Dreizehntes Capitel.
Eine bewegliche Klippe.

[178] Als der Kapitän King und seine Leute beim »Saint Enoch« angelangt waren, lag dieser in einem so dichten Nebel, daß jene, wenn die Rufe der Bootsinsassen nicht gehört wurden, jedenfalls an dem Risse vorbeigefahren wären. Steuerten die Engländer nach Süden weiter, so hätten sie weder auf die asiatische, noch auf die amerikanische Küste treffen können. Selbst eine dauernde Zerstreuung des Nebels durch Winde angenommen, wäre es ihnen unmöglich gewesen, noch eine hunderte von Meilen lange Fahrt nach Osten oder Westen auszuführen. Ohne Schiffszwiebak, den Hunger zu stillen, und ohne Süßwasser, den Durst zu löschen, wäre nach achtundvierzig Stunden kein einziger Mann vom »Repton« mehr am Leben gewesen!

An Officieren und Matrosen waren sechsunddreißig Mann auf dem »Repton« gewesen. Dreiundzwanzig hatten sich mittels der Boote gerettet, und diese ergaben nun zusammen mit dem, seit dem Tode des Matrosen um einen verminderten Personal des »Saint Enoch« sechsundfünfzig Köpfe. Wenn es dem Kapitän nun aber nicht gelang, sein Schiff von dem Risse abzubringen, welches Schicksal stand dann ihm selbst und seinen alten und neuen Gefährten bevor? Selbst wenn Land, ein Festland oder eine Insel, in der Nähe gewesen wäre... die Schiffsboote hätten doch nicht alle aufnehmen können. Beim ersten Sturmwind aber – und solche sind in dieser Gegend des Stillen Oceans gar häufig – mußten die hier meist riesengroßen Wogen, die dann am Risse emporbrandeten, den »Saint Enoch« in wenigen Minuten zertrümmern. Man mußte also bereit sein, das Fahrzeug jeden Augenblick zu verlassen. Dann gingen aber die Lebensmittel, die Bourcart in Vancouver zu erneuern gedacht hatte, gewiß vorzeitig zu Ende, sobald sie die durch die Schiffbrüchigen des »Repton« auf das Doppelte gestiegene Zahl der Insassen des Fahreuges ernähren sollten.

Die Schiffsuhren zeigten die achte Stunde. Noch immer deutete nichts auf Wind, als die Sonne hinter dem dichten Nebelschleier versunken war. Die mehr und mehr fortschreitende Nacht sollte voraussichtlich ganz ruhig, doch auch[178] völlig finster sein. Es war kaum zu erwarten, daß das Schiff in der Hochwasserzeit abgehoben würde, vorzüglich auch, weil die nächste Fluthhöhe die vorhergegangene schon nicht mehr erreichte, und es war überdies nicht möglich, das Schiff noch weiter zu entlasten, wenn nicht noch seine Takelage sammt den Masten geopfert werden sollte.

Das erkannte der Kapitän King, als er mit Bourcart, Heurtaux, dem Doctor Filhiol und den beiden Lieutenants in der Cajüte verweilte. Hatten er und seine Leute hier Zuflucht an Bord gefunden, so war ihre Rettung damit nicht gesichert. In naher Zukunft konnte ja dem »Saint Enoch« dasselbe Los, wie vorher dem »Repton«, bescheert sein.

Von Wichtigkeit war es nun zu hören, unter welchen Umständen das englische Schiff zu Grunde gegangen war. Der Kapitän King berichtete darüber Folgendes:

Der »Repton« lag, von der Windstille betroffen, mitten im Nebel, als gestern eine Oeffnung in diesem den »Saint Enoch« drei Meilen unter dem Winde zu erkennen gestattete. Warum der »Repton« dem französischen Walfänger nachgesegelt war, ob etwa in mehr oder weniger feindlicher Absicht und um die Angelegenheit wegen des von den beiden Mannschaften harpunierten Walfisches zum Austrag zu bringen, darüber sprach sich der Kapitän King nicht aus.

