[192] Wohin trieb nun, den Bug einmal nach Nordosten, das anderemal nach Nordwesten gewendet, der »Saint Enoch« unter der Wirkung eines Motors von unglaublicher Kraft, der an seine Seiten geheftet war?
Bei der tiefen Dunkelheit ließ sich gar nichts erkennen. Der Kapitän Bourcart und seine Officiere bemühten sich vergebens, sich wenigstens über die Richtung klar zu werden. Die Mannschaft war wie vom Schrecken gelähmt. Kein einziges Boot mehr hing an den Dävits, da deren Seile in dem Augenblick gerissen waren, wo sich das Schiff in Bewegung setzte.
Der »Saint Enoch« flog inzwischen mit so rasender Schnelligkeit dahin, daß die Leute durch den Druck der Luft fast niedergeworfen worden wären. Sie mußten sich deshalb längs der Schanzkleidung ausstrecken, am Fuße der Masten anklammern oder sich an Blöcken halten, und auf dem erhöhten Hinterdeck konnte niemand bleiben, ohne die Gefahr, über Bord geschleudert zu werden. Die meisten Matrosen flüchteten sich aber ins Volkslogis oder suchten unter dem Vorderkastell Schutz zu finden. Bourcart, der Kapitän King, der Doctor Filhiol, der Obersteuermann und die beiden Lieutenants zogen sich in die Cajüte zurück. Auf dem Deck zu verweilen, war mit zu großer Gefahr verbunden, da die Masten herunterzustürzen drohten.
Was wäre jetzt auch zu thun gewesen?... Inmitten der pechschwarzen Nacht sah und hörte man sich fast selbst nicht mehr. Fortwährend ertönte das greuliche Schnaufen und Fauchen, untermischt mit dem scharfen Pfeifen der Luft in der Takelage, obgleich draußen kein Windhauch wehte. Wäre ein so stürmischer Wind aufgesprungen, so hätte er den dichten Nebel zerstreut und durch die Risse der Wolken hätte man dann und wann einen Stern blinken sehen.
»Nein, nein, sagte Heurtaux, das Wetter ist noch so still wie vorher, und die heftige Luftbewegung, die wir empfinden, kommt nur von der Schnelligkeit des Schiffes her.
– Dann muß das Ungeheuer aber, rief der Lieutenant Allotte, ganz unglaubliche Kräfte haben![192]
– Ungeheuer... Ungeheuer!« murmelte Bourcart für sich hin.
Und trotz des fast auf der Hand liegenden Beweises wollte er, ganz wie der Doctor Filhiol, der Obersteuermann und der Meister Ollive, an die Existenz eines solchen, an eine riesige Schlange oder einen ungeheueren Saurier noch immer nicht glauben, nicht glauben, daß irgendwelches Geschöpf ein Schiff von fünf hundert Tonnen so pfeilgeschwind mit sich wegschleppen könnte.
Mochte eine Mascaret, eine Riesenwoge, die durch eine unterseeische Bewegung erzeugt wurde, hier im Spiele sein, mochte eine Fluthwelle mit unglaublicher Gewalt dahin stürmen, alles wollte er glauben, nur nicht die sinnlosen Geschichten Jean-Marie Cabidou lin's.
Die Nacht verlief unter gleichbleibenden Verhältnissen. Weder Richtung noch Stellung des Schiffes hatte sich verändert. Beim ersten Morgengrauen wollten sich der Kapitän Bourcart und seine Gefährten über den Zustand des Meeres unterrichten. Hatte der Böttcher doch etwa recht, dann hätte man vielleicht einzelne Theile des Ungethüms sehen oder es vielleicht gar tödten können, um das Schiff aus seiner schrecklichen Umklammerung zu befreien. Doch gehörte es wohl zu jener Art der Cephalopoden, die man als Octopen, als Achtfüßler kennt und die einen Pferdekopf mit Geierschnabel und Fangarme haben, die sich dicht um den Rumpf des »Saint Enoch« geschlungen hatten? Gehörte es nicht vielmehr zu der Klasse von Gliederthieren, die mit einem festen Panzer bedeckt sind, zu den Ichthyosauren, Plesiosauren oder Riesenkrokodilen? Oder war es einer der Calmars, der Kraken oder der »Mantas«, die man in gewissen Gegenden des Atlantischen und des Stillen Oceans gesehen haben wollte, und denen man eine ganz unglaubliche Größe zuschrieb?
