[151] Die Ereignisse, denen wir in der Kathedrale beigewohnt hatten und jene anderen, deren Schauplatz der Salon der Frau Roderich gewesen, verfolgten ein und dasselbe Ziel und stammten aus derselben Quelle. Wilhelm Storitz und kein anderer war der Urheber. Konnte man sich angesichts dieser neuen Tatsachen noch auf ein Taschenspielerkunststück berufen?... Ich war gezwungen, mir mit einem »Nein« zu antworten. Nein, weder der Skandal in der Kirche, noch der Raub des Brautkranzes konnten derartigen Zauberkünsten zugezählt werden. Ich war zu dem Schlusse gekommen, daß dieser Deutsche von seinem Vater tatsächlich ein wissenschaftliches Geheimnis ererbt haben müsse, eine vor der übrigen Welt verborgen gehaltene Erfindung die ihm die Mittel lieferte, sich unsichtbar zu machen.... Warum auch nicht?... Vielleicht wohnte gewissen Lichtstrahlen die Eigenschaft inne undurchsichtige Körper zu passieren, als ob sie durchsichtig wären!... Aber meine Gedanken schweiften ab!... Mich verfolgten wohl eitle Hirngespinste und ich hütete mich, sie jemandem anzuvertrauen.
Wir hatten Myra heimgebracht, ohne daß ihr die Besinnung zurückgekehrt wäre Man trug sie in ihr Zimmer und legte sie dort auf ihr Bett. aber trotz allen Bemühungen konnte sie nicht ins Leben zurückgerufen werden. Sie blieb regungslos, unempfindlich, Dr. Roderichs Kunst erwies sich als machtlos. Aber sie atmete, sie lebte. Ich fragte mich immer wieder, wie es möglich, daß sie all diese Schicksalsschläge ausgehalten habe, daß sie der letzten furchtbaren Aufregung nicht erlegen sei.
Mehrere Kollegen des Doktors wurden berufen; sie umstanden das Bett, in dem Myra bewegungslos ausgestreckt lag, mit geschlossenen Augen und wachsbleichen Wangen; die Brust hob und senkte sich nach den unregelmäßigen Schlägen des Herzens, ihr Atem war ein bloßer Hauch, ein Hauch, der in jedem Augenblicke zu erlöschen schien.
Markus hielt ihre Hände in den seinen. Er weinte. Er flehte sie an, er rief unausgesetzt:
»Myra... liebe Myra!...«[151]
Mit tränenerstickter Stimme wiederholte auch Frau Roderich umsonst:
»Myra... mein Kind,... Ich bin da... bei Dir... Deine Mutter...«
Das junge Mädchen schlug die Augen nicht auf, wahrscheinlich hatte sie die Worte gar nicht vernommen.
Die Ärzte hatten schließlich die stärksten Mittel versucht und es schien, als würde die Kranke zur Besinnung kommen.... Ihre Lippen flüsterten unzusammenhängende Worte, deren Sinn unmöglich zu erfassen war, ihre Finger bewegten sich in Markus' Händen und ihre Augen öffneten sich ein wenig.... Aber welch leerer Blick kam aus diesen halboffenen Lidern! Ein Blick, dem der Verstand fehlte!...
Markus begriff es nur zu schnell. Er taumelte zurück und schrie:
»Sie ist wahnsinnig geworden.... Wahnsinnig!...«
Ich stürzte auf ihn zu und hielt ihn mit Hilfe des Hauptmanns Haralan aufrecht und fragte mich, angstvoll, ob er nicht auch den Verstand verlieren werde!
Wir brachten ihn in ein anderes Zimmer und überließen es den Ärzten, diese Krise zu bekämpfen, deren Ausgang ein gar trauriger sein konnte.
Was mochte das Ende dieses Dramas sein? Konnte man hoffen, daß Myra mit der Zeit ihre Verstandeskräfte wiedergewinnen werde, daß durch sorgsame Pflege die Verirrungen ihres Geistes bezwungen werden würden, daß der Wahnsinn nur eine vorübergehende Erscheinung sein werde?
