Sechsundzwanzigstes Capitel.
Keiner will von der Stelle weichen. – Die Nacht auf dem Plateau. – Auf dem Wege nach Norden. – Die Fahnenstange. – Die britischen Farben. – Der Nebelschleier. – Ein Ausruf Fritzens.

[375] Regungslos, das Herz vor Erregung fast gelähmt und die Augen starr nach Norden gerichtet, lauschten alle und wagten kaum Athem zu holen. Sollten sie nur in einer Täuschung befangen sein?... Nein... das war nicht anzunehmen.[375] Von fernher ertönten noch einige Schüsse, deren Krachen der schwache Wind hierher trug.

»Das ist ein Schiff, das draußen vor jener Küste vorbeisegelt! begann endlich Harry Gould.

– Gewiß, der Geschützdonner kann nur von einem solchen herrühren, und wenn es erst völlig dunkel ist, können wir vielleicht gar seine Positionslichter erkennen.

– Ja, warum sollten jene Kanonenschüsse, fiel Jenny ein, nicht ebenso gut vom Lande herrühren können?

– Vom Lande, liebe Jenny, antwortete Fritz. Da müßte sich also doch Land in der Nähe dieser Insel finden?

– Ich glaube weit mehr, daß dort im Norden ein Schiff hinfährt, wiederholte der Kapitän Gould.

– Wozu hätte es dann aber Kanonenschüsse abgegeben? fragte James.

– In der That... wozu jene Schüsse?« wiederholte Jenny.

Hielt man die Ansicht des Kapitäns für richtig, so mußte man auch annehmen, daß das betreffende Schiff von der Küste nicht sehr weit entfernt sein könnte. Vielleicht waren, wenn es erst ganz dunkel wurde, auch der Feuerschein der Geschützentladung und schließlich auch noch seine Positionslichter zu erkennen. Da der vernommene Kanonendonner von Norden her kam, war es erklärlich, daß das Schiff selbst nicht sichtbar war, da man nach dieser Seite hin ja auch das Meer nicht sehen konnte.

Jetzt war nun keine Rede mehr davon, wieder nach dem Hohlwege und nach der Schildkrötenbucht umzukehren. Wie das Wetter sich auch gestalten mochte, wollten doch alle bis zum Tagesanbruch an Ort und Stelle bleiben. Steuerte ein Schiff freilich im Osten oder Westen vorbei, so war es des Mangels an Holz wegen leider unmöglich, auf der Höhe des Steilufers ein Feuer zu entzünden, um sich mit ihm in Verbindung zu setzen.

Jedenfalls hatten die entfernten Detonationen aber alle, die sie hier vernahmen, bis zum tiefsten Innern erregt, machten sie doch den Eindruck, als ob sie die Verlassenen wieder mit ihresgleichen verknüpften, als ob dieses Eiland jetzt minder vereinsamt im großen Meere läge.


Es war mehr ein Gemsenklettern, als eine Fußwanderung. (S. 381.)
Es war mehr ein Gemsenklettern, als eine Fußwanderung. (S. 381.)

Da empfanden alle das unwiderstehliche Verlangen, sich über die möglichen Folgen dieses Zwischenfalles für ihre endliche Erlösung auszusprechen. Gern wären sie auch, ohne erst den nächsten Tag abzuwarten, bis an das Ende[376] des Plateaus vorgedrungen, um nach Norden hin den Theil des Meeres, von wo aus der Schall der Schüsse gekommen war, übersehen zu können. Der Abend sank aber schon herab, es mußte sehr bald Nacht werden, eine Nacht ohne Mond und Sterne, und noch mehr verdunkelt durch die Wolken, die der Wind nach Süden trieb. Wie hätten sie sich aber in der Finsterniß zwischen das Felsengewirr hineinwagen können? Was am Tage schon ziemlich schwierig war, mußte ja in der Nacht ganz unausführbar sein. Damit trat denn an jeden die Aufgabe heran, sich hier, so gut es anging, einzurichten. Nach mancher vergeb[377] lichen Bemühung entdeckte der Obersteuermann endlich einen Schlupfwinkel, einen etwas geschützten Raum zwischen zwei Felsblöcken, wo Jenny, Doll, Suzan und der kleine Knabe wenigstens Unterkommen finden konnten, wenn es hier auch an seinem Sand oder einer Schicht trockenen Tangs, sich darauf auszustrecken, gebrach. Doch gleichviel, bot die Stelle doch Schutz gegen den Wind, im Falle daß dieser wieder auffrischte, und selbst nothdürftig gegen Regen, wenn die Wolken sich in dieser Höhe öffnen sollten.

