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[93] Die Bahnfahrt Pattersons und der Pensionäre der Antilian School war ganz nach Wunsch verlaufen. Alle hatten sich dabei für die kleinsten Vorkommnisse lebhaft interessiert. Die Reisegesellschaft glich einem Völkchen aus ihrem Käfig freigelassener, aber zahmer Vögel, die gewiß nach diesem zurückkehrten. Jetzt war der Ausflug freilich erst im Anfang.
Die jungen Leute unternahmen zwar nicht ihre erste Reise mit der Eisenbahn oder mit einem Schiffe – alle hatten ja den Atlantischen Ozean gekreuzt, als sie von den Antillen nach Europa kamen – doch deshalb konnte man noch lange nicht sagen, daß das Meer für sie keine Geheimnisse mehr habe. Sie bewahrten ja kaum noch eine Erinnerung an ihre frühere Überfahrt. Der älteste von ihnen hatte höchstens zehn Jahre gezählt, als er den Fuß auf Englands Boden setzte. Die Fahrt an Bord des »Alert« mußte also für alle den Reiz der Neuheit haben. Bei ihrem Mentor war es gar überhaupt das erste Mal, daß er sich – zu seiner größten Befriedigung – dem »treulosen« Elemente anvertraute.
»Hoc erat in votis!« rief er – achtzehnhundert Jahre nach Horaz.
Nach dem Verlassen des Bahnzuges in Bristol begab sich die kleine Gesellschaft nach dem Paketboote, das auf einem Wege von ungefähr dreihundertzwanzig Kilometern die regelmäßige Verbindung zwischen England und Irland vermittelte.
Diese Paketboote sind schöne, aufs beste ausgestattete und auch schnelllaufende Schiffe, denn sie legen in der Stunde etwas über vierzig Kilometer zurück. Gegenwärtig war die Witterung sehr ruhig und es wehte nur eine ganz leichte Brise. Gewöhnlich ist das Meer am Eingange des Sankt-Georgskanals, sobald man über Milford Haven hinausgekommen ist, sehr unruhig. Bis dahin ist dann zwar die Hälfte des Weges schon zurückgelegt, die zweite Hälfte macht sich den Passagieren aber oft genug noch recht unangenehm fühlbar. Diesmal schien es jedoch nur wie auf eine Lustfahrt über das stille Gewässer des Lac[93] Lomond und des Lac Catrine im Lande Rob Roys im romantischen Schottland hinauszulaufen.
Horatio Patterson hatte im Sankt-Georgskanal in keiner Weise zu leiden gehabt und zog daraus auch die günstigsten Schlüsse für die Zukunft. Seiner Rede nach hatte ein gesunder, kluger und energischer Mann wie er von der Seekrankheit überhaupt nichts zu fürchten.
»Was da, pflegte er zu sagen, hier heißt's nur, einen festen Willen zu haben, das ist das ganze Kunststück!«
Der Mentor und die Preisträger kamen also körperlich frisch und guten Mutes im Hafen von Queenstown an. Voraussichtlich blieb ihnen aber nicht Muße genug, diese Stadt zu besichtigen, oder Cork, der Hauptstadt, einen Besuch abzustatten.
Alle fühlten auch lebhaft das Verlangen, bald an Bord des »Alert« zu sein, auf das für sie gemietete Schiff – das ihnen gleichsam als Lustjacht dienen sollte – den Fuß zu setzen, sich jeder in seiner Kabine einzurichten, auf dem Deck vom Bug bis zum Heck zu spazieren, mit dem Kapitän Paxton und seinen Leuten Bekanntschaft anzuknüpfen, die erste Mahlzeit an der Tafel der gemeinschaftlichen Kajüte zu verzehren und dann die zur Abfahrt nötigen Arbeiten zu beobachten, bei denen sie, wenn es irgend nötig wäre, selbst mit Hand anlegen wollten.
Es konnte also gar nicht in Frage kommen, durch die Straßen von Queenstown zu schlendern, und wenn der »Alert« hier im Hafen gelegen hätte, würden sich Patterson und seine jungen Begleiter unverzüglich eingeschifft haben. Es war aber schon spät, fast neun Uhr; am nächsten Morgen sollte es nach der Farmarbucht weiter gehen.
Das bereitete eine kleine Enttäuschung, denn alle hatten gehofft, schon die erste Nacht an Bord zuzubringen, sich auf den wie »Schubladen einer Kommode« – sagte Tony Renault – übereinander angebrachten Lagerstätten auszustrecken, und es wäre doch eine Lust gewesen, in solchen Kasten zu schlummern.
