[231] Das Unglück, das die Familie Gibson so grausam heimgesucht hatte, bewirkte zunächst, daß Hawkins seine früher entworfenen Pläne änderte.
Wie wir wissen, hatte sich der Reeder in der Absicht, seinen Geschäftskreis zu erweitern, nach Neuseeland begeben, um hier mit Herrn Balfour, einem in Wellington hochgeachteten Kaufmanne, noch ein neues Kontor zu begründen. Nat Gibson, der ihn auf dieser Reise begleitete, sollte neben Balfour als Teilhaber eintreten. In der nächsten Zeit gedachte man dann die Handelsbeziehungen des Hauses, besonders im Bismarck-Archipel, weiter auszudehnen und zu vermehren. Herr Zieger, der bei dem Aufenthalte des »James-Cook« in Tombara darum befragt worden war, wünschte nichts mehr, als mit dem neuen Kontor in Verkehr zu treten, und sicherte diesem auch laufende und umfangreiche Geschäfte zu. Eines der Schiffe der Firma Hawkins sollte dann ausschließlich zur Großen Küstenfahrt zwischen Wellington und Port-Praslin Verwendung finden.
In Wellington war es ja auch gewesen wo Harry Gibson seinen Sohn und Herrn Hawkins abgeholt hatte, um sie nach Vervollständigung seiner Fracht im Bismarck-Archipel nach Hobart-Town zurückzubringen. Nach seiner Rückkehr von Tasmanien sollte Nat Gibson dann in der Hauptstadt Neuseelands seine dauernde Stellung antreten.
Jetzt, wo der Kapitän Gibson in der geschilderten, geheimnisvollen Weise umgekommen war, konnte von der Ausführung dieses Planes nicht mehr die Rede sein; Frau Gibson hätte sich nicht mit dem Gedanken befreunden können, von ihrem Sohne getrennt zu sein, und auch Nat Gibson hätte nicht zugestimmt, von seiner Mutter fortzugehen und sie allein in dem verwaisten Vaterhause zurückzulassen. Alle Freundschaft, alle Ergebenheit des Herrn und der Frau Hawkins hätten der trostlosen Witwe keinen genügenden Ersatz geboten. Jedenfalls mußte ihr Sohn bei ihr bleiben, damit sie sich an dessen Liebe und an der Muttersorge für ihn wieder aufrichten lernte. Der Reeder war der erste, der das einsah. Er wollte sich mit Herrn Balfour ins Einvernehmen setzen und[231] für diesen einen anderen Geschäftsteilhaber suchen, während Nat Gibson ihn im Kontore von Hobart-Town unterstützen sollte.
»Lieber Nat, sagte er zu diesem, ich habe dich von jeher fast als eigenes Kind betrachtet, und jetzt wünsche ich, daß du das noch mehr seiest als früher. – O... ich werde meinen unglücklichen Freund niemals vergessen...
– Meinen Vater, meinen armen Vater! murmelte der junge Mann. Und nicht einmal die zu kennen, die ihn getötet haben!...«
Durch seinen Schmerz und sein Schluchzen brach immer der Durst nach Vergeltung hervor, die er nicht hatte üben können.
»Die Elenden! rief er. Man soll also niemals erfahren, wer sie sind, und der abscheuliche Meuchelmord soll voraussichtlich ungesühnt bleiben!
– Warten wir erst die nächste Post von Port-Praslin ab, antwortete Hawkins beruhigend. Vielleicht führen die Nachforschungen der Herren Hamburg und Zieger doch zu einem nichtigen Ergebnisse. Vielleicht haben sie neue Spuren und Anzeichen gefunden. Nein, ich kann nicht glauben, daß das Verbrechen unbestraft bleiben sollte...
– Und wenn die Mörder entdeckt sind, rief Nat Gibson, dann begeb' ich mich dorthin... ja, ich gehe bestimmt... und ich...«
Er konnte vor zornigem Zittern der Stimme den Satz nicht vollenden.
Bevor diese Freveltat jedoch zur Aburteilung kam – wenn das überhaupt der Fall war – mußte vor dem Seegerichte eine andere Angelegenheit – der Prozeß gegen die Meuterer vom »James-Cook« – verhandelt werden.