Zunächst wurde nun der Proviant hervorgeholt und jeder aß mit vortrefflichem Appetit. Eßvorrath war ja für mehrere Tage vorhanden, so daß es wahrscheinlich nicht nöthig wurde, zu dessen Erneuerung zur Grotte zurückzukehren. Uebrigens war in Bezug der Ernährung, selbst in Erwartung einer Ueberwinterung an der Schildkrötenbucht, jede Besorgniß unbegründet.

Die Nacht war hereingebrochen... eine scheinbar endlose Nacht, deren lange Stunden niemand je vergaß, außer dem kleinen Bob, der im Arme seiner Mutter schlummerte. Rings herrschte tiefe Finsterniß, bei der die Lichter eines Schiffes gewiß mehrere Lieues weit zu erkennen gewesen wären.

Mit dem Kapitän Gould blieben auch die anderen Männer die ganze Zeit über wach. Ihre Blicke schweiften unablässig nach Osten, Süden und Westen, in der Hoffnung, daß dort irgend ein Schiff dahinsegle, freilich auch in der Befürchtung, daß es die hier Verlassenen doch nicht bemerken und erlösen werde. Wären sie jetzt in der Schildkrötenbucht gewesen, so hätten sie auf der Spitze des Vorberges ein Feuer angezündet. Hier war das unmöglich.

Kein Lichtschein blitzte vor dem Tagesgrauen auf, kein Knall unterbrach die Stille der Nacht, und nirgends war etwas von einem Schiff zu sehen.

Der Kapitän Gould, Fritz, Franz und der Obersteuermann fragten sich deshalb auch, ob sie sich doch nicht etwa getäuscht hätten, als sie für Geschützdonner hielten, was vielleicht von der Entladung eines fernen Gewitters herrührte.

»Nein, nein versicherte Fritz, das war von uns kein Irrthum. Dort, weit draußen im Norden, sind Kanonen abgefeuert worden.

– Ganz meine Meinung, sagte der Obersteuermann.

– Aus welchem Grunde wäre das aber geschehen? fragte James Wolston.

– Nun, es bedeutete einen Gruß oder geschah zur Vertheidigung, erklärte Fritz. Ich kenne wenigstens keine andere Veranlassung, bei der man sich der Geschütze bediente.

– Vielleicht, meinte Franz, haben dort gelandete Wilde die Insel angegriffen.[378]

– Jedenfalls, antwortete der Obersteuermann, rühren die Kanonenschüsse nicht von Wilden her.

– Demnach müßte das Eiland von Amerikanern oder Europäern bewohnt sein, sagte James.

– Das Eiland... ja, ist es denn wirklich ein Eiland? entgegnete der Kapitän Gould. Wissen wir denn, was dort draußen hinter dem Plateau liegt?... Befinden wir uns nicht etwa gar auf einer großen Insel?...

– Einer großen Insel in diesen Theile des Stillen Oceans? fragte Fritz. Auf welcher denn?... Ich wüßte keine...

– Ich bin der Ansicht, fiel der Obersteuermann ein – und er hatte wohl recht – daß es ganz nutzlos ist, hierüber lange zu reden. Wir wissen eben nicht, ob wir hier auf einem Eiland oder einer Insel des Stillen Oceans sind... damit Punktum! Noch ein wenig Geduld, bis es Tag wird, dann werden wir ja erfahren, wie es dort weiter nach Norden hin aussieht.

– Da sehen wir vielleicht vieles... vielleicht gar nichts. sagte James.

– Na, erwiderte der Obersteuermann, es ist auch schon etwas, darüber wenigstens klar zu sein.«

Gegen fünf Uhr zeigte sich das erste Morgengrauen. Am Horizonte im Osten stieg ein bleicher Schein heraus. Das Wetter war sehr still, der Wind hatte sich in der zweiten Hälfte der Nacht gänzlich gelegt. An die Stelle der von der Brise dahingetriebenen Wolken war jetzt ein Dunstschleier getreten, den die Sonne schließlich durchdrang. Der Luftkreis wurde allmählich klarer. Der scharf begrenzte feurige Schein im Osten breitete sich aus und wölbte sich über der Linie zwischen Himmel und Wasser. Endlich tauchte die glänzende Sonnenscheibe auf und warf lange Lichtstraßen auf die Oberfläche des Meeres.