Es war auch nicht die geeignete Zeit, Anklagen und Forderungen zu erheben. Er begnügte sich vielmehr zu berichten, daß der »Repton«, als nur noch eine Seemeile die Schiffe trennte, einen furchtbaren Stoß erlitt. Sein Rumpf wurde am Boden der Backbordseite dadurch eingeschlagen und stromweise ergoß sich das Wasser hinein. Der Obersteuermann Stroh und ein Dutzend von der Mannschaft wurden, die einen über Bord geschleudert, die anderen durch die niederbrechenden Masten erschlagen. Der Kapitän King und die übrigen wären ebenso sicher umgekommen, wenn sich nicht gerade zwei Boote schon auf dem Meere befunden hätten, die diese – dreiundzwanzig Mann – aufnahmen. Ueber vierundzwanzig Stunden irrten die Ueberlebenden vom »Repton« aufs Gerathewohl umher und ohne irgendwelche Lebensmittel, nur bemüht, den »Saint Enoch« zu entdecken, und es war ein reiner Zufall, daß sie ihn an seiner Strandungsstelle fanden.

»Doch was ich mir nicht erklären kann, fuhr der Kapitän King, der ganz geläufig Französisch sprach, fort, ist, daß sich in der hiesigen Gegend ein Riff[179] befindet. Ich war von meiner Lage bezüglich der Länge und Breite ganz zuverlässig unterrichtet.

– Wie ich von der meinigen, antwortete Bourcart, und wenn hier keine unterseeische Bodenerhebung stattgefunden hat...

– Das ist offenbar die einzig annehmbare Hypothese, flocht Heurtaux ein.

– Jedenfalls, Kapitän, fuhr King fort, ist der »Saint Enoch« weniger unglücklich gewesen als unser »Repton«..

– Das wohl, gab Bourcart zu, doch wie und wann wird er wieder unter Segel gehen können?

– Er hatte doch keine schweren Havarien erlitten?

– Nein, sein Rumpf ist völlig unversehrt. Es sieht aber aus, als wäre er an das Riff hier festgenietet, denn selbst nach Aufopferung unserer ganzen Last ist er auch bei Hochwasser davon nicht losgekommen.

– Was soll nun da geschehen?« fragte der Kapitän King, dessen Blick sich nacheinander auf Bourcart und dessen Officiere richtete.

Die Frage blieb ohne Antwort. Was die Besatzung bis jetzt versucht hatte, den »Saint Enoch« wieder flott zu machen, war erfolglos geblieben. Würden etwa die Elemente zustande bringen, was die Menschen nicht vermochten? Schiffte man sich in den Booten ein, so ging man dem gewissen Verderben entgegen. Im Norden, wie im Osten und Westen lag eine hunderte von Meilen lange Wasserwüste, die bis zu den Kurilen oder den Alëuten reichte. Schon nahte sich das Ende des Octobers und bald mußte hier die gewohnte schlechte Witterung eintreten. Schwache, unbedeckte Boote waren dieser auf Gnade oder Ungnade preisgegeben, der erste Sturm hätte sie vernichtet. Sechsundfünfzig Menschen fanden darin ohnehin nicht Platz. Welche Aussicht auf Rettung hatten aber die dann noch zurückbleibenden Leute, wenn sie nicht von einem Schiffe aufgenommen wurden, das diesen Theil des Stillen Oceans zufällig kreuzte?

Da stellte der Doctor Filhiol an den Kapitän King folgende Frage:

»Als wir Petropawlowsk zusammen verließen, haben Sie ohne Zweifel gehört, daß die von der See heimkehrenden Fischer von der Anwesenheit eines Seeungeheuers sprachen, vor dem sie eiligst geflohen wären?

– Ja gewiß, antwortete der Kapitän King, und ich muß leider gestehen, daß sich die Mannschaft des »Repton« dadurch sehr in Schrecken jagen ließ.

– Die Leute glaubten also an die Existenz dieses Ungethüms? fragte Heurtaux.[180]

– Sie glaubten, es handle sich um einen Calmar, einen Kraken, einen riesigen Octopus, und ich sehe nicht ein, warum sie nicht etwas dergleichen hätten glauben sollen.

– Nun, einfach deshalb, antwortete der junge Arzt, weil es keine solchen Octopen, keine Kraken und keine Calmare giebt, Herr Kapitän.

– Sprechen Sie sich nicht mit solcher Sicherheit aus, Herr Filhiol, bemerkte Romain Allotte.