In seiner Eigenschaft als Kapitän der Brigg hatte Karl Kip der zuständigen Behörde seinen Bericht überliefert. Flig Balt als Rädelsführer und Len Cannon als Mittäter wurden jedenfalls zu sehr schwerer Strafe verurteilt, denn die englischen Gesetze sind ungemein streng bezüglich der Fälle dieser Art und überhaupt aller der, die die Disziplin an Bord der Handelsmarine betreffen.
Seit ihrer Einsperrung hatten die Verhafteten mit ihren Genossen keinerlei Verbindung mehr gehabt. Sexton, Kyle und Bryce sollten bei dem Strafverfahren nur als Zeugen vernommen werden. Der Bericht beschuldigte sie nicht ausdrücklich der tätigen Teilnahme an dem – dank der Energie des neuen Kapitäns – übrigens so schnell unterdrückten Aufruhr. Möglicherweise weilten sie gar nicht mehr in Hobart-Town, wenn die Verhandlung vor dem Gerichte begann, vielleicht hatten sie sich dann schon aufs neue eingeschifft, und das wäre ihnen natürlich am liebsten gewesen.[232]
Was Vin Mod anging, der ja im Grunde die Seele der Meuterei gewesen war, lag mit diesem arglistigen Burschen, dessen verderblichem Einflusse, der Bootsmann erlegen war, der Fall wesentlich anders. Er sachte sich den Folgen seiner Treibereien nicht durch die Flucht zu entziehen. Seine Verabredung mit Flig Balt würde ja die Probe bestehen, und doch, wer kannte wissen, ob dieser nicht, durch Fragen bedrängt und sich selbst verloren sehend, vielleicht gestehen und die Mitschuld Vin Mods entschleiern würde.
Freilich waren sie ja aneinander gekettet wie zwei Galeerensträflinge, verbunden durch das gemeinsam vergossene Blut, das Blut des unglücklichen Harry Gibson.
Da er dem Bootsmanne aber doch eine Schwächeanwandlung zutraute, hatte Vin Mod alles Interesse daran, ihn möglichst zu entlasten, und vielleicht besaß er dazu auch die Mittel. Geistig nicht unbefähigt und um Ausflüchte nie verlegen, wußte er, daß Flig Balt auf ihn rechnete. Gelang es ihm, in der Angelegenheit des »James-Cook« der Gerechtigkeit in den Arm zu fallen, so hatte weder er selbst noch der andere irgend etwas zu fürchten. Wer hätte vermuten können, daß gerade sie die Urheber der Mordtat wären, die in den fernen Gebieten Neuirlands begangen worden war? – Inzwischen konnte Vin Mod in aller Ruhe in Hobart-Town bleiben, und das von dem Kapitän geraubte Geld überhob ihn vorläufig jeder Sorge für seinen Lebensunterhalt.
Übrigens hatte dieser Schurke in Übereinstimmung mit Flig Balt jedenfalls schon vorher einen Plan entworfen, den er gewiß zur Ausführung zu bringen versuchte, da er sich ja völliger Freiheit erfreute. Bei der Unmöglichkeit aber, mit dem Bootsmanne in Verbindung zu treten, sagte er sich, während er seine Idee überdachte und sich seine Absicht vor Augen führte, um jede Störung auszuschließen:
»Wird er mich auch richtig verstanden haben?... Die Sache ist ja so einfach... das würde die Meuterei erklären, würde sie entschuldigen!... O, wenn ich an seiner Stelle wäre!... Freilich wär' ich dann nicht an der meinigen, und da muß ich doch sein. Leider ist er kein Mann von leichtem Begriffsvermögen... man muß ihm alles förmlich eintrichtern!... Doch sollte es denn kein Mittel geben, zu ihm zu gelangen... für mich oder einen anderen, ob Kyle oder Sexton... um ihm zu sagen: Es ist ausgeführt... Es ist freilich notwendig, daß das geschehen ist, spätestens am Tage der Gerichtsverhandlung. Die Brüder würden es dann erst zu spät bemerken. Na... ich werde darüber weiter nachdenken. Vor allem kommt es darauf an, ihn aus der Schlinge zu ziehen...[235] damit rächen wir uns an dem verfluchten Gelegenheits-Kapitän!... Ha, wenn ich den nicht samt seinem Bruder sollte ein Pas de deux am Ende eines Strickes tanzen sehen!«
Und während Vin Mod so für sich grübelte, erbleichte sein Gesicht, seine Augen füllten sich mit Blut und seine Züge verrieten einen unbezähmbaren Haß.