Der Tag war angebrochen, ein bleicher Tag mit dickem Nebel. Nichts ließ annehmen, daß dieser sich zerstreuen oder an Durchsichtigkeit gewinnen werde.
Die Geschwindigkeit des »Saint Enoch« war noch immer so groß, daß einem die Luft wie Hagelkörner ins Gesicht schlug, so daß an ein Verweilen auf dem Deck nicht zu denken war. Bourcart und seine Officiere mußten in die Cajüte zurückkehren. Der Meister Ollive, der bis an die Schanzkleidung vordringen wollte, mußte das aufgeben und wurde so gewaltsam zurückgeschleudert, daß er sich bald an der Treppe zum erhöhten Hinterdeck schwer verletzt hätte.
»Alle Teufel! rief er, als die beiden Lieutenants ihn aufgehoben hatten, ich glaubte schon, nicht mehr imstande zu sein, für den alten Querkopf, den Cabidoulin, die verwettete Flasche bezahlen zu können.«[195]
Der Kapitän Bourcart hatte inzwischen bemerkt, daß der der Quere nach gepackte »Saint Enoch« so stark über Backbord geneigt wurde, daß er zu kentern drohte.
Selbstverständlich hatte die Mannschaft das Volkslogis oder den Raum unter dem Vorderkastell noch nicht wieder verlassen. Es wäre, vorzüglich bei dem dicken Nebel, sehr schwierig gewesen, vom Vordertheile des Schiffes nach dessen Hintertheile zu gelangen. Zum Glück enthielt die Cambüse genug Nahrungsmittel an Schiffszwieback oder Conserven, um wenigstens die Ernährung an Bord sicher zu stellen.
»Was beginnen wir nun? fragte der Obersteuermann.
– Das werden wir ja sehen, Heurtaux, antwortete Bourcart. Diese Lage der Dinge kann doch nicht ewig währen!
– Wenn wir nur nicht bis ins Eismeer verschleppt werden, ließ sich der Lieutenant Allotte vernehmen.
– Und wenn der »Saint Enoch« nur zusammenhält!« setzte der Lieutenant Coquebert hinzu.
Zu einem fürchterlichen Schnaufen, das aus dem Ocean heraufzudringen schien, gesellte sich eben ein entsetzliches Krachen.
Der Meister Ollive, der sich mit Aufgebot aller Kräfte bis zur Thür der Cajüte vorarbeitete, rief da hinein:
»Die Maste brechen herunter!«
Jetzt konnte sich kein Mensch auf das Deck wagen. Wanten, Pardunen und Stagseile waren bei dem stoßweisen Stampfen und Schlingern zerrissen. Die Bram- und die Oberbramstengen waren gleich mit allen Raaen heruntergestürzt. Einige davon wurden noch von den Flaschenzügen festgehalten und schlugen gegen das Schiff an, daß dessen Wand zertrümmert zu werden drohte. Nichts hatte mehr Stand gehalten, als die Untermaste mit ihren Marsen, woran die zerzausten Segel so heftig anschlugen, daß sie bald in Fetzen davonflatterten. Das in dieser Weise abgetakelte Schiff verlor aber nichts an seiner Schnelligkeit, und die Trümmer folgten ihm bei seiner rasenden Flucht nach dem Norden des Stillen Oceans.
»Ach, mein armer »Saint Enoch«!« kam es mit einem Seufzer von Bourcart's Lippen.
Bisher hatte er noch immer die Hoffnung bewahrt, daß sein Schiff die unterbrochene Fahrt wieder aufnehmen könnte, wenn es nur erst in normale[196] Verhältnisse gekommen wäre. Selbst die Existenz eines Seeungeheuers zugegeben, lag es doch auf der Hand, daß dieses, so mächtig es auch sein mochte, nicht die Kraft hatte, den »Saint Enoch« unter die Wasserfläche zu ziehen, denn sonst würde das bereits geschehen sein. Es mußte also doch schließlich ermüden und würde nicht so weit kommen, sich selbst und das Schiff an der asiatischen oder der amerikanischen Küste zu zerschmettern.
Ja, Bourcart hatte bis dahin noch gehofft, daß sein Schiff aus dieser unheimlichen Lage unverletzt hervorgehen werde. Doch wozu würde es jetzt noch taugen, wo es keine Obermasten und keine Segel mehr hatte und wo an einen Ersatz dieser schweren Verluste nicht zu denken war?