Die Einschiffung mußte jedoch bis zum nächsten Tage verschoben werden. Noch am Abend verabredeten indes Louis Clodion und John Howard, mit einem Seemann im Hafen den Zeitpunkt, wo dieser sie in seinem Boote nach dem Ankerplatze des »Alert« befördern sollte. Auf ihre Fragen zeigte der Mann ihnen auch die Lage der Farmarbucht am Eingange der Bai etwa in einer Entfernung[94] von zwei Seemeilen. Hätten sie es gewünscht, so hätte der Seemann sie auch sofort nach ihrer Ankunft noch dahin gebracht, und die besonders Ungeduldigen zeigten sich auch sehr geneigt dazu. So eine Nachtfahrt über die Bai bei dem stillen, warmen Wetter wäre doch gewiß höchst angenehm gewesen.
Patterson gab dazu aber nicht seine Zustimmung. Es bedingte ja keine Verzögerung, wenn sich alle dem Kapitän Paxton erst morgen früh vorstellten, da die Abreise doch erst für den 30. Juni angesetzt war. Die Preisträger wurden auch vor diesem Termine jedenfalls nicht erwartet. Inzwischen verstrich die Zeit; von den Türmen Queenstowns ertönte die zehnte Stunde. Ohne Zweifel hatten sich der Kapitän Paxton und seine Matrosen bereits niedergelegt... wozu sie also unnötigerweise wecken?
»Oho, rief Tony Renault, wenn wir an Bord wären, lichtete der »Alert« vielleicht noch diese Nacht die Anker...
– Glauben Sie das nicht, lieber junger Herr, erklärte der Seemann. Es wäre unmöglich, jetzt abzufahren; ja, wer weiß, ob die gegenwärtige Windstille nicht noch mehrere Tage anhält.
– Das vermuten Sie, Herr... Herr Seemann? fragte Patterson.
– Es ist wohl zu befürchten.
– Ja, in diesem Falle, fuhr Patterson fort, wäre es für uns wohl besser, ein Hotel in Cork oder in Queenstown aufzusuchen und da einen günstigen Wind, unsere Segel zu schwellen, ruhig abzuwarten.
– Ach, Herr Patterson... Herr Patterson! riefen Magnus Anders und einige andere, die vor einer solchen Aussicht zurückschreckten.
– Ja... meine jungen Freunde...«
Man sprach hin und her, und das Ende der Verhandlung war, daß die ganze Gesellschaft für die Nacht ein Hotel aufsuchen und das gleich zurückgehaltene Boot bei Tagesanbruch und mit Eintritt der Ebbe alle samt ihrem Gepäck nach der Farmarbucht überführen sollte.
Nebenbei kam freilich Patterson der für einen solchen Zahlenmenschen ganz natürliche Gedanke, daß die Hotelkosten vermieden würden, wenn alle schon an Bord sein könnten, und das schien ihm wohl der Mühe wert. Schlimmsten Falles und wenn sich die Abreise wegen Mangel an Wind um mehrere Tage verzögerte, stand ja nichts einer einstweiligen Rückkehr nach Queenstown oder Cork im Wege.[95]
Patterson und die jungen Stipendiaten ließen sich also nach einem am Kai gelegenen Hotel führen. Hier legten sie sich nieder, schliefen den Schlaf der Gerechten, und am nächsten Morgen nahmen sie, nach einem aus Tee und Sandwichs bestehenden ersten Frühstück, in dem Boote Platz, das sie nach dem »Alert« bringen sollte.
Wie schon erwähnt, hatte sich der Nebel zu dieser Zeit verzogen, und als das Boot kaum eine Seemeile weit hinausgeglitten war, zeigte sich die Farmarbucht hinter einer Landzunge, die sie an der Nordseite begrenzte.
»Dort... der, Alert'! rief Tony Renault, nach dem einzigen Fahrzeug weisend, das jetzt in der Bucht vor Anker lag.
– Richtig, junger Freund, der ›Alert‹ antwortete der Bootsführer, ein hübsches Schiff, das versichere ich Ihnen.
– Sie kennen wohl den Kapitän Paxton? fragte Louis Clodion.
– Nein, das nicht, er ist nur sehr selten ans Land gekommen, er gilt aber für einen vortrefflichen Seemann und hat auch eine ausgewählt gute Mannschaft.
