[165] Der Wind, der gegen fünf Uhr abends aus Osten wehte und den der »Repton« hatte benutzen wollen, hielt nicht dauernd an. Nach Sonnenuntergang flaute er ab und legte sich zuletzt gänzlich. Die Bewegung des Wassers verminderte sich bis zum leichten Plätschern an der Oberfläche. Dann trat wieder der dicke Nebel ein, der diesen Theil des Stillen Oceans schon seit achtundvierzig Stunden eingehüllt hatte.
Der »Saint Enoch« war gerade in dem Augenblicke aufgestoßen, wo die Mannschaft die Boote niederlassen wollte. War das ein Unfall von der gleichen Natur wie der, der den Untergang des »Repton« verschuldet hatte, und war das englische Fahrzeug – weniger glücklich als der »Saint Enoch« – auf eine wirkliche Klippe gerannt?[165]
Gleichviel: Wenn der »Saint Enoch« auch nicht gesunken war, so war er doch wenigstens gestrandet. Da ferner die Gefahr vorlag, daß er dennoch untergehen könnte, war es unmöglich, die Boote zur Rettung der englischen Seeleute auszusenden.
Der erste Eindruck, den Bourcart und seine Leute von dem Vorfalle empfanden, war der einer namenlosen Bestürzung.
Wie hatte es überhaupt zu einer Strandung kommen können?... Der »Saint Enoch« hatte ja von der gegen fünf Uhr aufgesprungenen Brise noch kaum etwas verspürt. An einer Klippe konnte er nur auflaufen, wenn er in eine Strömung gerathen war, von der niemand etwas ahnte und die dann auch nicht erkannt worden wäre.
Hier waren gewisse unerklärliche Verhältnisse im Spiele, und doch war es jetzt nicht die Zeit dazu, eine Erklärung zu versuchen.
Der Stoß war, wie gesagt, nur schwach gewesen. Nach wiederholtem Aufstoßen des Hintertheils aber, wobei übrigens nicht einmal das Steuer beschädigt wurde, wälzte sich eine ungeheuere Wassermenge über das Schiff hinweg. Glücklicherweise wurden seine Masten dabei nicht gelockert und die Stagseile und die Wanten blieben ohne Beschädigung.
Da auch der Boden keine Havarie erlitten hatte, schien es nicht, wie der »Repton«, von einem Untergange bedroht zu sein. Vielleicht fehlten ihm überhaupt nur wenige Zoll Wasser, wieder flott zu werden, und kam es mit dem Eintritte der Fluth schon allein wieder los.
Infolge des Stoßes waren nur die den Walfisch haltenden Ketten gesprengt werden, und die Strömung führte die Reste der Beute hinweg.
Jetzt hatte man aber anderes zu thun, als sich wegen eines Verlustes von hundert Faß Thran zu beunruhigen. Da der »Saint Enoch« gestrandet war, galt es zunächst, ihn womöglich aus seiner schlimmen Lage zu befreien.
Bei diesem Unfalle hütete sich der Meister Ollive aber weislich, Jean-Marie Cabidoulin mit Stichelreden zu reizen. Der Böttcher hätte ihm doch nur erwidert:
»Laß es nur gut sein... das ist doch nur der Anfang vom Ende!«
Inzwischen berathschlagten sich Bourcart und der Obersteuermann über die Lage.
»Es giebt doch keine Untiefen in diesem Theile des Stillen Oceans, sagte Heurtaux.[166]
– Mir fehlt es auch an jeder Erklärung, antwortete Bourcart; doch das eine ist gewiß, daß zwischen den Kurilen und Alëuten keine solche eingetragen ist.«
Thatsächlich zeigten selbst die neuesten Seekarten keine Angaben über Untiefen oder Klippen in dem Theile des Oceans, wo der hundertzwanzigste und der hundertsechzigste Meridian den fünfzigsten Breitengrad schneiden. Seit sechzig Stunden hatte der Nebel freilich den Kapitän Bourcart am Aufnehmen eines Bestecks gehindert. Nach seiner letzten Beobachtung befand er sich aber über zweihundert Meilen von den Alëuten entfernt, und es war doch kaum anzunehmen, daß der Wind oder eine Strömung – seit der Lagenberechnung am 19. October – ihn so weit rückwärts verschlagen hätte.