Unzweifelhaft beabsichtigte Vin Mod also einen Schurkenstreich gegen die Gebrüder Kip. Bei dem Zusammentreffen gewisser Umstände erschien es leicht, das in Kerawara begangene Verbrechen so darzustellen, daß auf sie ein schwerer Verdacht fiel. Seit Ankunft der Brigg und seit ihrer Abtakelung hatte Vin Mod deshalb aufmerksam beobachtet, was Karl und Pieter Kip taten. Was es diesen erwünscht sein ließ, so bald wie möglich Hobart-Town zu verlassen und nach Europa zurückzukehren, das war ihm ja bekannt genug. Die Gelegenheit aber, ein Schiff zu finden, das fertig war, in See zu gehen, bot sich, von einem besonderen Zufall abgesehen, sicherlich nicht alle Tage.
Vin Mod wußte überdies, daß Karl Kip eine Anstellung als Obersteuermann suchte und daß Hawkins ihn unterstützte, eine solche zu finden. Das war ein weiterer Anlaß zu Verzögerungen, und jedenfalls würden die beiden Brüder nicht eher abgereist sein, als bis die Seebehörde die Meuterer vom »James-Cook« abgeurteilt hätte... anderenfalls wären Vin Mods Pläne vereitelt gewesen.
Karl Kip mußte bei der bevorstehenden Verhandlung übrigens doch wohl persönlich anwesend sein. Sein Bruder hätte ja vielleicht fehlen können, da zunächst Hawkins, Nat Gibson und die Matrosen der Brigg vor Gericht ihre Aussagen machen mußten. Die Erklärung des Kapitäns blieb aber doch das wichtigste, und er als Hauptzeuge konnte sich also nicht davon befreien, vor den Richtern zu erscheinen.
Vin Mod verstand es überdies, die beiden Brüder während ihres Aufenthaltes in Hobart-Town nicht aus den Augen zu verlieren. Sobald er sich überzeugt hatte, daß sie in den Gasthof zum Great Old Man gezogen waren, sicherte er sich, durch einen falschen Bart verstellt, dort ebenfalls ein Zimmer, bezahlte es für vierzehn Tage im voraus und schrieb sich unter dem falschen Namen Ned Pat ins Fremdenbuch ein. Seinen wahren Namen Vin Mod gab er dagegen in dem Gasthause zu den Fresh-Fishs an, wo sich Sexton, Kyle und Bryce, in einem anderen Stadtteile am Hafen, eingemietet hatten. Als Ned Pat ging er stets sehr frühzeitig aus, kam erst spät zurück und nahm hier auch[236] keine Mahlzeit ein... alles in der Absicht, Karl und Pieter Kip sein Tun und Treiben möglichst zu verheimlichen. Vor allem hütete er sich, den Brüdern in den Weg zu kommen, obgleich ihn diese jetzt wohl kaum erkannt hätten.
Vin Mod hatte sich im Great Old Man ein Zimmer neben dem ihrigen zu verschaffen gewußt, und durch nach einem gemeinschaftlichen Balkon zu gelegenen Fenster mußte es ihm leicht werden, in das der Brüder einzudringen, was er zur Ausführung seines Planes unbedingt wagen mußte.
Vin Mod konnte sogar jedes Gespräch zwischen Karl und Pieter Kip verstehen, wenn er sich nach Einbruch der Dunkelheit auf den Balkon schlich. Die Holländer, die nicht ahnten, belauscht zu werden, sprachen dann nur von persönlichen und völlig harmlosen Dingen, so daß sie nicht einmal die Vorsicht gebrauchten, ihre Stimmen zu dämpfen. Der starken Hitze wegen stand auch in den meisten Fällen das Fenster hinter den Jalousien halb offen.
Am Abend des 13. belauschte er nun, bei strenger Vorsicht, nicht bemerkt zu werden, eine längere Unterhaltung der Brüder. Es war schon völlig finster, eine Petroleumlampe verbreitete in dem Zimmer ein schwaches Licht, und so konnte Vin Mod nicht nur das Gespräch im Zimmer deutlich hören, sondern auch sehen, was darin vorging.