Als Hauptmann Haralan mit mir allein war, sagte er:
»Wir müssen ein Ende machen....«
Ein Ende machen?... Wie meinte er das? Daß Wilhelm Storitz in Ragz und der Urheber dieser Ruchlosigkeiten war, daran zweifelten wir nicht. Aber wo konnten wir ihn packen, dieses ungreifbare Wesen war ja nicht zu fassen.
Und welchen Eindruck machten diese neuerlichen Vorgänge auf die Stadt? Ob sie eine natürliche Erklärung derselben überhaupt annahm? Wir waren hier nicht in Frankreich, wo ohne Zweifel diese »Wunder« ins Lächerliche gezogen und in Liedern verspottet worden wären. In diesem Lande ging es anders zu. Ich hatte schon Gelegenheit zu bemerken, daß der Ungar eine angeborene Vorliebe zum Wunderbaren habe und bei dem ungebildeten Volke ist der Aberglaube unmöglich auszurotten. Fürdie gebildeten Klassen konnten diese Vorfälle nur auf eine unbekannte chemische oder physikalische Erfindung zurückzuführen sein. Aber wenig erleuchtete Köpfe suchen sich alles durch die Hilfe des bösen Geistes zu erklären und wahrscheinlich wurde Wilhelm Storitz als der personifizierte Teufel angesehen.
Es war wohl nicht daran zu denken, der Öffentlichkeit den wahren Sachverhalt länger vorzuenthalten, die Beziehungen des landesverwiesenen Wilhelm Storitz zur Familie Roderich mußten klargelegt werden. Was wir bisher geheim gehalten hatten vor aller Welt, durfte nach dem in der Kirche gegebenen Ärgernis nicht mehr verschwiegen werden.
Am nächsten Tage war die ganze Stadt in Aufruhr. Man verglich die Vorkommnisse im Hause des Doktors mit denen in der Kathedrale. Die kaum hergestellte Ruhe in der Stadt wich einer neuen Erregung; das Band aber, das diese verschiedenen Ereignisse verknüpfte, war endlich gefunden; in allen Häusern, in allen Familien weckte der Name Wilhelm Storitz' die Vorstellung an ein übernatürliches Wesen, das zwischen den stummen Mauern und hinter den geschlossenen Fenstern des Hauses am Tököly-Wall ein geheimnisvolles Dasein führte.
Es wird daher niemanden in Erstaunen setzen, daß nach der Verbreitung dieser Neuigkeit die Bevölkerung zu dem Hause am Tököly-Wall eilte, wie von einer unsichtbaren Macht getrieben. So hatte sich auch die Menge auf den Kirchhof in Spremberg gedrängt. Aber dort hatten die Zeitgenossen des Gelehrten nur ein Wunder erhofft, sie waren von keinerlei Rachegefühlen beseelt. Hier jedoch war ein Ausbruch des Hasses zu befürchten; der Rachedurst, den die Taten eines Bösewichts wachgerufen, suchte Befriedigung.
Außerdem ist zu bemerken, daß das Verbrechen in der Kirche begangen worden war, was das Entsetzen dieser gläubigen Stadt nur vergrößerte.
Die furchtbare Aufregung wuchs stündlich. Sicher war, daß der größte Teil dieser Menschen niemals an eine natürliche Erklärung der unverständlichen Vorgänge glauben würde!
Der Gouverneur von Ragz mußte die Gesinnungen seiner Untergebenen in Rechnung ziehen und der Polizeichef hatte alle Maßregeln zu ergreifen, welche die schwierige Situation erforderte. Man mußte bereit sein, einer eventuellen Panik entgegentreten zu können, welche die ernstesten[155] Folgen nach sich ziehen konnte. Außerdem mußte, sobald der Name Wilhelm Storitz genannt war, sein Haus am Tököly-Wall beschützt werden, vor welchem sich hunderte von Arbeitern und Bauern angesammelt hatten; es mußte vor Angriff und Plünderung bewahrt werden.