Wahrhaftig, das war eine außergewöhnliche Lage, und Jean-Marie Cabidoulin hatte recht gehabt, als er einst sagte:
»Auf und von dem Meere hat man niemals alles gesehen, da bleibt immer noch etwas zu sehen übrig!«
Der Kapitän Bourcart und seine Officiere waren jedoch nicht die Leute, sich gleich der Verzweiflung hinzugeben. So lange der Schiffsrumpf unter ihren Füßen noch zusammenhielt, glaubten sie nicht jede Aussicht auf Rettung aufgeben zu sollen. Wenn sie nur etwas gegen die Todesangst ausrichten könnten, die die Mannschaften ergriffen hatte.
Die Chronometer zeigten jetzt die achte Morgenstunde, es waren also gegen zwölf Stunden verflossen, seit der »Saint Enoch« in Bewegung gekommen war.
Offenbar mußte die Zugkraft, welcher Art sie auch sein mochte, eine ungeheuere sein, und ebenso ungeheuer war die Schnelligkeit, womit das Schiff dahingerissen wurde. Uebrigens haben mehrere Gelehrte berechnet – was haben solche nicht schon alles berechnet und was werden sie nicht noch alles berechnen! – wie groß die Kraft einer ausgewachsenen Cetacee sei. Ein dreiundzwanzig Meter langer und etwa siebzig Tonnen schwerer Walfisch soll nach ihnen hundertvierzig Dampfpferdekraft, also soviel wie die Kraft von vierhundert lebenden Pferden, d. h. aber noch mehr haben, als heutzutage die vervollkommnetsten Locomotiven entwickeln.
Vielleicht lassen sich die Schiffe, wie der Doctor Filhiol sagte, dereinst noch von einem Gespann von Walfischen schleppen und die Luftballons von einem solchen von Adlern, Condors oder Geiern ziehen. Legt man aber die genannten Zahlen zu Grunde, so läßt sich leicht abschätzen, wie groß die mechanische[197] Kraft eines Seeungeheuers sein werde, das etwa vier-bis fünfhundert Fuß lang wäre. Als der Doctor Filhiol den Kapitän Bourcart fragte, wie hoch er die Geschwindigkeit des »Saint Enoch«, die sich völlig gleich geblieben zu sein schien, wohl schätze, erwiderte dieser:
»Sie kann nicht unter vierzig Lieues in der Stunde betragen.
– Dann hätten wir binnen zwölf Stunden also fast fünfhundert Lieues zurückgelegt?
– Ja... fast fünfhundert Lieues!«
Wenn das auch überraschend erscheint, so ist es doch gewiß, daß derartige Geschwindigkeiten und selbst noch größere beobachtet worden sind. Gerade aus dem Stillen Ocean wurde vor einigen Jahren von dem Commandanten einer Flottenstation über folgende Erscheinung berichtet:
Infolge eines sehr heftigen Erdbebens an der Küste von Peru wälzte sich von da aus eine ungeheuere Meereswoge bis nach der Küste Australiens. Gegen zwei Lieues lang, durchmaß diese Woge den dritten Theil des Erdumfangs mit einer unglaublichen Geschwindigkeit, der Schätzung nach mit der von hundertachtzig Metern in der Secunde oder sechshundertachtundfünfzig Kilometern in der Stunde. Zunächst gegen die zahlreichen Inselgruppen des Stillen Oceans geworfen und von einer weitreichenden Erschütterung des Meeresgrundes eingeleitet, prallte sie hier mit Donnerkrachen an die Ufer und fluthete, nachdem sie jedes Hinderniß zertrümmert oder aus dem Wege gedrängt hatte, eher noch wüthender weiter.
Bourcart wußte von diesem, seiner Zeit im »Journal du Havre« eingehend geschilderten Naturereigniß, und nach dessen Erwähnung gegen seine Gefährten fügte er noch hinzu:
»Es würde mich also gar nicht verwundern, wenn wir jetzt Zeugen und Opfer eines derartigen Ereignisses wären. Auf dem Grunde des Oceans könnte ein vulcanischer Ausbruch stattgefunden haben und dadurch die unbekannte Klippe entstanden sein, worauf der »Saint Enoch« gestrandet war. Ferner könnte sich, ganz wie bei dem Erdbeben in Peru, eine ungeheuere Woge, eine außerordentliche Fluthwelle gebildet haben, die uns erst von der Klippe losriß und uns nun nach Norden zu trägt...