Das Zimmer war nur sehr bescheiden ausgestattet: zwei eiserne Bettstellen an der Längswand, ein ziemlich roher Schrank, ein Tisch in der Mitte, eine dreibeinige Toilette und drei Stühle aus gebogenem Holz, das war alles; im Kamin lag noch ein Haufen alter Asche.
Ein Schemel trug den vom Wrack der »Wilhelmina« geborgenen Reisesack mit allem, was die beiden Brüder jetzt besaßen und sich zum Teil erst in Hobart-Town, beschafft hatten, wie Wäsche und andere kleine Bedürfnisse, die sie für das von der Firma Hawkins erhaltene Geld eingekauft hatten. Einige in gleicher Weise erworbene Kleidungsstücke hingen an einem Kleiderrechen rechts von der Eingangstür, die sich nach dem, mehreren Zimmern gemeinsamen Vorsaale hin öffnete, an dem auch das Vin Mods lag.
Am Tische sitzend, musterte Pieter Kip eben einige, auf das Kontor in Amboina bezügliche Papiere, als sein Bruder fröhlichen Gesichts eintrat.
»Gelungen, Pieter, rief er mit befriedigter Stimme, es ist mir gelungen... unsere Rückfahrt ist nun gesichert!«
Pieter Kip begriff, daß sich diese Worte auf die seit mehreren Tagen angestellten Versuche bezogen, die Stelle eines Obersteuermannes auf einem der[237] holländischen Schiffe zu erhalten, die sich zu bald bevorstehender Abfahrt von Hobart-Town mit der Bestimmung nach Europa rüsteten.
Pieter Kip drückte seinem Bruder glückwünschend die Hände.
»Die Firma Arnemniden hat dich also als Obersteuermann für den ›Skydnam‹ angenommen?
– Jawohl, Pieter, dank der warmen Empfehlung des Herrn Hawkins...
– O, der vortreffliche Mann, dem wir schon so vieles schulden...
– Und der mir da recht hilfreich unter die Arme gegriffen hat! setzte Karl Kip hinzu.
– Auf ihn können wir unter allen Umständen zählen, lieber Karl. Ist er dir auch einigen Dank für dein Auftreten an Bord des ›James-Cook‹ schuldig, wie viel schulden wir ihm für das, was er schon für uns getan hat. Du weißt, wie wir in seiner Familie, und trotz des Unglücks, das sie heimgesucht hat, von der Familie Gibson aufgenommen worden sind!
– Der arme Kapitän, rief Karl Kip, warum fügte es sich so traurig, daß ich an seine Stelle treten mußte! Herr Hawkins ist ganz untröstlich über den Tod seines unglücklichen Freundes! O möchten die verruchten Mörder doch entdeckt und nach Gebühr bestraft werden!
– Das wird geschehen... wird geschehen!« antwortete Pieter Kip.
Auf diese Behauptung hin, die ihm gar so zuversichtlich erschien, begnügte sich Vin Mod mit den Achseln zu zucken.
»Jawohl, Karl Kip, murmelte er, sie werden verurteilt und bestraft werden, vielleicht eher, als du es glaubst!«
Pieter Kip nahm wieder das Wort.
»Hast du dich dem Kapitän des ›Skydnam‹ schon vorgestellt?
– Gleich heut Abend, Pieter, und er hat auf mich den besten Eindruck gemacht. Es ist ein Holländer aus Amsterdam und schien mir ein Mann zu sein, mit dem ich in allem gut auskommen werde. Von den Vorgängen auf dem ›James-Cook‹ unterrichtet, weiß er, wie ich meine Pflichten als Kapitän erfüllt habe, nachdem Flig Balt seiner Führung des Schiffes enthoben war...
– Das genügt nur für diesen nicht, Karl, der Exbootsmann muß unbedingt schwer bestraft werden. Nachdem er die Brigg durch seine Ungeschicklichkeit erst dem Untergange nahe gebracht hatte und er sie dann den Meuterern ausliefern wollte, an deren Spitze er selbst getreten war...