– Welch schöner Dreimaster! jubelte Tony Renault, in dessen Bewunderung sein Kamerad Magnus Anders rückhaltlos einstimmte.
– Das ist ja eine richtige Jacht!« sagte Roger Hinsdale, der seine Eigenliebe geschmeichelt fühlte, daß Mrs. Kathlen Seymour ihnen ein so prächtiges Fahrzeug zur Verfügung gestellt hatte.
Eine Viertelstunde später legte das Boot an der Steuerbordtreppe des »Alert« an.
Wie schon mitgeteilt, blieb der Führer mit seinen zwei Leuten der Verabredung gemäß in dem Boote zurück, das sofort nach dem Hafen zurücksteuerte.
Der Leser weiß auch, unter welchen Umständen die gegenseitige Vorstellung stattfand und wie Harry Markel seine Passagiere unter dem Namen des Kapitäns Paxton aufnahm. Gleich darauf erbot sich John Carpenter, in seiner Eigenschaft als Obersteuermann, die Passagiere nach der Kajüte zu führen, woneben deren für ihren Empfang in stand gesetzte Kabinen lagen.
Vorher fühlte sich Patterson noch verpflichtet, an den Kapitän eine höfliche Begrüßung zu richten. Er beglückwünschte sich, daß Mrs. Kathlen Seymour das Schicksal seiner jungen Ausflüglergesellschaft einem ebenso ausgezeichneten, wie in Marinekreisen hochgeachteten Befehlshaber in die Hände gelegt habe. Natürlich setzten sie sich mit dem Wagnis, sich der unberechenbaren Thetisanzuvertrauen, allemal einiger Gefahr aus; mit dem Kapitän Paxton, einem so guten Schiffe, wie dem »Alert«, und einer so tüchtigen Mannschaft könne man aber auch dem Ingrimm Neptuns wohl trotzen.
Harry Markel blieb sehr kühl und ließ diese Flut von schönen Redensarten ruhig über sich ergehen. Er begnügte sich zu antworten, daß er und seine Leute ihr möglichstes tun würden, den Passagieren des »Alert« eine recht angenehme Reise zu sichern.
Nun galt es aber, das Schiff »vom Kiel bis zu den Masttoppen«, wie Tony Renault sich ausdrückte, gründlich in Augenschein zu nehmen.
Es erscheint ja nicht wunderbar, daß das die jungen Leute aufs höchste interessierte. Das Schiff war ja die Wohnstätte, die schwimmende Stadt, die man auf die Zeit von fast drei Monaten für sie gewählt hatte... es war gleichsam ein Teil der Antilian School, den sie, losgelöst vom Vereinigten Königreiche, während der Reise bewohnen sollten.
Da war zunächst die große Kajüte, wo gemeinschaftlich gespeist werden sollte, mit ihrem Tische mit aufklappbaren Seitenleisten, die Stühle mit den beweglichen Lehnen, die in Ringen schwebenden Lampen, die verschiedenen Gerätschaften an dem Teile des Besanmastes, der mitten in der Tafel aufragte, das vergitterte Deckenfenster, durch das reichliches Licht von außen eindrang, die Pantry (besondere Kammer oder Kabine), worin Teller, Karaffen, Gläser und anderes Geschirr, gegen das Schlingern und Stampfen geschützt, aufbewahrt wurden.
Daneben lagen an beiden Seiten die Kabinen der Passagiere, jede mit den Lagerstätten, einem Toilettetisch, einem kleinen Schranke und erhellt durch ein rundes Fensterchen mit einer Linsenglasscheibe in der Schiffswand. In diesen Kabinen sollten die Stipendiaten nach ihrer Nationalität gruppiert untergebracht werden: an Backbord Hubert Perkins und John Howard in der ersten, Roger Hinsdale für sich allein in der zweiten, Louis Clodion und Tony Renault in der dritten; an Steuerbord Niels Harboe und Axel Wickborn in der vierten, Albertus Leuwen in der fünften und Magnus Anders in der sechsten.
Die für Horatio Patterson vorgesehene, der des Kapitäns gegenüberliegende Kabine befand sich rechter Hand vom Eingange in die Kajüte mit Aussicht nach der Hütte und war etwas geräumiger als die der jungen Fahrgäste. Der Mathematiker hätte sich danach eigentlich als zweiten Offizier[99] des »Alert« betrachten können und wäre als solcher berechtigt gewesen, zwei Goldstreifen vorn auf dem Rockärmel zu tragen.