Inzwischen arbeiteten meine Gedanken weiter und ich erwog allen Ernstes eine Hypothese, die ich anfangs zurückgestoßen hatte. Wenn diese Hypothese Begründung fand, wenn einem Menschen die Macht gegeben war, sich unsichtbar zu machen, was unglaublich klingen mochte, bei mir aber als unanfechtbar feststand, wenn die Fabel von Gyges' Ring am Hofe des Königs Kandaules Wirklichkeit geworden, dann war die öffentliche Ruhe für immer untergraben. Dann gab es auch keine persönliche Sicherheit mehr.
Nachdem Wilhelm Storitz nach Ragz zurückgekommen war, obwohl niemand ihn bemerkt hatte, stellte sich nichts der Annahme entgegen, daß er noch immer in Ragz weilte, ohne daß man sich seiner Person bemächtigen konnte. Ein anderer Grund zur Sorge war ferner: besaß er allein das Geheimnis, das ihm wahrscheinlich sein Vater hinterlassen hatte? Machte nicht auch sein Diener Hermann davon Gebrauch? Wer weiß, wer sich das Geheimnis nicht außerdem zunutze machte! Wer hinderte diejenigen dann, in fremde Häuser einzudringen, wann und wie es ihnen gefiel, sich in das Leben ihrer Bewohner zu mengen? Mußte nicht die Intimität der Familie dadurch untergraben werden? Und, war man in sein Zimmer eingeschlossen, konnte man auch versichert sein, allein zu sein, nicht gehört zu werden, nicht gesehen zu werden, ohne daß man sich in absolute Finsternis flüchtete? Und draußen, auf der Straße, die ewige Furcht, von einem Unsichtbaren gefolgt zu werden, der einen nicht aus den Augen verliert und in dessen Gewalt man gegeben ist!... Welche Möglichkeit gab es, sich einem Attentate zu entziehen? War damit nicht die Auflösung der gesellschaftlichen Bande gegeben?
Jetzt erinnerte man sich auch des Vorfalles auf dem Platze des Koloman-Marktes, dessen Zeugen Hauptmann Haralan und ich gewesen waren. Ein Mann hatte behauptet, daß ihn ein unsichtbarer Angreifer niedergeworfen habe. Alles deutete darauf hin, daß dieser Mann die Wahrheit gesprochen hatte. Wahrscheinlich war er auf seinem Wege von Wilhelm Storitz, Hermann oder irgend einem anderen gestoßen worden. Jeder[156] fürchtete, daß ihm ein Gleiches widerfahren könne. Bei jedem Schritte war man derartigen Überraschungen ausgesetzt!
Und noch anderer Einzelheiten erinnerte man sich, der aus dem Rahmen gerissenen Heiratsverkündigung in der Kathedrale und, gelegentlich der Haussuchung, des Geräusches von Schritten in den Zimmern, der plötzlich zu Boden gefallenen, zerbrochenen Phiole.
Natürlich war er da gewesen, er, und Hermann wahrscheinlich auch. Sie hatten nicht die Stadt unmittelbar nach dem Verlobungsfest verlassen, wie wir vermuteten, und nun erklärte sich leicht das Seifenwasser in der Waschschüssel und das Feuer im Küchenherd. Jawohl! Beide hatten der Durchsuchung des Gartens, Hofes und Hauses beigewohnt und bei ihrer Flacht hatten sie den Polizeimann, welcher am Fuße der Treppe Wache stand, umgeworfen. Daß wir den Brautkranz in der Aussichtswarte gefunden, war wohl nur dem Umstande zuzuschreiben, daß Wilhelm Storitz durch unsere Ankunft überrascht worden war und nicht mehr Zeit gefunden hatte, ihn zu verbergen.