– Verstehen wir uns nur recht, lieber Lieutenant. Man hat wohl von derartigen Ungeheuern berichtet, hat auch einzelne davon verfolgt und sie sogar an Bord gehißt. Diese hatten aber niemals die Größe, die man ihnen nachsagte und die auf reiner Einbildung beruht. Riesengeschöpfe ähnlicher Art, die etwa ein Boot zertrümmern könnten, diese mag man zur Noth zugestehen, doch daß die imstande wären, ein Fahrzeug von mehreren hundert Tonnen ins Meer hinunterzuziehen... nein... nein... davon kann keine Rede sein!

– Das ist ganz meine Ansicht, stimmte Bourcart ein. Mit solcher Kraft ausgestattete Ungeheuer gehören zu den Fabelwesen.

– Die Fischer von Petropawlowsk, fiel der Lieutenant Coquebert ein, sprachen aber von einer ungeheueren Seeschlange, die sie selbst gesehen hätten...

– Jawohl, sagte der Kapitän King, und darüber waren sie so entsetzt, daß sie Hals über Kopf nach dem Hafen entflohen.

– Doch sagen Sie, fragte der Doctor Filhiol weiter, ist Ihnen seit Ihrer Abreise aus Petropawlowsk diese Briaree mit fünfzig Köpfen und hundert Armen, dieser Nachkomme des berüchtigten Riesen des Alterthums, erschienen, der den Himmel bedrohte und den Neptun deshalb im Aetna einsperrte?

– Nein, Herr Doctor, gestand der Kapitän King ein. Immerhin hat der »Saint Enoch«, ebenso wie der »Repton« gewiß mancherlei Seetriften angetroffen, wie Trümmer von Booten und todte Walfische, die nicht harpuniert zu sein schienen. Wäre es denn nun nicht möglich, daß das Seeungeheuer, von dem man in Petropawlowsk berichtete, diese Verwüstungen angerichtet hätte?

– Das ist nicht nur möglich, sondern mehr als wahrscheinlich, erklärte der Lieutenant Allotte, wenn es unser Kapitän und der Doctor auch nicht zugeben wollen.

– Ich bitte Sie, Lieutenant! erwiderte der Arzt, so lange ich es nicht gesehen, nicht mit meinen eigenen Augen gesehen habe, glaub' ich nimmermehr daran![181]

– Jedenfalls, richtete Bourcart das Wort wieder an den Kapitän King, schreiben Sie den Verlust des »Repton« doch nicht dem Angriffe eines Kraken, eines Calmars oder einer Seeschlange zu?

– Nein, antwortete der Kapitän King, nein, ich wenigstens nicht. Und doch soll unser Schiff, nach der Behauptung mehrerer meiner Leute, von riesigen Armen, von furchtbaren Scheren gepackt und dadurch zum Kentern und zum Versinken gebracht worden sein. Die Leute sprachen davon, als wir in den Booten nach dem »Saint Enoch« suchten.

– Oh, fiel Bourcart ein, die Reden Ihrer Matrosen werden wohl auch bei mir an Bord ein Echo finden. Die Mehrzahl unserer Mannschaft hat sich zu dem Glauben bekehren lassen, daß solche Ungeheuer existierten. Der Böttcher hat niemals aufgehört, ihnen allerlei Geschichten darüber vorzupredigen. Seiner Ansicht nach ist die Zerstörung des »Repton« einem ganz außergewöhnlichen Thiere zuzuschreiben, einem Geschöpfe, das halb Octopus, halb Schlange wäre. Bis zum Beweise des Gegentheils beharre ich freilich dabei, daß unsere Fahrzeuge auf neuentstandene Riffe aufgefahren sind, die auf den Seekarten des Stillen Oceans noch nicht eingezeichnet sind.

– Daran ist meiner Ansicht nach gar nicht zu zweifeln, setzte der Doctor Filhiol hinzu, mag Jean-Marie Cabidoulin darüber fabulieren, was und wieviel er will!«

Es war inzwischen neun Uhr abends geworden. Die Hoffnung, daß der »Saint Enoch« in der Nacht loskommen könnte, ließ sich kaum noch aufrecht erhalten. Die Fluth blieb ja, wie schon erwähnt, hinter der vorhergehenden Tide zurück. Um indeß nichts zu vernachlässigen, ließ der Kapitän Bourcart die Boote aussetzen und mit den stärksten Spieren versorgen. Es war ja nutzlos, an eine weitere Erleichterung des Schiffes zu denken, ohne von den Masten die Stengen und die Bramstengen niederzuholen. Das wäre eine schwere Arbeit gewesen, und angenommen, daß der »Saint Enoch« dadurch flott würde, was mußte aus ihm werden, wenn ihn das bevorstehende schlechte Wetter fast entmastet überraschte? Am nächsten Tage jedoch, wenn der Nebel verschwand, wenn die Sonne eine genaue Ortsbestimmung ermöglichte und man die allgemeine Sachlage übersehen konnte, sollte eine weitere Entscheidung getroffen werden.