– Meiner Ansicht nach, erklärte Heurtaux, der auch den Kapitän King diesen Worten zustimmend nicken sah, ist etwas derartiges weit annehmbarer, als das Vorhandensein eines Seeungeheuers...[198]
– Und obendrein, fuhr der Doctor Filhiol fort, eines Geschöpfes, das uns mit der Geschwindigkeit von vierzig Lieues in der Stunde mit sich fortreißen könnte.
– Alles recht schön, meinte der Meister Ollive, doch sagen Sie das nur Jean-Marie Cabidoulin, da werden Sie schon sehen, daß er von seinem Kraken, seinem Calmar oder seiner Seeschlange doch nicht abläßt.«
Es kam ja wenig darauf an, ob der Böttcher bei seinen Meerwundergeschichten blieb oder nicht. Wichtiger wäre eine Aufklärung darüber gewesen, bis zu welcher Breite der »Saint Enoch« an diesem Tage hinaufgeschleppt sein möge.
Bourcart nahm eine Seekarte zur Hand und suchte die Lage des Schiffes zu ergründen. Höchst wahrscheinlich war die tolle Fahrt immer nach Norden zu gegangen. Danach ließ sich annehmen, daß das Schiff, nachdem es seewärts von den Kurilen an deren letzter, nördlichster Insel vorübergekommen war, schon ins Behringsmeer verschlagen sein werde, sonst hätte es ja schon auf jenen Archipel oder, weiter im Osten, auf den der Alëuten treffen müssen. Aus dem Behringsmeere ragte keine Landmasse auf, die ihm hätte ein Hinderniß bieten können. Bei seiner ungeheueren Schnelligkeit konnte das Schiff sogar schon durch die kaum fünfzehn Lieues breite Behringstraße getrieben sein. Dann brauchte es von der Riesenwoge aber nur einige Meilen nach Osten oder Westen verschlagen zu sein, und es hätte gegen das Cap Orient an der Landveste Asiens oder an das Cap Prinz von Gallas an der amerikanischen Seite getrieben werden müssen. Da das nicht der Fall gewesen war, entstand die Frage, ob der »Saint Enoch« sich nun wohl schon im freien Eismeere befinden möge.
Dazu fragte der Doctor Filhiol den Kapitän Bourcart:
»In welcher Entfernung von der Klippe lag wohl das Polarmeer?
– Etwa siebzehn Breitengrade weit, antwortete der Kapitän, das ergäbe, den Breitengrad zu fünfundzwanzig Lieues gerechnet, nahezu vierhundertfünfundzwanzig Lieues.
– Dann, ließ sich Heurtaux vernehmen, könnten wir vom siebzigsten Breitengrade also nicht mehr weit entfernt sein!«
Der siebzigste Breitengrad ist der, der, allgemeiner Annahme nach, den Arktischen Ocean begrenzt, und zur jetzigen Jahreszeit mußte das polare Packeis schon ziemlich in der Nähe sein.
Die sechsundfünfzig auf dem »Saint Enoch« befindlichen Männer gingen offenbar einer schrecklichen Katastrophe entgegen: das Schiff verlor sich voraussichtlich[199] in der hyperboräischen Eiswüste. In dieser Breite mußte jenseits der Behringstraße schon unbewegliches Eis stehen, mußten sich Eisfelder, Eisberge und die undurchdringliche Packeiswand vorfinden.
Was sollte dann aus den Insassen des Schiffes werden, wenn sie nicht schon vorher bei einer heftigen Collision verschlungen worden waren? Welches Schicksal erwartete sie, wenn es ihnen auch gelang, auf ein Eisfeld zu flüchten oder selbst eine der Inselgruppen dieser Gegend zu erreichen, wie etwa Wrangelland oder eine andere Gruppe, die mehrere hundert Meilen von der Küste Asiensund Amerikas entfernt lag, oder wenn sie auf sonst ein unbewohntes und unbewohnbares Eiland trafen, wo sie dann doch aus Mangel an Nahrungsmitteln und infolge der furchtbaren Kälte, die vom October an im Eismeere zu herrschen pflegt, elend umkommen müßten? In solcher ungeschützten Lage zu überwintern, wäre nicht möglich gewesen, doch auf welche Weise hätten sie nach dem nordöstlichen Sibirien oder nach Alaska gelangen können?