Was mich selbst anbelangte, so konnte ich mir jetzt die Zwischenfälle an Bord der »Dorothea« auf meiner Reise von Budapest nach Ragz sehr wohl erklären. Der Passagier, welcher meiner Meinung nach in Vukovár ausgestiegen war, war im Gegenteil am Schiffe geblieben, aber man vermochte ihn nicht zu sehen!...
Folglich konnte er sich mit großer Schnelligkeit unsichtbar machen. Er erschien und verschwand nach seinem Belieben, wie Zauberer mit Hilfe des Zauberstabes, und auch seine Kleidungsstücke wurden unsichtbar, nicht aber Gegenstände, die er in der Hand hielt, nachdem wir den zerrissenen Kontrakt und den Blumenstrauß, den geraubten Kranz, die durch die Kirche geschleuderten Eheringe, gesehen hatten. Aber hier handelte es sich nicht um Magie, kabbalistische Formeln, Zauberei und Hexenkunst. Bleiben wir bei den materiellen Tatsachen. Jedenfalls kannte Wilhelm Storitz das Geheimnis einer Zusammensetzung, die man zu sich nehmen mußte. Aber welche Mischung war das? Wahrscheinlich war sie in der zerbrochenen Phiole enthalten, jene, die sich fast augenblicklich verflüchtigt hatte. Aber die Formel zu dieser Komposition, die kannten wir eben nicht – die sollten wir kennen – und würden sie wahrscheinlich niemals erfahren!...[157]
Ob die Person Wilhelm Storitz' bei ihrer Unsichtbarkeit auch ungreifbar war? Wenn sie sich auch dem Gesichtssinn entziehen konnte, mußte sie dem Tastsinn doch erkennbar bleiben! Die materielle Hülle kann nicht eine ihrer allen Körpern gemeinsamen Dimensionen der Länge, Breite und Höhe verlieren. Er ist immer ganz vorhanden, mit Fleisch und Blut, wie man sagt. Unsichtbar, zugegeben! – aber nicht unfaßbar! Letzteres ist den Gespenstern eigen und wir hatten es mit keinem Gespenst zu tun!
Wenn mir der Zufall gestattete, ihn an den Armen, den Beinen, oder beim Kopfe zu fassen – trotz aller Unsichtbarkeit würde er nicht wieder loskommen. Und wie bewunderungswürdig auch sein Wissen war, durch die Mauern eines Gefängnisses konnte es ihm doch nicht helfen.
Aber das waren eben fragliche Vernunftgründe, recht annehmbare zwar, die wohl jeder sich stellte, aber die Situation blieb gleich beunruhigend und die öffentliche Sicherheit war immer noch bedroht. Man lebte in steter Bangigkeit. Man fühlte sich nirgends mehr sicher, weder draußen, noch im Innern der Häuser, weder bei Tage, noch bei Nacht. Das leiseste Geräusch in den Zimmern, ein Krachen des Fußbodens, das Knarren einer durch den Wind bewegten Jalousie, das Ächzen des Wetterhahnes auf dem Dache, das Surren eines Insekts, das Pfeifen des Windes bei schlecht geschlossenen Türen und Fenstern, alles erregte Verdacht. Das Hin und Her der häuslichen Beschäftigungen, zur Essenszeit, abends, vor dem Schlafengehen, die ganze Nacht hindurch, während des Schlafes, wenn überhaupt geschlafen wurde – man wußte niemals, ob kein Fremder sich ins Haus geschlichen, ob nicht Wilhelm Storitz oder ein anderer anwesend war, jede Gebärde beobachtete, jedes Wort erlauschte, in die intimsten Geheimnisse der Familie eindrang.