Dennoch hätte er kaum anderswo als an den am weitesten hinausreichenden Klippen der Alëuten auffahren können.
Bourcart begab sich nach der Officiersmesse, breitete hier die Seekarten vor sich aus und studierte sie nach allen Seiten; mit dem Zirkel bestimmte er auch annähernd die Stelle, wo sich, wenn er drei Tage Fahrt in Rechnung zog, sein Schiff jetzt befinden mußte. Doch selbst wenn er einen Irrthum um zweihundert Meilen annahm, traf er in der Richtung nach den Alëuten noch auf keine Risse.
»Könnte denn, warf da der Doctor Filhiol ein, nicht nach der Herstellung dieser Karten an der Stelle, wo wir liegen, ein Aufsteigen des Grundes stattgefunden haben?
– Eine Erhebung des Meeresbodens?«... antwortete Bourcart, der diese Hypothese nicht ganz abzuweisen schien.
War sie denn mangels jeder anderen nicht etwa annehmbar? Warum könnte sich der Meeresboden nicht entweder langsam durch dauernden Auftrieb oder vielleicht auch plötzlich, unter der Einwirkung plutonischer Kräfte, fast bis zur Wasserfläche gehoben haben? An derartigen tellurischen Erscheinungen fehlt es ja nicht in Gegenden, wo noch eine eruptive Thätigkeit herrscht. Die Gegend hier lag obendrein in der Nachbarschaft eines vulcanreichen Archipels. Erst vor dritthalb Monaten hatte man ja auf der Fahrt dahin die Flammen aus dem Chilchaldinskoi auf der Insel Unimak emporlodern sehen.
Obwohl diese Erklärung aber in gewissem Maße annehmbar erschien, wies die Mehrzahl der Mannschaft, wie sich bald zeigen wird, sie doch von sich.
Auf welche Ursache die Strandung des »Saint Enoch« indeß zurückzuführen sein mochte... die Thatsache selbst war unbestreitbar. Beim Sondieren[167] vom Vorder- und vom Hinterdeck aus fand der Meister Ollive nur vier bis fünf Fuß Wassertiefe.
Die erste Sorge des Kapitäns Bourcart war es gewesen, den Frachtraum sorgfältig zu besichtigen. Jean-Marie Cabidoulin und der Zimmermann Ferut hatten sich schon überzeugt, daß die Bordwand kein Wasser zog, daß also infolge des Stoßes kein wahrnehmbares Leck entstanden war.
Jedenfalls mußte man bis zum nächsten Tage warten, ehe die Natur dieses bisher unbekannten Riffs des Stillen Oceans bestimmt werden konnte, und vielleicht gelang es, den »Saint Enoch« vor dem Eintreten schlechteren Wetters davon abzubringen.
Die Nacht schien kein Ende nehmen zu wollen. Weder die Officiere zogen sich in ihre Cabine zurück, noch die Mannschaften ins Volkslogis. Man mußte ja jeden Augenblick auf alles bereit sein. Dann und wann strich der Kiel kratzend über das Riff – konnte er nicht vielleicht unter dem Einflusse der Strömung davon abkommen? Und konnte es nicht möglich sein, daß das Schiff auf der Seite, nach der es geneigt war, weiter abglitt und damit wieder zum Schwimmen kam?
Aus Vorsicht hatte der Kapitän Bourcart übrigens die Boote aufs Meer setzen und sie mit Nahrungsmitteln so reichlich wie möglich beladen lassen, für den Fall, daß es nothwendig würde, den »Saint Enoch« aufzugeben. Man konnte ja immerhin noch in die Zwangslage kommen, sich dieser zu bedienen, um das nächstgelegene Land zu erreichen. Das waren aber die Alëuteninseln, wenn das Schiff nicht durch ganz unbegreifliche Ursachen völlig aus seinem Curs verschlagen worden war. Dieses drohte übrigens nicht zu kentern, was vielleicht zu befürchten gewesen wäre, wenn der Walfisch noch an seiner Seite gehangen hätte.