Im Norden der Behringstraße, wo sich die oceanische Woge weiter ausbreiten konnte, mußten deren Kraft und Geschwindigkeit freilich abnehmen. Außerdem begann der Barometer auch stark zu fallen. Kam dann das Meer in heftige Eigenbewegung, wenn der Wind sich zum Sturm steigerte, so erschöpfte sich vielleicht die Gewalt der Erscheinung und der »Saint Enoch« gewann wieder seine freie Bewegungsfähigkeit. Immerhin fragte es sich, wie weit er, halb entmastet, den Stürmen zu Anfang des arktischen Winters Widerstand leisten könne und was schließlich aus ihm werden würde. Und welch' entsetzliche Aussichten für den Kapitän Bourcart und alle Uebrigen, auf ein Fahrzeug beschränkt zu sein, dessen sie nicht mehr Herr waren und das sich in dieser weltfernen Einöde zu verlieren drohte.
An dieser schrecklichen Sachlage konnten nun weder Thatkraft und Ueberlegung, noch Muth und Waghalsigkeit etwas ändern.
Der Morgen verging. Noch immer wurde der »Saint Enoch«, jetzt mit der Längsseite, dann wieder mit dem Vorder- oder dem Hintertheile voran, wie eine verlassene Seetrift steuerlos hinausgetragen. Noch schlimmer wurde die Lage dadurch, daß der Nebel jeden Ausblick unmöglich machte. Da ein Aufenthalt auf dem Deck gänzlich ausgeschlossen war, konnten Bourcart und seine Officiere den Zustand des Meeres nur durch die kleinen Fenster der Cajüte beobachten. Sie wußten also niemals, ob das Schiff in der Nähe eines Landes, an den Ausläufern des einen oder anderen Ufers der Behringstraße vorüberkam, oder ob sie irgend welcher Insel der arktischen Archipele zutrieben, an der der außergewöhnliche Wogenschwall, doch mit ihm auch der »Saint Enoch« zerschellen sollte.
Auf jeden Fall konnte das Ende nur ein bald bevorstehender Schiffbruch sein, den voraussichtlich keiner von den Insassen des Schiffes überlebte.
»Geh' doch zum Teufel, verwünschter Nebel, pack dich fort!« rief der Lieutenant Allotte.
Unter dem Einfluß des niedrigen Luftdrucks kam der Nebel am Nachmittage wirklich zum Verschwinden. Die Dunstmassen stiegen empor, und[203] wenn auch die Sonne verhüllt blieb, konnte man doch bis zum Horizont hinaus sehen.
Nachmittag gegen vier Uhr schien sich die Geschwindigkeit des »Saint Enoch« zu vermindern. Sollte er endlich frei kommen? – Freilich wäre er immer nur ein entmastetes Schiff, doch wenn es dem Kapitän Bourcart gelang, ein Nothsegel zu hissen, konnte er auch hoffen, wieder nach Süden zu gelangen.
»Alles... sagte Heurtaux, eher alles andere, als am Packeis elend zerschlagen zu werden!«
Eben wollte der Meister Ollive aus der Cajüte heraustreten, was ihm auch gelang, da der Druck der Luft nicht mehr so stark war. Bourcart, der Kapitän King, der Doctor Filhiol und die beiden Lieutenants folgten ihm nach und begaben sich, Flaschenzüge zum Anhalten ergreifend, nach der Schanzkleidung an Steuerbord.
Jean-Marie Cabidoulin, der Zimmermann, der Schmied, die Harpuniere und ein Dutzend Matrosen, Engländer und Franzosen durcheinander, kamen aus dem Logis hervor und nahmen auf dem Raume zwischen dem Schmelzofen und dem Bordrand Platz, um sich draußen umzusehen.
Der »Saint Enoch« wurde jetzt, den Bug nach Nordnordosten gewendet, auf dem Rücken der großen Woge hinausgetragen, deren Höhe ebenso abnahm, wie ihre Geschwindigkeit sich verminderte.
Nirgends war Land in Sicht.
Das Seeungeheuer, von dem der »Saint Enoch« seit zwanzig Stunden gepackt sein sollte, ließ – der Böttcher mochte sagen, was er wollte – nicht das mindeste von sich sehen.
Nun begannen auch alle wieder Hoffnung zu schöpfen und sich bei den ermuthigenden Worten des Kapitäns Bourcart zu beruhigen. Der Meister Ollive konnte sich schon nicht mehr enthalten, Jean-Marie Cabidoulin wegen seines Krokodil-Octopus-Krakokraken aufzuziehen.