Selbstverständlich hatte die umsichtige Mrs. Kathlen Seymour nichts vergessen, was der Bequemlichkeit und der Gesundheit der jungen Antilianer förderlich sein konnte. Ein Arzt war freilich nicht mit an Bord, tatsächlich war ja aber auch nicht zu besorgen, daß während der Fahrt eine ernstere Erkrankung oder ein schwererer Unfall eintreten könnte, Patterson würde auch schon jede Unklugheit der Vorwitzigsten seiner Gesellschaft zu verhindern wissen. Übrigens war die Apotheke des »Alert« mit allen am häufigsten gebrauchten Arzneimitteln reichlich genug ausgestattet. Für den Fall schlechten Wetters mit Sturmwinden oder Böen stand den Passagieren außerdem Matrosenkleidung zur Verfügung: Südwester, Röcke und Beinkleider aus Wachsleinwand hingen schon in jeder Kabine.
Natürlich wollten Tony Renault und einige andere, kaum daß sie das Schiff betreten hatten, schon »Matrosen spielen«. Treu dem hohen Hute, dem schwarzen Rocke und der weißen Halsbinde, hielt es Horatio Patterson freilich für unter seiner Würde, eine dicke Seemannsjacke anzulegen und die traditionelle Teerjackenmütze aufzusetzen.
Bei der ruhigen Witterung und auf dem stillen Wasser der Bai von Cork, wo der Dreimaster nicht das geringste von einem Wellengange verspürte, lag ja auch kein Grund vor, von den bisherigen Gewohnheiten abzugehen. Hätte sich Frau Patterson an seiner Seite befunden, so würde er jedenfalls geglaubt haben, er befände sich nach wie vor in seiner Wohnung in der Antilian School. Vielleicht sah er überhaupt keinen großen Unterschied zwischen der Farmarbucht und der Oxfordstreet, außer daß hier nicht so viele Leute vorüberkamen.
Nach dem Besuche der gemeinschaftlichen Kajüte und der Unterbringung der Gepäckstücke in jeder Kabine begann nun die Besichtigung des Schiffes, wobei John Carpenter den »Ehrendienst« versah und bereitwillig alle Fragen beantwortete, die – vorzüglich von Tony Renault und Magnus Anders – an ihn gerichtet wurden. Oben im Deckhause wurde das Rad des Steuers sowie das Kompaßhäuschen genauestens in Augenschein genommen und, wie es bei solchen »Ferienseeleuten« nicht zu verwundern ist, es kribbelte ihnen in der Hand, die Griffe des Steuerrades zu packen und dem Schiffe eine Richtung »Nordnordost ein Strich Ost« oder »Südsüdwest Halbstrich[100] West« zu geben. Danach liefen die jungen Leute wieder auf dem Deck umher, betrachteten die in Davits hängenden zwei Rettungsboote und die am Hinterteile gehißte Jolle. Vor dem Fockmaste stand die Küche und darin brodelte und schmorte schon das Frühstück unter den Händen Ranyah Coghs, dessen schönen afrikanischen Typus Horatio Patterson ganz besonders rühmte. Endlich kam das Volkslogis an die Reihe, dessen Durchstöberung die Mannschaft widerspruchslos zuließ, ferner das gesamte Vorderkastell, das Gangspill und einer der Hauptanker, der am Kranbalken des Steuerbords hing, während der des Backbords im Grunde festlag... alles aber erregte in hohem Grade die Aufmerksamkeit der wißbegierigen und wohl auch etwas neugierigen Jugend.
Zur Beendigung des Rundganges im Schiffe war nun bloß noch der Frachtraum zu besuchen.
Es kann wohl nicht wundernehmen, daß Horatio Patterson sich nicht beeilte, seinen Pensionären in die dunkeln Tiefen des Schiffes zu folgen. Eine Treppe dahin gab es nämlich nicht, nur eine Art Kerben in den Deckstützen, in die man bei gespreizten Beinen die Füße setzen mußte. In den Laderaum verirrte er sich gewiß nicht, ebensowenig wie ihm jemals einfallen konnte, die Webeleinen der Wanten zu betreten, um nach den Marsen und den Raaen des Groß- oder des Fockmastes hinaufzuklettern, selbst wenn er dazu hätte durch das »Soldatenloch« kriechen dürfen. Die jungen Leute dagegen glitten gelenkig nach dem untersten Raume des »Alert« hinab. Den Frachtraum durchstreiften sie vom Vorderteile, das durch eine Leiter mit dem Volkslogis in Verbindung stand, bis nach dem Hinterteile, wo eine feuersichere Scheidewand und Deckenbekleidung den großen Raum von der darüber stehenden Kambüse trennte.