Außer auf andere Möglichkeiten, durch die der »Saint Enoch« hätte abgebracht werden können, rechnete der Kapitän Bourcart vor allem auf die Fluth, obwohl er wußte, daß der Gezeitenunterschied im ganzen Stillen Ocean nicht eben groß war. Wer konnte aber wissen, ob das Ansteigen des Wassers um wenige Zoll nicht schon ein Wiederflottwerden herbeiführte? Es hatte ja nicht den Anschein, daß das Fahrzeug weit hinauf auf die Klippe gefahren war, an der es eigentlich nur mit der Ferse festhing.
Gegen elf Uhr hatte die Fluth angefangen, sich fühlbarer zu machen, und um zwei Uhr nach Mitternacht mußte Hochwasser sein. Der Kapitän und seine Officiere beobachteten voller Spannung das Steigen des Wassers, das sich[168] durch ein, in der so stillen Nacht leicht hörbares Anschlagen der Strömung bemerkbar machte.
Leider trat, als das Wasser den höchsten Stand erreicht hatte, keine Aenderung ein. Wohl erhielt der »Saint Enoch« einige leichte Erschütterungen und schleifte der Kiel ein wenig auf dem Grunde hin und her, das war aber auch alles. An diesem Datum des Octobers waren die Hochfluthen der Zeit der Tag- und Nachtgleiche schon vorbei, und die Aussicht auf ein Wiederfreikommen verminderte sich mit jedem weiteren Mondumlaufe.[169]
Wenn nun erst die Tiefebbe eintrat, lag ja gar die Befürchtung nahe, daß sich die Verhältnisse noch verschlechtern könnten. Das Schiff neigte sich voraussichtlich, je mehr das Wasser zurücksank, desto mehr auf die Seite, und dann war am Ende sein Kentern doch nicht ausgeschlossen.
Die Besorgniß hierüber wich nicht vor halbfünf Uhr morgens. Uebrigens hatte der Kapitän Bourcart, um auf jede Möglichkeit vorbereitet zu sein, schon die Raaen der Bramsegel niederholen lassen, um sie als Stützen zu verwenden, sie brauchten aber nicht gegen die Schiffswand gestemmt zu werden.
Kurz vor sieben Uhr färbte ein röthlicher Schein die Dunstmassen im Osten. Die über den Horizont emporsteigende Sonne vermochte sie noch nicht aufzulösen, und auf das Takelwerk senkte sich ein feuchter Niederschlag.
Natürlich suchten alle, die Officiere auf dem Hinterdeck, die Matrosen auf dem Vorderkastell, etwas durch den Nebel auf der Seite zu erkennen, nach der das Schiff geneigt lag, um möglichst bald mit dem Boot um dieses herumfahren zu können. Jedem lag ja daran, sich zu überzeugen, ob das Riff etwa eine sehr große Ausdehnung habe, ob es nur eine ebene Untiefe bilde oder ob bei niedrigem Wasser vielleicht gar der obere Theil von Felsen frei herausragte.
Vorläufig blieb es jedoch unmöglich, weiter als bis auf einige Meter über die Schanzkleidung hinaus etwas zu erkennen. Jedenfalls hörte man aber auch keine Brandung, die jede Strömung an Gesteinsmassen erzeugt, welche nahe an die Oberfläche des Meeres heranreichen.
Es war also nichts zu thun, ehe der Nebel nicht verschwand, und das geschah vielleicht, wie an den vorhergehenden Tagen, wenn die Sonne sich der Mitagshöhe näherte. Erlaubten es dann die Umstände, so wollte Bourcart versuchen, die Lage des Schiffes mittels Sextanten und Chronometers zu bestimmen.
Noch immer empfahl es sich, den Frachtraum vollständiger zu untersuchen. Meister Cabidoulin und der Zimmermann Ferut, die eine Anzahl Fässer von hinten her weiter nach vorn geschafft hatten, überzeugten sich aufs neue, daß nirgends Wasser eingedrungen war. Weder die Spanten nach die Bordwand hatten bei dem Aufstoßen nachgegeben. Von einer ernsteren Havarie konnte also keine Rede sein. Beim Hervorrollen der Fässer sagte sich der Böttcher aber, daß es wohl nicht zu umgehen sein werde, sie aufs Deck zu hissen und ins Meer zu werfen, um das Gewicht des Schiffes zu vermindern.