Uebrigens dachten Bourcart und seine Officiere gar nicht daran, sich Ruhe zu gönnen. Auch die Mannschaften lagen ausgestreckt auf dem Deck, ins Volkslogis hinunter hatte sich keiner begeben. Die Unruhe hielt die Leute wach.[182]

Nur einige der Leichtmatrosen hatten vergeblich gegen den Schlaf angekämpft. Auch Donnerschläge hätten sie nicht erweckt, so wenig wie die meisten Matrosen des »Repton«, die vor völliger Erschöpfung eingeschlafen waren. Der Meister Ollive ging mit großen Schritten auf dem Hinterdeck hin und her, während sich eine Gruppe von fünf bis sechs Matrosen um den Böttcher gesammelt hatte, und was dieser erzählte, das kann man sich ja leicht genug vorstellen.

Die in der Cajüte gepflogene Unterhaltung lief auf das gewöhnliche Ergebniß hinaus, wonach die einen das Vorkommen eines solchen Ungeheuers, wie es gesehen worden sein sollte, hartnäckig behaupteten und die anderen es ebenso bestimmt ableugneten. Der Doctor Filhiol und der Lieutenant Allotte kamen bei dem Gespräch schon ein wenig in die Hitze.

Da fand der Streit unerwarteterweise ein schnelles Ende.

»Achtung!... Achtung! rief Heurtaux, der blitzschnell aufgesprungen war.

– Das Schiff hat sich gehoben, setzte der Lieutenant Coquebert hinzu.

– Es wird flott werden... es schwimmt schon!« versicherte Romain Allotte, dessen Klappsessel, auf dem Fußboden hingleitend, unter ihm fast verschwand.

Der Rumpf des »Saint Enoch« war durch mehrere Stöße erschüttert worden. Es schien so, als ob der auf der Oberfläche des Risses hinstreichende Kiel sich gehoben hätte. – Das Schiff schwankte wiederholt nach Back- und nach Steuerbord und nahm nicht mehr die stark geneigte Lage ein, wie vorher.

In einem Augenblicke waren Bourcart und die Uebrigen aus der Cajüte hinausgestürmt.

Inmitten der schwarzen Nacht, die der Nebel noch mehr verfinsterte, schimmerte nirgends ein Lichtschein und flimmerte kein einziger Stern. Kein Hauch bewegte die Luft. Das Meer hob und senkte sich kaum in einer sanften Dünung, und am Rande der Klippe brandete nicht die kleinste Welle.

Noch ehe Bourcart auf dem Deck erschienen war, hatten sich die Matrosen in aller Eile erhoben. Auch diese sagten sich, als die Stöße bemerkbar wurden, daß das Schiff wohl vom Grunde loskommen werde. Nach wiederholten seitlichen Schwankungen hatte sich der »Saint Enoch« leicht aufgerichtet. Das Steuerruder gerieth so stark in Bewegung, daß Meister Ollive dessen Rad festbinden lassen mußte.

Da mischten sich die Ausrufe der Mannschaft mit denen des Lieutenants Allotte:

»Es schwimmt!... Es schwimmt!« ertönte es von allen Seiten.


Mit solcher Kraft ausgestattete Ungeheuer gehören zu den Fabelwesen. (S. 181.)
Mit solcher Kraft ausgestattete Ungeheuer gehören zu den Fabelwesen. (S. 181.)

Ueber die Schanzkleidung gelehnt, suchten der Kapitän Bourcart und der Kapitän King die dunkle Meeresfläche zu beobachten. Worüber sie aber, und übrigens alle, die sich davon Rechenschaft gaben, am meisten erstaunten, war die Thatsache, daß jetzt gerade Tiefebbe herrschte. Die Aufrichtung des Fahrzeu[183] ges auf seinen Kiel konnte dem Stande des Wassers also nicht zugeschrieben werden.

»Was ist hier geschehen? wendete sich Heurtaux fragend an den Meister Ollive.