– Das Seegericht wird seiner gewiß nicht schonen, Pieter, verlaß dich darauf![238]
– Ich habe mich schon wiederholt gefragt, Karl, ob du nicht unrecht daran getan hast, nur Flig Balt und Len Cannon verhasten zu lassen. Die in Dunedin angemusterten Kameraden des zweiten, sind gewiß auch nicht mehr wert, und du weißt doch, daß der Kapitän Gibson diesen niemals über den Weg traute.
– Das ist richtig, Pieter.
– Und ich muß dem noch hinzufügen, Karl, daß mir der Vin Mod von jeher verdächtig erschienen ist und daß ich ihn für den eigentlichen Anstifter der Schurkerei halte. Er hatte immer etwas so Hinterlistiges in seinem Benehmen. Wenn er sich auch klüglich zurückzuhalten wußte, hat er doch jedenfalls hinter Flig Balt gesteckt, und ohne die Unterdrückung der Meuterei wäre er jedenfalls der Obersteuermann des Kapitäns geworden.
– Wohl möglich, meinte Karl Kip. In der ganzen Sache ist auch das letzte Wort noch nicht gesprochen, und es kann recht gut sein, daß uns die Verhandlung noch manche Überraschungen bereitet. Da auch die Matrosen vom ›James-Cook‹ vor das Seegericht geladen werden, kann man gar nicht wissen, was ihre Aussagen noch an den Tag bringen. Man wird Vin Mod verhören, ihm mit Fragen zusetzen. Wenn er im Einverständnisse mit dem Bootsmanne war, könnte ja auch dieser zuletzt die Wahrheit aussagen. Ferner werden die ehrbaren Leute, wie Hobbes, Wickley und Burnes, Zeugnis ablegen, und wenn sie Vin Mod damit weiter belasten...
– Das wird sich ja finden, murmelte Vin Mod, dem von diesem Gespräche kein Wort entging, es wird aber eine ganz andere Wendung nehmen, als ihr es hofft, ihr verwünschten Holländer!«
Eben näherte sich Karl Kip dem Fenster, als wollte er die Jalousien zurückschlagen, und Vin Mod mußte schnell zur Seite weichen, um nicht überrascht zu werden. Die Jalousien öffneten sich jedoch nicht und er konnte seinen Platz also wieder einnehmen. Die Unterhaltung interessierte ihn doch so sehr, daß er sie bis zum Schlusse zu belauschen wünschte, um daraus den größten Nutzen ziehen zu können.
Die beiden Brüder hatten jetzt einander gegenüber am Tische Platz genommen, und während Pieter Kip die von ihm durchgesehenen Papiere sammelte, sagte sein Bruder:
»Sieh, Pieter, ich bin also als Obersteuermann auf dem ›Skydnam‹ angestellt, das ist ja schon ein Glücksumstand, dazu kommt aber noch ein anderer, der für uns nicht weniger wichtig ist...[239]
– Sollte uns, lieber Bruder, nach allen Unfällen, die wir erlebt haben, endlich die Sonne des Glückes wieder scheinen? bemerkte Pieter Kip. Sollten uns endlich weitere Prüfungen und Schicksalsschläge erspart bleiben?
– Vielleicht, Bruderherz; so höre denn, was uns die Zukunft in Aussicht stellt. Ich weiß, daß der Kapitän Fork, der den ›Skydnam‹ befehligt, seine letzte Reise macht. Er ist ein schon bejahrter Mann in völlig gesicherter Vermögenslage, der sich nach der Heimkehr in Holland zur Ruhe zu setzen gedenkt.
Gelingt es mir im Laufe der Fahrt, die Zufriedenheit der Firma Arnemniden[240] zu erwerben, so ist es nicht ausgeschlossen, daß ich berufen werde, Herrn Fork in seiner Stellung als Kapitän zu ersetzen, sobald der ›Skydnam‹ wieder in See geht. Trifft das ein, so bleibt mir nichts mehr zu wünschen übrig...
– Und was für dich, lieber Bruder, ein Glück wäre, antwortete Pieter Kip, das wäre es doch auch nicht minder für unsere Handelsgeschäfte.
– Ich glaub' es wenigstens, bestätigte Karl Kip. Übrigens hab' ich bezüglich dieser noch nicht alle Hoffnung verloren. Warum sollten sich unsere Angelegenheiten nicht besser ordnen, als wir vorher zu hoffen gewagt haben? Wir haben in Groningen gute Freunde, unser Vater hat dort ein geachtetes Ansehen hinterlassen!