Die Morgenstunden vergingen, der Himmel wurde aber noch nicht klar. Eine oberflächliche Untersuchung, die Bourcart und der Obersteuermann im[170] Umkreise einer halben Kabellänge vom »Saint Enoch« vornahmen, gab keinen Aufschluß über Natur und Gestalt des Risses.
Vor allem galt es, nachzuweisen, ob es sich in der Nähe eines Landes befand, woran die Boote landen könnten, wenn es nothwendig würde, das Schiff zu verlassen. Bourcart konnte freilich nicht annehmen, daß ein Festland oder eine Inselgruppe nahe dieser Gegend läge. Der Doctor hatte eben eine diesbezügliche Frage an ihn gerichtet.
»Nein, Herr Filhiol, antwortete er überzeugten Tones, erst vor wenigen Tagen hab' ich, wie ich Ihnen schon sagte, ein zuverlässiges Besteck aufnehmen können. Eben hab' ich meine Rechnungen noch einmal geprüft; sie sind genau, wir liegen ohne Zweifel gegen zweihundert Meilen von der äußersten Landspitze der Kurilen.
– Dann komme ich auf meine Muthmaßung zurück, erwiderte der Doctor Filhiol. Es wird ein Aufsteigen des Meeresbodens stattgefunden haben, auf dem der »Saint Enoch« aufgefahren ist.
– Das wäre wohl möglich, gab Bourcart zu, denn ich kann es nicht glauben, daß ein Irrthum oder ein Fehler im Steuern uns soweit nach Norden zurückverschlagen hätte.«
Es war wirklich ein beklagenswerther Umstand, daß sich kein Wind erheben zu wollen schien. Erstens hätte dieser den Nebel weggefegt und den Himmel klar gemacht, und vielleicht, wenigstens wenn er aus Westen wehte, dem »Saint Enoch«, der dann alle Segel gehißt hätte, von dem felsigen Grunde abgedrängt.
»Wartet nur, Kinder, wartet nur! wiederholte öfters der Kapitän Bourcart, der es wohl bemerkte, daß die Ungeduld und die Unruhe seiner Leute zunahm. Ich hoffe, daß der Nebel am Nachmittage aufsteigen wird, und dann werden wir über unsere Lage bald Aufschluß haben. Voraussichtlich kommen wir ohne großen Schaden davon!«
Als die Voll- und die Leichtmatrosen ihre Blicke aber auf Jean-Marie Cabidoulin richteten, sahen sie, wie er den dicken, buschigen Kopf schüttelte, ein Zeichen, daß er diese frohe Zuversicht nicht theilte, und das war für sie gar nicht beruhigend. Um bei der wieder steigenden Fluth zu verhindern, daß deren von Osten her andringende Welle das Fahrzeug noch weiter auf das Riff schieben könne, wollte Bourcart in Uebereinstimmung mit dem Obersteuermann nach jener Himmelsgegend hin einen Wurfanker auslegen lassen.[171]
Meister Ollive und zwei Matrosen machten eines der Boote klar, um diese weise Maßregel unter der Leitung des Lieutenants Allotte auszuführen.
Das Boot stieß ab, während man ihm die Ankerkette vom »Saint Enoch« aus nachlaufen ließ.
Auf Anordnung des Kapitäns Bourcart ließ der Lieutenant in fünfzig Fuß Entfernung vom Schiffe eine Bleisonde einsinken. Zu seiner größten Ueberraschung aber fand er, selbst als zwanzig Faden Schnur abgelaufen waren, keinen Grund.
Die Sondierungen wurden an dieser Seite an verschiedenen Stellen wiederholt, doch immer mit dem gleichen Erfolge: das Senkblei traf nirgends auf den Boden.
Unter solchen Umständen einen Anker fallen zu lassen, wäre nutzlos gewesen, da er doch keinen Halt gewonnen hätte. Aus dem Befunde aber ließ sich schließen, daß das Riff, wenigstens auf dieser Seite, sehr steil abfiel.
Das Boot kehrte zurück und der Lieutenant Allotte erstattete dem Kapitän seinen Bericht.