– Das Schiff ist jedenfalls infolge seiner Entlastung in Bewegung gekommen, antwortete dieser, und ich fürchte, es wird dabei das Steuer einbüßen.


Eine furchtbare Woge thürmte sich an dem »Saint Enoch« auf (S. 191.)
Eine furchtbare Woge thürmte sich an dem »Saint Enoch« auf (S. 191.)

– Und jetzt?..

– Jetzt, Herr Heurtaux, sitzen wir ebenso fest, wie vorher!«

Bourcart, der Doctor Filhiol und die Lieutenants begaben sich nach dem erhöhten Theile des Hinterdecks, und ein Matrose brachte ein Paar brennende Laternen, so daß man einander wenigstens sehen konnte.

Vielleicht hatte der Kapitän den Gedanken, einen Theil der Leute in die Boote zu beordern, um einen erneuten Versuch zur Abschleppung des »Saint Enoch« zu machen. Da das Fahrzeug aber wieder festlag, sagte er sich, daß das eine vergebliche Mühe sein werde. Jedenfalls erschien es rathsamer, die nächste bei Tageslicht eintretende Fluth abzuwarten und erst, wenn sich die Erschütterungen vielleicht wiederholten, mit einem Abschleppungsversuch zu beginnen.

Welche Ursache und welche Folgen die ersten Stöße gehabt hätten, blieb vorläufig völlig unerklärlich. Ebenso wußte eigentlich niemand, ob sich der Schiffskiel von dem felsigen Grunde ein wenig abgehoben habe oder mit dem Hintersteven jetzt noch fester aufsitze, worauf die drohende Zerstörung des Steuerruders ja hinwies.

»Das letztere muß wohl der Fall sein, äußerte Bourcart gegen den Obersteuermann, denn wir wissen, daß das Meer rings um die Klippe sehr tief ist.

– Vielleicht, Kapitän, meinte Heurtaux, genügte eine Rückwärtsbewegung um wenige Fuß, das Schiff wieder flott zu machen. Doch wie sollten wir eine solche zustande bringen?

– Gewiß ist doch das eine, antwortete Bourcart, daß sich die Lage des Schiffes verändert hat, und wer weiß, ob es nicht noch diese Nacht oder morgen bei der Fluth allein wieder frei kommt?

– Darauf möcht' ich nicht rechnen, Kapitän, denn die Fluthöhe nimmt jetzt mehr ab statt daß sie sich vergrößerte. Und wenn wir erst den Neumond abwarten wollen...

– Müßten wir freilich acht Tage unter den jetzigen Verhältnissen liegen bleiben, Heurtaux. Bei ruhigem Meere liefe der »Saint Enoch« dann ja keine ernstere Gefahr. Freilich wird das Wetter wohl bald umschlagen, und auf solche Nebelperioden folgen meist sehr heftige Stürme.

– Das schlimmste ist noch, bemerkte der Obersteuermann, daß wir nicht einmal wissen, wo wir uns befinden.

– Wenn am nächsten Vormittag die Sonne, und wäre es nur eine Stunde lang, zum Vorschein kommt, werde ich ein Besteck machen, und das wird über unsere[187] Ortslage Aufschluß geben. Immerhin, lieber Heurtaux, können Sie sich darauf verlassen, daß wir zur Zeit der Strandung noch im richtigen Curs waren. Nein, die Strömungen haben uns nicht etwa zu weit nach Norden verschlagen. Ich komme deshalb immer auf die Erklärung zurück, die mir als die annehmbarste erscheint. Da es ganz ausgeschlossen ist, daß die Seekarten nur infolge eines Versehens diese Klippe nicht enthielten, muß sie erst unlängst entstanden sein.

– Das glaub' ich auch, Kapitän, das Unglück ist nur, daß der »Saint Enoch« sich darauf festgefahren hat.