Aller Blicke waren gespannt nach dem jetzt sichtbaren Theil des Oceans gerichtet.

Kein von der Windstille des Morgens festgehaltenes Schiff zeigte sich auf dem Meere.

In diesem Augenblicke kamen Jenny, Doll und Suzan Wolston mit ihrem Kinde an der Hand zum Kapitän Gould heran.

Der Albatros hüpfte mit leichtem Flügelschlag auf den Felsblöcken hin und her und entfernte sich zuweilen etwas weiter nach Norden zu, als ob er den Weg zeigen wollte.

»Sieht es nicht aus, als wollte er uns führen? meinte Jenny.[379]

– O, wir müssen ihm folgen, rief Doll.

– Nicht eher, als bis wir etwas genossen haben, antwortete Harry Gould. Vielleicht haben wir mehrere Stunden lang zu marschieren, und da empfiehlt es sich doch, erst einige Kräfte zu sammeln.«

Schnell wurde nun der Speisevorrath vertheilt. Alle brannten ja vor Ungeduld, und noch vor sieben Uhr befanden sie sich auf dem Wege nach Norden.

Das Vorwärtskommen zwischen den Felsen war höchst beschwerlich. Ueber die kleinen stieg man hinweg, die größeren mußten umgangen werden. Der Kapitän Gould und der Obersteuermann, die immer vorausgingen, zeigten den anderen die besten Wege. Jenen folgten Fritz, der Jenny, Franz, der Doll, und James, der Suzan und den kleinen Bob unterstützte. Nirgends zeigte der Boden eine Grasnarbe oder eine Sanddecke... überall nichts als ein Chaos von Steinen, wie ein weites Feld mit erratischen Blöcken oder mit sich kreuzenden Moränen. Hoch oben zogen wieder verschiedene Vögel, wie Fregattenvögel, Möven und Seeschwalben, dahin, und auch der Albatros erhob sich zuweilen zum Fluge.

So wanderten alle mit großer Anstrengung eine Stunde lang, in der sie, etwas ansteigend, kaum eine Lieue zurückgelegt hatten. Das Aussehen und die Natur des Plateaus zeigte keinerlei Veränderung.

Jetzt wurde es gebieterisch nöthig, einmal zum Ausruhen Halt zu machen.

Fritz erbot sich zwar, mit dem Kapitän und dem Obersteuermann gleich noch weiter vorzudringen, um den übrigen eine vielleicht nutzlose Bemühung zu ersparen.

Dieser Vorschlag wurde aber einstimmig verworfen; vielmehr sollte jede Trennung vermieden werden. Alle wollten zur Stelle sein, wenn sich das Meer im Norden zeigen würde... vorausgesetzt, daß das überhaupt geschah.

Gegen neun Uhr ging die Wanderung weiter. Der Nebel am Himmel mäßigte die Hitze der Sonne. In dieser Jahreszeit wäre sie sonst fast unerträglich gewesen auf dem Steinfelde, worauf deren Strahlen zu Mittag fast lothrecht herunterschoffen.

Das sich nach Norden zu verlängernde Plateau wurde auch in westöstlicher Richtung immer breiter, so daß das bis dahin in dieser Richtung sichtbar gebliebene Meer den Blicken bald entschwinden mußte. Im übrigen fand sich nirgends ein Baum, nirgends eine Spur von Pflanzen... überall dieselbe Dürre, dieselbe Verlassenheit. Weiter nach vorne zu zeigten sich da und dort kleinere[380] Bodenerhebungen. Um elf Uhr wurde aber der kahle Gipfel eines Bergkegels sichtbar. der diesen Theil des Plateaus um etwa dreihundert Fuß überragte.

»Dort... dort hinauf müssen wir gelangen! rief Jenny.