Bourcart zeigte sich nicht wenig erstaunt. Seiner Annahme nach mußte das Riff vielmehr sehr sanft abfallende, weit hinausreichende Seiten haben, da die Strandung fast ohne Erschütterung erfolgt war, als wenn das Schiff dabei über einen wenig geneigten Boden hingestrichen wäre. Nun mußten Sondierungen rund um den »Saint Enoch« vorgenommen werden, um so gut wie möglich die Ausdehnung des Riffs und die Tiefe des Wassers über ihm zu erfahren. Jetzt bestieg Bourcart das Boot, und zwar mit dem Obersteuermann, dem Oberbootsmann und zwei Matrosen. Sie hatten zu dem Senkblei eine Leine mitgenommen, die zweihundert Faden lang war. Wie bei dem Versuche des Lieutenants Allotte, zeigte sich auch hier, daß die Leine nicht bis zum Grunde hinabreichte. Man mußte also auf das Auslegen eines Ankers verzichten, mittels dessen man durch Drehung des Spills das Schiff heranzuziehen und vielleicht abzuschleppen gedacht hatte.
»Kapitän, schlug Heurtaux vor, wir thäten wohl besser, nur ganz in der Nähe des Schiffsrumpfes zu sondieren.
– Das ist auch meine Ansicht,« antwortete Bourcart.
Meister Ollive setzte den Bootshaken in eine der Rüsten nach der anderen ein und führte das Boot so, daß es den Rumpf höchstens in fünf bis sechs Fuß Entfernung umkreisen mußte. Von drei zu drei Metern ließ der Obersteuermann[172] die Sonde untersinken. Nirgends erreichte sie, selbst bei zweihundert Faden Leinenlänge, den Boden. Das Riff hatte also einen sehr beschränkten Umfang und ragte bis auf ein oder zwei Toisen unter der Meeresfläche auf. Das bedeutete demnach, daß der »Saint Enoch« auf die Spitze eines bisher unbekannten Felskegels aufgefahren war.
Immer weiter verstrichen die Stunden, nichts deutete aber auf ein bevorstehendes Verschwinden des Nebels Bourcart wollte deshalb versuchen, zur Zeit der höchsten Fluth sein Schiff mit Hilfe der Boote abzuschleppen. Wurde es von rückwärts her gezogen, so war es ja vielleicht möglich, es bei Hochwasser wieder flott zu machen.
Dieses Manöver kam unter den günstigsten Verhältnissen zur Ausführung. Die sechs Boote vereinigten sich zu gemeinsamer Arbeit und die Matrosen ruderten mit allen ihnen zu Gebote stehenden Kräften. Das Schiff rückte ein wenig zurück... kaum um einen Fuß... das war alles, was dabei erreicht wurde, und schließlich verlor die Mannschaft alle Hoffnung, es von dem Riff abbringen zu können.
Was die Boote aber nicht vermocht hatten, was sollte, wenn es jetzt nicht noch durch den Wind zu stande kam, aus dem »Saint Enoch« bei dem ersten schweren Wetter werden? Er wäre auf dem felsigen Grunde hin und her geschleudert worden, und dann konnten von ihm bald nur noch formlose Trümmer übrig sein. Und zu dieser Jahreszeit dauerte es gewiß nicht mehr lange, bis die schweren Stürme ausbrachen, die über diesem Theile des Stillen Oceans oft so furchtbar toben.
Jetzt blieb nur noch eines übrig, wieder flott zu werden. Der Kapitän mußte sich, nach reiflicher Ueberlegung und nachdem er darüber mit seinen Officieren und den Meistern verhandelt hatte, am Ende wohl oder übel dazu entschließen, er verschob die Ausführung jedoch um einige Stunden, da kein Zeichen für einen Witterungsumschlag vorhanden war. Dieses Auskunftsmittel hatte zum Zwecke, das Schiff dadurch zu erleichtern, daß seine Ladung über Bord geworfen wurde. Von acht- bis neunhundert Faß Thran befreit, hob es sich vielleicht weit genug, bei der Fluth abzuschwimmen.
Man wartete in der Hoffnung, daß sich der Nebel heute wie am Tage vorher im Laufe des Nachmittags zerstreuen werde.