– Ganz wie der »Repton« auf einer ähnlichen Klippe, schloß Bourcart. Gott sei Dank, ist unser Schiff dabei nicht ebenso zu Grunde gegangen, und ich hoffe noch immer, es wieder flott zu bekommen.«

So lautete die Erklärung, die Bourcart gab, und der sich Heurtaux, der Doctor Filhiol, der Bootsmann und wahrscheinlich auch der Kapitän King, willig anschlossen. Die beiden Lieutenants sprachen sich darüber nicht aus. Die Anschauung der Mannschaft aber trat bald unter folgenden Umständen zu Tage:

Um den Fuß des Großmastes gelagert, waren die Leute im Gespräch begriffen. Sie sahen nur eines: daß die Stöße nämlich nicht vom Meere ausgegangen sein konnten, da dieses vollkommen ruhig war, und auch nicht durch die Gezeiten, da während der Ebbe sogar noch weniger Wasser über der Untiefe stand. Die Stöße hatten sich überdies nicht mehr wiederholt, und wenn sich der »Saint Enoch« auch an Backbord ein wenig aufgerichtet hatte, so lag er doch jetzt wieder unbeweglich still. Diese Bemerkungen gingen von dem Harpunier Pierre Kardek aus, der schließlich sagte:

»Dann muß sich eben die Klippe... ja, dann muß sich die Klippe selbst bewegt haben.

– Die Klippe? riefen zwei oder drei seiner Kameraden.

– Sapperment, Kardek, entgegnete der Schmied Gille Thomas, hältst Du uns denn für Landratten, die sich solche Flausen aufbinden ließen?«

Diese Antwort schien den Nagel auf den Kopf zu treffen. Eine Klippe, die sich bewegte wie eine Boje, die wie ein Schiff auf bewegtem Meere schlingerte und stampfte!... Nein, dergleichen durfte man nicht vor wackeren Seeleuten aussprechen, die über alles, was das Meer betraf, unterrichtet waren. Gewiß hätte kein einziger von diesen zugegeben, daß eine unterseeische Bewegung diese Stelle des Stillen Oceans zum Rütteln gebracht habe.[188]

»Das erzähle anderen! rief der Zimmermann Ferut. Ich habe ja in meiner früheren Thätigkeit als Maschinist schon allerlei Wunder gesehen, wir sind hier aber nicht auf der Bühne der Großen Oper oder des Chatelet-Theaters. Zeige mir doch einen, der eine Klippe hin und her schütteln könnte, wenn diese nicht gerade aus Pappe oder bemalter Leinwand besteht!

– Gut abgefertigt, ließ sich der Harpunier Louis Thiébaud vernehmen, nicht einmal ein Leichtmatrose an Bord würde an solche Märchen glauben!«

Ja, Thiébaud mochte wohl recht haben, doch statt diese immerhin natürliche Erklärung anzunehmen, waren die Mannschaften vielmehr für die unwahrscheinlichste zugänglich.

Da sagte der Harpunier Jean Durut, und laut genug, daß es Bourcart auf dem Hinterdeck, wo er sich noch befand, hören konnte:

»Das ist aber noch nicht das wichtigste! Mag die Klippe gewackelt haben oder nicht, uns liegt daran, zu wissen, ob wir von ihr wieder loskommen.«

Damit traf ja Durut, was allen im Kopfe herumging; natürlich konnte darauf aber keine Antwort gegeben werden.

»Alle Wetter, fuhr Ferut spöttisch lächelnd fort, nur nicht alle auf einmal reden? Wird der »Saint Enoch« hier für immer und ewig festkleben, wie die Auster an ihrer Bank?

– Nein, ertönte da eine den Leuten wohlbekannte Stimme.

– Waren Sie es, Meister Cabidoulin, der eben »Nein« rief?

– Jawohl... ich!

– Sie behaupten also, daß unser Schiff schließlich noch flott wird?

– Ja.

– Und wann?

– Wenn das Ungeheuer es will.

– Welches Ungeheuer? riefen gleichzeitig mehrere Voll- und Leichtmatrosen.

– Ei nun, das Ungeheuer, das den »Saint Enoch« gepackt hat und ihn in seinen Armen oder Scheeren festhält... das Ungeheuer, das ihn am Ende fortschleppen wird, wenn's ihn nicht in die Tiefen des Stillen Oceans hinunterzerrt!«

In diesem Augenblicke kam es den Leuten nicht in den Sinn, Jean-Marie Cabidoulin wegen seiner Kraken oder Seeschlangen zu hänseln. Es schien vielmehr, als habe der Böttcher recht gegenüber dem Kapitän Bourcart, dem Doctor Filhiol, überhaupt gegen Alle, die sich bisher gewehrt hatten, seine Anschauung der Dinge zu theilen.[189]

Der Meister Ollive rief aber dennoch:

»Bist Du fertig... alter Schwätzer?«

Darauf erhob sich ein Murmeln... die Mannschaft hielt offenbar zu dem Böttcher.