Es war ja allerdings auch möglich, daß dieser Deutsche Ragz ganz verlassen habe und nach Spremberg zurückgekehrt sei. Aber nach reiflicher Überlegung waren Dr. Roderich und Hauptmann Haralan, aber auch der Gouverneur und der Polizeichef anderer Meinung; man konnte vernünftigerweise nicht annehmen, daß Wilhelm Storitz nicht neue Bosheiten, neue Angriffe plane. Wenn er die Feierlichkeit gelegentlich der Erteilung der Heiratsbewilligung im Hause des Gouverneurs nicht gestört hatte, so war er eben noch nicht von Spremberg zurückgekehrt. Jetzt hatte er die kirchliche Trauung gewaltsam unterbrochen; würde er sie nicht auch in Zukunft zu verhindern[158] wissen, falls Myra die volle Gesundheit wieder erlangte! Sein Haß gegen die Familie Roderich konnte noch nicht erloschen sein, da er noch nicht vollständig befriedigt war. Und die Drohworte, die in der Kirche erklungen, waren sie nicht eine beredte Antwort auf diese Fragen?
Nein, wir hatten noch nicht den letzten Akt dieses Dramas gesehen und es war das Schlimmste zu befürchten, da ja dieser Mensch über die besten Mittel zur Ausübung seiner Rachepläne verfügte.
Wenn auch das Haus des Doktors Tag und Nacht überwacht wurde – er konnte sich immerhin einschleichen; und war er erst drinnen, stand es ihm frei, nach Belieben zu schalten.
Man kann aus dem Gesagten leicht den Zustand der Gemüter beurteilen, sowohl derjenigen, die sich an die positiven Tatsachen hielten, als der anderen. welche sich den Übertreibungen einer abergläubischen Einbildungskraft überließen.
Und gab es kein Mittel, dieser schrecklichen Lage zu entrinnen? Ich gestehe, ich wußte keines. Auch Markus' und Myras Abreise hätte keine Änderung herbeigeführt. Es war Wilhelm Storitz ja die Möglichkeit gegeben, ihnen überallhin zu folgen, ganz abgesehen davon, daß Myras Gesundheitszustand eine Abreise von Ragz ganz unmöglich machte.
Wo mochte er jetzt gerade sein, unser ungreifbarer Feind? Kein Mensch war imstande, es mit Gewißheit zu sagen, wenn nicht eine Reihe von Ereignissen uns plötzlich gezeigt hätte, daß er voll Starrsinns inmitten der Bevölkerung verblieben war, diese herausforderte und terrorisierte.
Der erste neuerliche Zwischenfall setzte unserer Verzweiflung die Krone auf. Zwei ganze Tage waren nach der fürchterlichen Szene in der Kirche St. Michael verflossen, ohne daß in Myras Befinden eine Besserung eingetreten wäre; sie lag noch immer der Vernunft beraubt im Bette und schien zwischen Leben und Tod zu schweben. Es war am 4. Juni. Nach dem Frühstück war die Familie Roderich, mein Bruder und ich in der Galerie versammelt und wir besprachen lebhaft, welche Taktik wohl am besten einzuschlagen sei, als ein wahrhaftig satanisches Gelächter an unser Ohr schlug.
Wir sprangen ganz entsetzt von unseren Sitzen auf. Markus und Hauptmann Haralan stürzten gleichzeitig wie wahnsinnig nach der Seite der Galerie, an der das entsetzliche Lachen erklungen war, aber nach wenigen[159] Schritten schon blieben sie stehen. Alles spielte sich in zwei Sekunden ab. Während dieser Zeit sah ich einen Blitz aufflammen, es war eine glänzende Klinge, die im tödlichen Stoße durch die Luft fuhr, ich sah, wie mein Bruder taumelte und Hauptmann Haralan ihn in seinen Armen auffing....