– Jawohl, antwortete Fritz, von dort aus werden wir einen sehr weiten Umkreis übersehen können. Vielleicht wird nur der Aufstieg sehr beschwerlich sein.«

Das war jedenfalls zu erwarten; alle waren aber so gespannt, endlich Aufklärung zu erhalten, daß niemand, trotz Mühen und Gefahren, hätte zurückbleiben wollen. Und doch, wer konnte wissen, ob die armen Leute nicht einer letzten Enttäuschung entgegengingen, die ihnen alle bisher bewahrte Hoffnung raubte!

Alle wendeten sich nun dem etwa dreiviertel Lieue entfernten Bergkegel zu. Wie beschwerlich war aber jeder Schritt, wie langsam kamen sie weiter durch die hunderte von Blöcken, die sie überklettern oder umkreisen mußten. Es war mehr ein Gemsenklettern, als eine Fußwanderung. Der Obersteuermann bestand darauf, Bob zu tragen, den seine Mutter ihm auch anvertraute. Fritz und Jenny, Franz und Doll, sowie James und Suzan hielten sich immer dicht zusammen, um einander bei gefährlichen Wegstellen helfen zu können.

So kam die zweite Nachmittagstunde heran, ehe sie den Fuß des Berges erreichten. Hier mußte nochmals Rast gemacht werden, denn sie hatten vom letzten Ruhepunkte aus immerhin fünfzehnhundert Toisen zurückgelegt.

Der Aufenthalt wurde nur kurz bemessen, und schon nach zwanzig Minuten begann der Aufstieg.

Der Kapitän Gould hatte beabsichtigt, eine Art Schlangenweg einzuschlagen, um einen zu steilen Aufstieg zu vermeiden, es zeigte sich indeß, daß der Bergfuß nicht gangbar war. Alles in allem handelte es sich ja doch nur darum, dreihundert Fuß hoch emporzuklimmen.

Zu Anfang fand dabei der Fuß zwischen Felsblöcken auf einem Boden mit dürftigem Pflanzenwuchs, mit Büscheln von Sandhafer, einen Stützpunkt, an dem man sich doch ein wenig anhalten konnte.

Eine halbe Stunde genügte, bis zur halben Höhe hinauszukommen. Da stieß Fritz, der den übrigen voran war, einen Schrei der Ueberraschung aus.

Alle blieben stehen und sahen nach ihm hin.

»Was ist denn das da?« sagte er, nach der obersten Spitze hinaufzeigend.

Dort ragte nämlich zwischen den letzten Felsstücken eine fünf bis sechs Faß lange Stange empor.[381]

»Sollte das der entblätterte Zweig eines Baumes sein? sagte Franz.

– Nein, das ist kein Zweig, erklärte der Kapitän Gould.

– Es ist ein Stock... eine Art Bergstock, versicherte Fritz, ein Stock, den man da oben eingesenkt...

– Und an dem man eine Flagge befestigt hat, setzte der Obersteuermann hinzu, denn die Flagge ist noch daran vorhanden!«

Eine Flagge auf dem Berggipfel!

Ja, eben entfaltete sich das Flaggentuch im leichten Winde, doch waren dessen Farben der Entfernung wegen noch nicht zu erkennen.

»Es giebt also doch Bewohner dieses Eilandes! rief Franz.

– Unzweifelhaft,... es ist bewohnt, meinte Jenny.

– Und wenn es doch nicht der Fall wäre, erklärte Fritz, so steht wenigstens das eine fest, daß bereits jemand davon Besitz genommen hat.

– Ja, welches Eiland ist es denn eigentlich? fragte James Wolston.

– Oder vielmehr, welche Flagge ist die da oben? setzte Harry Gould hinzu.

– Die britische! rief der Obersteuermann. Seht dort, das rothe Flaggentuch mit dem Unionyac in der oberen Ecke!«

Der Wind war ein wenig stärker geworden und hatte jetzt die britische Flagge völlig entfaltet.

Mit erneuten Kräften schwangen sich alle von einem Felsblock zum anderen. Hundertfünfzig Fuß trennten sie noch vom Gipfel; sie fühlten aber keine Anstrengung, dachten kaum daran, Athem zu schöpfen... immer stiegen sie, von einer übermenschlichen Kraft getrieben, nur höher, höher hinaus.

Gegen drei Uhr standen endlich der Kapitän Gould und seine Gefährten auf der Spitze des Bergkegels.