Allen, die ihm zugehört hatten, erschien seine Rede so gut wie ein Beweis. Ein furchtbares Ungeheuer verwüstete diese Meeresgegend, und jedenfalls dasselbe, das die Fischer von Petropawlowsk in Angst gejagt hatte. Dieses Ungethüm hatte die Boote zerschmettert und die Schiffsrumpfe zerstört, von denen man noch treibende Ueberreste gesehen hatte; es hatte auch die Walfische aufgeschlitzt, die da und dort todt auf dem Meere trieben. Dasselbe hatte sich auch auf den »Repton« gestürzt und ihn hinabgezogen, und hatte auch den »Saint Enoch« gepackt, den es in seinen furchtbaren Banden festhielt.

Bourcart, der Cabidoulin's Worte gehört hatte, fragte sich, ob dessen Erklärungen nicht eine Panik hervorrufen würden. Der Obersteuermann und die Officiere verließen mit ihm den erhöhten Theil des Hinterdecks.

Es war die höchste Zeit... vielleicht gar schon zu spät!

Der Schreck drohte den Mannschaften ihre Kaltblütigkeit zu rauben. Der Gedanke, sich in der Gewalt eines unbekannten, furchtbaren Thiers zu befinden, machte sie aufsässig gegen die Einreden und die Befehle ihres Kapitäns. Sie hörten dann wohl auf nichts mehr und suchten sich schon in die Boote zu retten. Einzelne ihrer Vormänner, die den Kopf verloren hatten, gingen darin mit ihrem Beispiele voran.

»Halt!... Halt!... rief der Kapitän Bourcart. Dem ersten, der das Schiff zu verlassen versucht, zerschmettere ich den Kopf!«

Durch das Fenster seiner Cabine ergriff er einen darin auf dem Tische liegenden Revolver.

Heurtaux und die Lieutenants Coquebert und Allotte schlossen sich ihrem Vorgesetzten an. Meister Ollive mengte sich unter die Matrosen, um die Ordnung aufrecht zu erhalten. Der Kapitän King... auf den hörten seine Leute überhaupt nicht mehr.

Wie sollte man aber die Leute im Zaume halten, die sich vor dem Gedanken entsetzten, durch ein Ungeheuer in die Abgründe des Oceans versenkt zu werden!

Jetzt erfolgten auch neue Stöße, die das Schiff so erschütterten, daß es von einer Seite zur anderen schwankte. Die Masten ächzten und knarrten in ihrer Spur. Einige Pardunen rissen entzwei. Die Ruderpinne wurde so heftig hin und[190] her geworfen, daß eines der Raabänder zersprang, und das Rad drehte sich mit solcher Gewalt, daß es zwei kräftige Männer nicht hätten festhalten können.

»In die Boote!... In die Boote!«

So ertönte der allgemeine Ruf, und doch hätten in den Booten gar nicht alle Platz finden können.

Bourcart sah ein, daß er nicht mehr Herr an Bord sein werde, wenn er gegen den Urheber der Unordnung nicht mit aller Strenge einschritt. Er trat also auf den am Großmast stehenden Böttcher zu.

»Sie sind es, Cabidoulin, donnerte er ihn an, den ich für alles Kommende verantwortlich mache!

– Mich... Kapitän?

– Jawohl. Sie allein!«

Dann wendete er sich an den Meister Ollive.

»Legt ihn in Eisen, und hinunter mit ihm in den Frachtraum!«

Da und dort wurde ein leiser Widerspruch laut. Der Böttcher aber antwortete mit ruhiger Stimme:

»Mich... in Eisen legen... Kapitän? Etwa weil ich die Wahrheit gesprochen habe?

– Die Wahrheit? rief Bourcart.

– Ja, die Wahrheit!« wiederholte Jean-Marie Cabidoulin.

Und wie um seine Worte zu bestätigen, hob sich das Schiff in einer starken Schlingerbewegung eben seiner ganzen Länge nach. Gleichzeitig wurde einige Kabellängen weit im Süden ein entsetzliches Fauchen hörbar, dann thürmte sich eine furchtbare Woge an dem »Saint Enoch« auf, und mit unberechenbarer Geschwindigkeit wurde er über die Meeresfläche hingerissen.[191]

Quelle:
Jules Verne: Die Historien von Jean-Marie Cabidoulin. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXX, Wien, Pest, Leipzig 1902, S. 178-185,187-192.
Lizenz:

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