Ich sprang hinzu, um zu helfen, als eine Stimme – diese Stimme, die wir jetzt nur zu gut kannten! – mit dem Ausdruck unerschütterlicher Willenskraft rief: »Myra Roderich wird niemals Markus Vidals Gattin werden!«
Im selben Augenblick zitterte der Kronleuchter unter einem heftigen Luftstoß, die Gartentüre wurde geöffnet und heftig ins Schloß geworfen und es wurde uns klar, daß unser unversöhnlicher Feind uns abermals entkommen war.
Hauptmann Haralan und ich legten Markus auf ein Ruhebett nieder, wo Dr. Roderich ihn untersuchte. Es handelte sich zum Glück um eine leichte Verwundung. Die Klinge des Dolches war das linke Schulterblatt entlang geglitten und hatte nur eine lange Fleischwunde verursacht, die, obwohl sie sehr böse aussah, in wenigen Tagen geheilt sein konnte. Dieses Mal hatte der Mörder seine Absicht nicht erreicht. Ob es aber immer so glücklich ausfiel?
Nachdem der Verband angelegt war, wurde Markus ins Hotel Temesvár gebracht und ich wachte an sei nem Bette und vertiefte mich dabei in das Studium der Rätsel, die all meinem Scharfsinn widerstanden und die doch ihre Lösung finden mußten, wenn nicht das Leben vieler, die meinem Herzen nahe standen, bedroht werden sollte.
Ich war noch nicht weit gekommen in meinem Nachgrübeln, als neue merkwürdige Zwischenfälle, nicht dramatischer, sondern eher wunderlicher, zusammenhangloser Natur meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen.
Am Abende dieses Tages (4. Juni) erschien eine mächtige Leuchte, die weithin bis zum Kurtz-Platz und zum Koloman-Markt bemerkt werden konnte, am höchsten Fenster des Glockenturmes. Eine flammende Fackel hob und senkte sich, wurde hin- und hergeschwenkt; es sah aus, als ob ein Brandstifter das ganze Gebäude in Flammen setzen wollte.
Der Polizeichef und seine Leute verließen eiligst den Zentralwachposten und hatten in kürzester Zeit die Spitze des Glockenturmes erreicht.[160]
Das Licht war aber verschwunden und – wie übrigens Herr Stepark vermutet hatte – niemand war zu sehen. Auf dem Boden lag die erloschene Fackel. von der ein harziger Brandgeruch sich loslöste, glimmende Funken lagen noch auf dem Dache. aber der Brandstifter war verschwunden.
Entweder hatte das Individuum – nennen wir es Wilhelm Storitz – Zeit gefunden, sich zu flüchten, oder es verbarg sich, unauffindbar, in einem Winkel des Glockenturmes.[161]
Die auf dem Platze sich häufende Volksmenge stieß vergebens zornige Racherufe aus; der Schuldige lachte ihrer.
In den Morgenstunden des nächsten Tages wartete eine neue Herausforderung auf die vor Schreck verstörten Bewohner.
Eben hatte es zehn Uhr geschlagen, als ein unheimliches Glockengeläute anhub, es klang wie Grabeston, wie ein Schreckenssignal.
Für einen einzelnen Mann war es unmöglich, den schweren Glockenapparat der Kathedrale in Bewegung zu setzen; Wilhelm Storitz mußte also Mithelfer haben, zum mindesten seinen Diener Hermann.
Die Leute drängten nach dem St. Michaels-Platz, selbst aus den entferntesten Stadtteilen waren sie herbeigeeilt, auch dort war das unheimliche Läuten gehört worden und hatte Angst und Schrecken verbreitet.
Wieder stürzten Herr Stepark und seine Leute an den Tatort, eilten die Treppen des Nordturmes hinauf bis zur Glockenstube; es war ganz hell darin, denn das Licht strömte durch die Dachfenster...
Aber vergebens durchsuchten sie diesen Turmabsatz und die höher gelegene Galerie.... Niemand! Niemand!...
Als sie den Raum betraten, sahen sie die Glocken noch schwingen – aber die Menschen, welche sie in Bewegung gesetzt hatten, waren verschwunden.
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