Doch nochmals erfuhren sie eine herbe Enttäuschung, als sie nach Norden hinausblickten. Ueber Sehweite hinaus lagerte ein dichter Nebel, der es unmöglich machte, zu erkennen, ob das Plateau hier ebenso wie an der Schildkrötenbucht mit einem steilen Abfalle endigte oder sich noch weiter hinaus fortsetzte. Durch den fast dunkeln Nebel war gar nichts zu erkennen. Ueber der Dunstschicht aber strahlte die schon nach Westen hinabsinkende Sonne noch in vollem Glanze.

Unter den gegebenen Umständen beschloß man, nöthigenfalls bis zum anderen Tage an Ort und Stelle auszuhalten und zu warten, bis der Wind einmal den Nebel verscheuchte. Entschieden wollte keiner umkehren, ohne den nördlichen Theil des Eilandes gesehen zu haben.[382]

Hier wehte ja die britische Flagge im Hauche der Brise, ein Zeichen, daß dieses Land gewiß schon einen bestimmten Namen führte, und daß es wahr scheinlich seiner geographischen Länge und Breite nach bereits auf den Seekarten eingetragen sei.

Die Kanonenschüsse am vorigen Abend konnten wohl ein zur Ehrung der Flagge abgegebener Salut gewesen sein; möglicherweise bot jener Theil der Küste auch eine Art Hafen zum Ausruhen und vielleicht ankerten jetzt ebenda gar einige Schiffe.

War das Land hier auch thatsächlich weiter nichts als ein Eiland, so war es doch nicht zu verwundern, daß Großbritannien davon Besitz genommen hätte, da jenes an der Grenze des Indischen und des Stillen Oceans lag. War es aber ein Theil eines Festlandes, so konnte es recht wohl zu den wenig bekannten Gebieten Australiens gehören, die sich an die unter britischer Herrschaft stehenden Strecken anschließen.

Wie erklärlich, dachte man an alle diese Möglichkeiten, malte sie aus und wog man ihre Wahrscheinlichkeit gegeneinander ab. denn mit der größten Ungeduld sah jeder dem Augenblicke entgegen, wo die Wahrheit an den Tag kommen sollte.

Da hörte man plötzlich den Schrei eines Vogels und darauf einen schnellen Flügelschlag.

Jennys Albatros war es, der davonflog und über der Nebelschicht hin sich nach Norden zu entfernte.

Wohin begab sich der Vogel?... Vielleicht nach einer fernen Küste?...

Sein Davoneilen erweckte allgemein ein Gefühl der Traurigkeit und selbst der Angst... es erschien allen wie ein Abschied für immer...

Die Zeit verstrich, das nur wenig anhaltende Wehen eines leichten Windes konnte den Nebel nicht verscheuchen, der in großen Wolken um den Faß des Kegels wogte. Es schien wirklich, als sollte die Nacht herankommen, ohne daß sich der nördliche Horizont den Blicken gezeigt hätte.

Doch nein, alle Hoffnung sollte noch nicht verloren sein. Als die Dunstmassen sich zu senken begannen, konnte Fritz erkennen, daß der Bergkegel kein Steilufer, sondern einen sanft abfallenden Boden überragte, der wahrscheinlich bis zum Meere in gleicher Abdachung verlief.

Als dann der Wind mehr zunahm, so daß das Flaggentuch sich spannte, konnte man die Böschung bequem hundert Faß weit übersehen.[383]

Sie bildete keine Anhäufung von Felsblöcken, sondern die Flanke einer Art Höhenzuges und zeigte sogar einigen Pflanzenwuchs, einen Anblick, den die armen Verlassenen seit so vielen Monaten entbehrt hatten.

Wie freudig betrachteten alle die weiten, grünenden Flächen, die Gebüsche, Aloěs, Mastixbäume und die Myrthenbäume, die sich da und dort erhoben. Jetzt wollte niemand mehr warten, bis der Nebel sich zerstreute, alle drängte es, vor Einbruch der Dunkelheit nach dem jenseitigen Fuße des Berges zu kommen.

Und siehe da!... acht- bis neunhundert Fuß weiter unten tauchten durch die Risse in dem Nebelschleier die Wipfel eines Waldes auf, der sich mehrere Lieues weit ausdehnte; darauf folgte eine fruchtbare Ebene mit vereinzelten Gesträuchen und Baumgruppen und offenen Feldstücken nebst umfänglichen Wiesen mit mehreren Wasserläufen, deren bedeutendster nach einer Einbuchtung im Osten strömte.