– Und außerdem, fügte Pieter Kip hinzu, haben wir uns auch schon hier einige Verbindungen geschaffen; an Unterstützung durch Herrn Hawkins wird es uns nicht fehlen. Wer weiß, ob wir mit seiner Hilfe nicht gar eine beständige Geschäftsverbindung mit Hobart-Town anknüpfen können, ebenso wie mit[241] Wellington durch Herrn Hamburg, und mit dem Bismarck-Archipel durch Herrn Zieger?
– Ah, liebster Bruder, rief Karl Kip, du schwärmst nur schon etwas weit in die Zukunft aus!
– Ja ja, Karl, ich rechne stark darauf, einen zu tiefen Verfall unserer Verhältnisse in der nächsten Zeit zu vermeiden... nein, ich glaube mich damit keiner Täuschung hinzugeben!... Jetzt bietet sich uns eine Reihe günstiger Aussichten, die wir auszunutzen geradezu verpflichtet sind. Das Beste bleibt für den Anfang doch, daß du Obersteuermann auf dem ›Skydnam‹ geworden bist. Bin ich erst in Holland zurück, so werde ich mit frohem Mute an die Arbeit gehen... unser Kredit wird wieder hergestellt werden, und ich hoffe, wir bringen die Firma Kip in Groningen noch zu einer bisher nicht erreichten Blüte!
– Möge Gott dich hören, Pieter!
– Er wird mich hören, denn ich habe immer meine Hoffnung auf ihn gesetzt!«
Jetzt trat ein kurzes Stillschweigen ein.
»Doch sage mir, Karl, steht die Abfahrt des ›Skydnam‹ in kurzer Zeit bevor?
– Ich glaube, sie wird etwa am fünfundzwanzigsten dieses Monats erfolgen.
– Das wäre also in zwölf Tagen?
– Ganz recht, Pieter, denn soweit ich selbst davon Einsicht genommen habe, wird die Befrachtung zu dieser Zeit beendigt sein.
– Und wie lange wird die Fahrt wohl dauern?
– Wenn uns die Umstände einigermaßen begünstigen, wird der ›Skydnam‹ von Hobart-Town bis Hamburg nicht mehr als sechs Wochen brauchen.«
Dieser Zeitraum mußte voraussichtlich für einen schnellen Dampfer genügen, der den westlichen Fahrweg durch den Indischen Ozean, das Rote Meer, den Suezkanal und dann durch das Mittelländische Meer und den Atlantischen Ozean verfolgte. Er brauchte damit weder in Sicht des Kaps der Guten Hoffnung, noch, nach Durchschiffung des Großen Ozeans, in Sicht des Kaps Horn zu kommen.
Pieter Kip fragte seinen Bruder noch, ob er seine Stellung als Obersteuermann an Bord des »Skydnam« sofort antreten werde.
»Schon von morgen an, antwortete Karl Kip. Ich treffe da mit dem Kapitän Fork zusammen, der mich der Schiffsmannschaft vorstellen wird.[242]
– Und gedenkst du dann auch gleich an Bord Wohnung zu nehmen?«
Diese Frage war für Vin Mod wegen seiner Pläne von ganz besonderem Interesse. Es wäre ihm ja fast unmöglich gewesen, sie durchzuführen, wenn die beiden Brüder den Gasthof zum Great Old Man so schnell verließen.
»Nein, erwiderte Karl Kip, einzelne Ausbesserungen am Schiffe werden etwa noch zehn Tage in Anspruch nehmen. Vor dem dreiundzwanzigsten gehe ich also nicht an Bord, und dann kannst du, Pieter, auch gleich deine Kabine beziehen. Ich habe für dich eine der besten, gleich neben der meinigen, schon belegt.
– Gern, bester Karl, sagte Pieter Kip, denn ich gestehe dir, mich verlangt danach, dieses Gasthaus zu verlassen.«
Lachend setzte er noch hinzu:
»Es ist auch eines Schiffsoffiziers, der als Obersteuermann auf dem ›Skydnam‹ befehligt, nicht ganz würdig.