Das war auch einer der Gründe, woraufhin Bourcart seinem Plane, die Fracht zu opfern, nicht sofort Folge gab. Wenn das Schiff dadurch auch wieder[173] zum Schwimmen kam, hätte man es doch nicht durch den Nebel steuern können. Daraus, daß die Sondierungen so große Tiefen rings um das Riff ergeben hatten, ging doch noch keineswegs mit Sicherheit hervor, daß sich nicht weitere Risse in der Nähe befanden, an denen der »Saint Enoch« aufs neue stranden konnte. Kaum eine Meile von hier war ja der »Repton« aufgefahren, und das so unglücklich, daß er fast sofort unterging.
Dieser Gedankengang, der sich jedem aufdrängte, erinnerte aufs neue an den englischen Walfänger. Vielleicht waren doch mehrere seiner Insassen dem Schiffbruche entgangen, vielleicht bemühten sich einzelne Boote noch immer, den »Saint Enoch« aufzufinden. Bourcart und die Mannschaften lauschten auf jedes Geräusch.
Doch kein Ruf ließ sich hören, jedenfalls hatte sich also auch nicht einer von den Matrosen aus dem schrecklichen Unfalle retten können.
Wiederum vergingen drei Stunden. Da jetzt Ebbe eingetreten war, konnte man nicht erwarten, daß das Schiff allein wieder flott würde. Uebrigens war der Unterschied zwischen Hoch- und Niedrigwasser nur recht unbedeutend. Das Riff konnte außer zur Zeit der Syzygien gewiß niemals frei hervortreten. Heurtaux hatte sogar nachweisen können, daß das Wasser, wie einige am Schiffsrumpfe angebrachte Merkzeichen ergaben, kaum gesunken war, und wenn ganz in der Nähe des Schiffes sondiert wurde, traf man immer etwa bei fünf Fuß Tiefe auf den unebenen Grund.
Das war also die Sachlage... wie würde sie enden? Sollte der »Saint Enoch« seine Fahrt noch einmal aufnehmen können oder würden seine Insassen sich gezwungen sehen, ihn zu verlassen, ehe ein Orcan ihn zertrümmert hatte? An Bord befanden sich dreiunddreißig Menschen, die mit einem für mehrere Tage ausreichenden Vorrath an Nahrungsmitteln in den Booten alle Platz finden konnten. Doch in welcher Entfernung lag die nächste Küste?... Und wenn nun bis zu dieser mehrere hundert Meilen zurückzulegen waren?
Bourcart entschloß sich jetzt, seine Ladung zu opfern. Um mehrere hundert Tonnen erleichtert, erhob sich das Schiff bei Hochwasser vielleicht so weit, daß es von der Mannschaft abgeschleppt werden konnte.
Als diese Entscheidung getroffen war, machten sich die Matrosen an die Arbeit, freilich mit einigem Murren über das Mißgeschick, mit der Fracht auch ihren Antheil an dem Ertrage der zweiten Campagne verloren gehen zu sehen.[174]
Meister Ollive leitete das traurige Werk. Mittels Flaschenzügen, die über den Luken angebracht wurden, hißte man die Fässer aufs Deck und warf sie dann ins Meer. Einige davon versanken sofort. Andere, die durch den Aufschlag auf das Riff in Stücke gingen, entleerten sich ihres Inhalts, der wieder nach der Wasseroberfläche emporstieg. Der »Saint Enoch« war bald von einer Fettschicht umgeben, als hätte man Oel ausfließen lassen, um die Wellen in einem Sturme zu glätten. Kaum je war das Meer so ruhig wie jetzt gewesen: nicht die leiseste Wellenbildung an seiner Oberfläche oder an den Rändern der Untiefe, obwohl Heurtaux das Vorhandensein einer von Nordosten kommenden Strömung nachweisen konnte.
Die Gezeiten mußten bald wieder wechseln. Die Entlastung des Schiffes konnte ihre Wirkung natürlich erst zeigen, wenn das Wasser wieder seinen höchsten Stand erreicht hatte. Da man bis dahin drei Stunden vor sich hatte, mußte die Arbeit bis zum erwünschten Zeitpunkte beendigt sein. Dann war aber keine Zeit zu verlieren, oder der »Saint Enoch« lag auch noch bis tief in die Nacht hinein fest, und es war doch entschieden besser, bei Tageslicht von dem Risse abkommen zu können. Fast achthundert Faß aus dem Frachtraume herauszuschaffen, das erfordert jedoch geraume Zeit, von der Anstrengung dabei gar nicht zu reden.