»He... hast Deine Flasche verloren, Alterchen! sagte er, ihm auf die Schultern klopfend.
– Ich habe sie gewonnen, widersprach der Meister Cabidoulin, doch Du und ich werden nicht dazu kommen, sie zu trinken.
– Wie?... Du behauptest doch nicht, daß Dein Ungeheuer...
– Noch immer da ist... ja, wenn man nur gut hinsieht, ist einmal sein Kopf, ein andermal sein. Schwanz zu erkennen.[204]
– Pah... lauter Einbildungen aus Deinem verdrehten Schädel!
– Es hält uns noch in seinen Klauen... es wird uns auch nicht loslassen, und ich weiß sehr gut, wohin es uns verschleppt.
– Dahin, woher wir auch zurückkehren werden, Alter! erwiderte Meister Ollive. Nach der Flasche Tafia noch eine Flasche Rum, daß wir mit heiler Haut davonkommen!«
Jean-Marie Cabidoulin zuckte die Achseln und warf seinem Kameraden einen halb mitleidigen, halb verächtlichen Blick zu. Wenn er sich über die Reling hinausbog, glaubte der Mann thatsächlich, den Kopf des Ungeheuers zu sehen, einen Pferdekopf mit furchtbarem Schnabel, der aus einer dichten Mähne hervortrat, und dann, einige hundert Fuß weiter hin, den fürchterlichen Schwanz, der wüthend auf das Wasser schlug, so daß es in weitem Umkreise aufspritzte und schäumte. Die Leicht- und die Vollmatrosen sahen übrigens dasselbe, allerdings nur durch die Augen des in seinen Glauben verrannten Tonnenbinders.
Wenn sich im Norden auch kein Land zeigte, so trieben doch schon Eisschollen auf der weiten Wasserfläche umher. Kein Zweifel, der »Saint Enoch« befand sich im Polargebiete jenseits der Meerenge; um wie viele Grade über dem siebzigsten Breitengrade... das konnte nur durch eine Beobachtung festgestellt werden, die zu der jetzt zu weit fortgeschrittenen Tageszeit leider unmöglich war.
Kaum zehn Minuten später rief übrigens der Matrose Gallinet, der nach dem Stumpfe des Fockmastes hinaufgeklettert war:
»Eisfeld vor Backbord!«
Ein Ice-field dehnte sich wenigstens auf drei Meilen nach Norden hin aus. Eben und glatt wie ein Spiegel, warf es die letzten Strahlen der Sonne zurück. Weiter hinten zeigte sich die erste Packeismauer, deren höchste Punkte wohl hundert Toisen über die Meeresfläche aufragten. Auf dem Eisfelde schwirrte und tummelte sich eine ganze Welt von Vögeln umher, von Möven, Lummen, Fettgänsen und Fregattvögeln, während zahlreiche Seehundspaare an dessen Rändern lagen.
Das Eisfeld mochte noch drei bis vier Meilen entfernt sein, und der allmählich auffrischende Wind stand gerade darauf zu. Das Meer wogte auch jetzt stärker auf und ab, als es infolge der Brise allein möglich gewesen wäre, und das kam daher, daß die Riesenwelle sich noch immer unter den treibenden Eisflächen[205] fortwälzte. Jedenfalls brach sie sich gänzlich erst an der unerschütterlichen arktischen Packeiswand.
Wiederholt gurgelte auch noch ein mächtiger Wasserschwall über den »Saint Enoch« hinweg, dessen Schanzkleidung an einer Stelle durch den Sturz der Fockmaststenge zertrümmert worden war. Einmal wurde das Schiff dabei so weit auf die Seite geneigt, daß das Wasser bis zur Cajüte vordrang. Wenn jetzt die Lukendeckel des Frachtraumes nicht festgehalten hätten, wäre es dem Untergange geweiht gewesen..
Je weiter der Tag fortschritt, desto stürmischer wurde das Wetter und desto heftigere Windstöße brachen, von Schneetreiben begleitet, über das Schiff herein.
Gegen sieben Uhr abends wurde der »Saint Enoch« noch einmal hoch emporgehoben und dann auf das Eisfeld geschleudert, über dessen glatte Fläche er weiter glitt, bis er gegen die ersten Blöcke des Packeises prallte.
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