– Ebensowenig, antwortete Karl Kip in gleichem Tone, wie des Chefs des Hauses der Gebrüder Kip in Groningen!«
Wie glücklich fühlten sie sich in dieser Stunde, die wackeren jungen Männer! Sie gewannen wieder Vertrauen auf die Zukunft, denn es war ja in der Tat ein Glück zu nennen, daß Karl Kip eine Stellung so schnell und mit so günstigen Aussichten erhalten hatte. Diese Nacht schliefen sie seit langer Zeit wirklich zum ersten Male unbelästigt von Sorgen wegen der Zukunft.
Eben hatte es zehn geschlagen, und sie erhoben sich, um ihr Lager aufzusuchen. Das Gespräch war zu Ende. Vin Mod schickte sich schon an, längs des Balkons nach seinem Zimmer zurückzukehren, als eine letzte Frage Pieter Kips ihn an das Fenster zurückrief.
»Du sagst also, Karl, daß der ›Skydnam‹ ungefähr am fünfundzwanzigsten abfahren werde?
– Ja, lieber Bruder, bis zu diesem Tage, vierundzwanzig Stunden früher oder später, wird er segelklar sein.
– Soll nicht aber Flig Balt einige Tage vorher abgeurteilt werden?
– Am einundzwanzigsten wird Len Cannon mit ihm vor Gericht zu erscheinen haben, und wir nebst Herrn Hawkins, Nat Gibson und der übrigen Mannschaft werden dazu als Zeugen vorgeladen werden.
– Natürlich, antwortete Pieter Kip. Übrigens macht sich das ja alles ganz trefflich, denn deine Anwesenheit bei der Verhandlung wäre doch auf jeden Fall nötig.[243]
– Gewiß; und meine Aussage, denke ich, wird das Gericht bestimmen, sich unerbittlich gegen einen Bootsmann zu erweisen, der seine Leute zu einer Auflehnung gegen alle Ordnung zu treiben wagte.
– O, meinte Pieter Kip, in solchen Fällen sind die englischen Gesetze außerordentlich streng. Es kommt hier ja die Sicherstellung der Handelsschiffahrt in Frage, und es sollte mich sehr wundern, wenn Flig Balt ohne zehn Jahre Bagno in der Strafanstalt von Port-Arthur davonkäme!«
Vin Mod fletschte vor Wut die Zähne und sprach für sich:
»Zehn Jahre Bagno erwarten Sie freilich nicht, meine Herren, und bevor Flig Balt dahin geschickt wird – wenn es überhaupt so weit kommt – hat er Sie schon am höchsten Galgen von Hobart-Town baumeln sehen!«
Pieter Kip richtete noch eine weitere Frage an seinen Bruder.
»Weiß Herr Hawkins schon, daß du zum Obersteuermann auf dem ›Skydnam‹ ernannt worden bist?
– Ich wollte ihm die gute Neuigkeit sofort mitteilen, antwortete Karl Kip, doch es war schon spät und er befand sich nicht mehr in seinem Kontor.
– Dann gehen wir also morgen zu ihm, Karl.
– Jawohl, so frühzeitig, wie möglich.
– Und nun gute Nacht, lieber Bruder...
– Gute Nacht.«
Wenige Augenblicke später lag das Zimmer in tiefer Finsternis und Vin Mod konnte sich ungefährdet davonschleichen.
Als er in sein Zimmer eingetreten war, und bevor er nach seiner Gewohnheit den Great Old Man verließ, um sich nach dem Gasthause zu den Fresh-Fishs zu begeben, schloß er sorgfältig seinen Schrank ab, der seine Papiere und verschiedene andere Gegenstände, darunter den Kriß enthielt, den er sich vom Wracke der »Wilhelmina« angeeignet hatte.
Unterwegs murmelte er noch für sich:
»Vor dem dreiundzwanzigsten denken sie nicht an Bord des ›Skydnam‹ zu gehen... gut. Am einundzwanzigsten hat Flig Balt vor dem Seegericht zu erscheinen... auch gut. Nun heißt's, die Tage nicht verwechseln. Am Abend des zwanzigsten muß die Sache ausgeführt sein... freilich ist es notwendig, daß Flig Balt davon Nachricht erhält... doch wie wird das möglich sein?...«[244]
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