Gegen fünf Uhr war die Hälfte der Arbeit gethan. Die Fluth war schon um drei bis vier Fuß gewachsen, und man hätte wohl erwarten können, daß der zum Theil entlastete »Saint Enoch« sich schon aufrichten werde, er blieb aber noch immer unbeweglich.
»Das mag der Teufel wissen, wetterte da Meister Ollive, es sieht aber wahrlich aus, als ob unser Schiff hier auf der Stelle angenagelt wäre.
– Und Du wirst die Nägel auch nicht herausziehen, murmelte Jean-Marie Cabidoulin.
– Was sagst Du, Alter?
– Nichts... gar nichts!« antwortete der Böttcher, der eben ein leeres Faß ins Meer warf.
Auch die Hoffnung, an die man sich immer geklammert hatte, daß der Nebel sich zerstreuen werde, sollte nicht in Erfüllung gehen. Die Finsterniß schien durch die Dunstmassen noch tiefer werden zu sollen. Wenn sein Schiff nun bei der nächsten Fluth nicht flott wurde, wußte der Kapitän Bourcart kaum noch, wie er aus diesem gefährlichen Meerestheile fortkommen sollte.[175]
Kurz nach sechs Uhr, als schon etwas Halbdunkel herrschte, hörte man von Westen her, wo es noch ein wenig heller war, laute Rufe.
Der auf dem Vorderkastell stehende Meister Ollive trat an Bourcart, der sich auf dem Hinterdeck aufhielt, heran.
»Kapitän, sagte er, hören Sie... hören Sie?... Halt... dort draußen.. es scheint...
– Ja, ja, dort rufen Leute,« setzte der Lieutenant Coquebert hinzu.
Unter der Mannschaft machte sich einige Aufregung bemerkbar.
»Ruhe!« befahl Bourcart.
Alle lauschten gespannt.
Wirklich drangen, jetzt noch von fernher, wiederholte Rufe bis aufs Schiff. Ohne Zweifel galten sie dem »Saint Enoch«.
Auf ein Zeichen des Kapitäns wurde darauf Antwort gegeben.
»Ohe!... Ohe!... Hierher!«
Waren das nun Eingeborene, die sich von einer benachbarten Insel auf ihren Piroguen näherten, oder handelte es sich vielleicht um die Ueberlebenden vom »Repton«, deren Boote sich wahrscheinlich schon seit gestern bemühten, trotz des Nebels den französischen Walfänger aufzusuchen?
Diese – an sich auch die wahrscheinlichste – Vermuthung sollte sich bestätigen.
Einige Minuten später lagen, durch die Zurufe und durch Gewehrschüsse auf den rechten Weg geleitet, zwei Boote längseits des »Saint Enoch«.
Es waren die Boote des »Repton« und darin saßen, den Kapitän King eingerechnet, dreiundzwanzig Mann von dessen Besatzung.
Die auch von Anstrengung erschöpften Leute brachen vor Hunger fast zusammen, da sie bei der Schnelligkeit der Katastrophe hatten keine Lebensmittel mitnehmen können. Nach vierundzwanzigstündigem Umherirren waren sie jetzt vor Hunger und Durst fast dem Tode nahe.
Die Ueberlebenden vom »Repton« wurden herausgeholt und von Bourcart mit der Höflichkeit empfangen, die ihm einmal eigen war, obgleich er sich in diesem Falle wegen des Vorhergegangenen gewiß zu beklagen berechtigt war. Ehe er sich mit Fragen an den Kapitän King wandte, ehe er diesen etwas ausforschte, unter welchen Umständen sein Schiff zu Grunde gegangen wäre, und auch ehe er ihm über die Lage des »Saint Enoch« weiteren Aufschluß gab, ließ er den neuen Passagieren vor allem Speise und Trank vorsetzen.[176]
Der Kapitän King wurde nach der Cajüte geführt, seine Leute begaben sich hinunter ins Volkslogis.
Dreizehn Mann fehlten von der Mannschaft des Kapitäns King, dreizehn, die beim Schiffbruche des »Repton« den Tod im Meere gefunden hatten.[177]
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