bis in diese Gegend des Stillen Oceans eine Entfernung von etwa tausend Lieues zurückgelegt.
Von der Pflege und von den Liebkosungen, die dem Boten vom Rauchenden Felsen zutheil wurden, können wir füglich schweigen. Bildete er nicht eine Art Band, das die Schiffbrüchigen mit ihren Eltern und ihren Freunden in der Neuen Schweiz verknüpfte?
Zwei Tage später endete das Jahr 1817, das in den letzten Monaten so reich an Unglück gewesen war, und wer konnte wissen, wieviel davon die Zukunft noch in ihrem Schoße barg!
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