Im Osten und im Westen reichte das Meer überall bis zum Horizonte hinaus. Nur im Norden blieb es verdeckt; allem Anscheine nach war das Land hier also kein Eiland, sondern eine Insel, eine ziemlich große Insel!

Weit draußen hoben sich vom Himmel noch undeutlich die Linien eines von Osten nach Westen verlaufenden Felsenrückens ab. War das der Saum einer Küste?

»Vorwärts... brechen wir auf! rief Fritz.

– Ja... ohne Zögern vorwärts! drängte auch Franz. Wir können noch vor der Nacht unten sein!

– Und diese verbringen wir unter dem Schutze der Bäume,« setzte der Kapitän Gould hinzu.

Jenny ging auf Fritz zu mit dem Ersuchen, nun ja nicht länger zu zögern, als der Nebel sich eben auflöste. Der Ocean zeigte sich in seiner Unendlichkeit in einer Entfernung, die wohl sieben bis acht Lieues betragen mochte.

Eine Insel... das Land war seiner Größe nach wirklich eine Insel!

Man konnte jetzt erkennen, daß die nördliche Küste drei Buchten von verschiedener Ausdehnung bildete, von denen die größte im Nordwesten, die mittlere im Norden und die kleinste, die aber am tiefsten ins Land einschnitt, im Nordosten lag. Der in diese führende Meeresarm endigte in zwei. weit draußen aufsteigenden Caps, deren eines sich an ein ziemlich hohes Vorgebirge anschloß.[384]

Ein Land war aber auch nach Norden zu nicht zu sehen und kein Segel blähte sich auf dem Meere.

Blickte man nach Süden hin, so zeigte sich die Aussicht in etwa zwei Lieues Entfernung durch den Kamm des Steilufers abgeschlossen, das die Schildkrötenbucht umrahmte.

Welch ein Unterschied aber zwischen der unfruchtbaren, öden Landstrecke, die der Kapitän Gould und die anderen eben durchmessen hatten, und dem Bilde, das sich hier vor ihren Augen aufthat! Ueberall fruchtbares, abwechslungsreiches[385] Land mit Wäldern und offenen Ebenen, überall mit der üppigen Vegetation der Tropenzonen. Nirgends aber war ein Dorf, ein Weiler oder auch nur eine einzige Wohnstätte zu sehen.

Da entrang sich Fritz ein Schrei, ein Aufschrei der Erlösung, den er nicht zurückzuhalten vermochte, während seine Arme sich nach Norden hin ausstreckten:


An der weißlichen Asche erkannte man... (S. 389.)
An der weißlichen Asche erkannte man... (S. 389.)

»Die Neue Schweiz!...

– Ja, die Neue Schweiz! rief jetzt auch Franz.

– Die Neue Schweiz! wiederholten Jenny und Doll mit einer vor Erregung halberstickten Stimme.

Vor ihnen, jenseit jenes Waldes, jenseit jener Wiesengründe, erkannten sie den felsigen Wall als die Höhe, von der aus die Schlucht der Cluse nach dem Grünthal Eingang gewährte. Hinter diesem aber lag das Gelobte Land mit seinen Gehölzen, seinen Meiereien und dem Schakalbache. Dort draußen erhob sich Falkenhorst zwischen den mächtigen Mangobäumen, dort lag Felsenheim im Schutze seiner grünenden Einfriedigung. Die Bucht zur Linken war die Perlenbucht, in weiter Ferne erhob sich, gleich einem schwärzlichen Kegel, der von vulcanischen Dämpfen gekrönte Rauchende Fels, ferner zeigte sich die Nautilusbai, von der aus das Cap der Getäuschten Hoffnung hinausragte, und endlich die von dem Haifischeiland beschützte Rettungsbucht. Die Kanonenschüsse von gestern mochten also wohl von der Batterie dieses Eilandes abgegeben worden sein, da ein Schiff weder in der Bucht, noch auf offenem Meere zu erblicken war.

Und von unaussprechlicher Freude erfüllt, hochklopfenden Herzens und die Augen von Thränen der Dankbarkeit überströmt, vereinten sich alle in dem Gebete, das Franz dem gütigen Himmel darbrachte.

Quelle:
Jules Verne: Das zweite Vaterland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXVII–LXXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1901, S. 375-386.
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