Hier unten lagen Segel, Takelwerk, Reservespieren und auch eine Menge Kisten mit Konserven neben Fässern mit Wein, Tönnchen mit Branntwein und vielen Säcken mit Mehl. Der »Alert« war wirklich so reichlich mit allem versorgt, als sollte er zu einer Weltumseglung abgehen.
Nach dieser gründlichen Besichtigung gesellten sich alle wieder zu ihrem Mentor, der bei dem Kapitän stand. Beide unterhielten sich über das und jenes, Patterson mit der gewohnten und geschraubten Redseligkeit, Harry Markel kurz angebunden und zugeknöpft wie immer. Der Kapitän mochte ja ein ganz tüchtiger Seemann sein, mitteilsam war er aber nicht.
Tony Renault umkreiste die Steuervorrichtung, besichtigte das Gehäuse, das den Kompaß enthielt, legte die Hand auf das Rad, bewegte es einmal[101] hier-, einmal dorthin, wie es ein Steuermann getan hätte. und sagte endlich:
»Herr Kapitän, ich hoffe, Sie erlauben uns... nur dann und wann, ein wenig zu steuern... wenn gerade gutes Wetter ist...
– O, fiel Patterson ein, ich glaube doch nicht, daß das klug und weise wäre!
– Keine Angst, Herr Patterson, wir werden das Schiff schon nicht zum Untergang bringen!« erwiderte Tony Renault.
Harry Markel hatte sich begnügt, eine zusagende Handbewegung zu machen.
Woran mochte der Mann wohl denken? Hatte ihn vielleicht etwas wie Mitleid beschlichen, als er die jungen Leute so glücklich, so vergnügt darüber sah, sich auf dem »Alert« zu befinden?... Nein, schon in der nächsten Nacht sollte womöglich keiner von ihnen vor ihm Gnade finden.
Eben jetzt ertönte auf dem Vorderdeck die Schiffsglocke. Einer der Matrosen verkündigte mit vier Schlägen die elfte Stunde.
»Aha, jetzt kommt das Frühstück, sagte Louis Clodion.
– Dem wir alle Ehre antun werden, setzte Horatio Patterson hinzu. Ich habe Hunger wie ein Wolf...
– Wie ein Meerwolf. ergänzte Tony Renault, und
– Lupus maritimus«, übersetzte der gelehrte Patterson.
Es war jetzt in der Tat die Stunde des Frühstücks, an dem Harry Markel sich entschuldigte, nicht teilnehmen zu können, da er von jeher gewöhnt sei, alle Mahlzeiten in seiner Kabine einzunehmen.
Das Frühstück wurde in der gemeinsamen Kajüte aufgetragen, wo jeder an dem großen Tische Platz fand. Weiche Eier, kaltes Fleisch, ganz frisch gefangene Fische, Biskuit und Tee... alles mundete vortrefflich. Übrigens würden sich die durch die Morgenpromenade ausgehungerten jungen Magen nicht wählerisch erwiesen haben, und auch Horatio Patterson aß hier zweimal soviel als er im Refektorium der Antilian School genossen hätte.
Nach beendigtem Frühstücke suchten nun alle Harry Markel wieder auf dem Deck auf.
Zuerst wendete sich, einer Verabredung entsprechend, Louis Clodion an diesen.
»Herr Kapitän, fragte er, gedenken Sie wohl bald unter Segel zu gehen?[102]
– Sobald etwas Wind aufspringt, und das kann alle Augenblicke eintreffen, antwortete Harry Markel, der recht gut erriet, worauf die Frage hinauswollte.
– Und wenn es nun ein widriger Wind wäre? bemerkte Patterson.
– Auch der würde uns nicht hindern abzufahren. Was wir brauchen, ist eine hübsche Brise, gleichviel aus welcher Himmelsgegend.
– Ja freilich, rief Tony Renault, im Notfalle wird dagegen aufgekreuzt...
– Und zwar ganz dicht am Winde, setzte Magnus Anders hinzu.
– Ganz richtig, meine Herren«, bestätigte Harry Markel.
Tatsächlich ist es ja eine interessante Fahrt, wenn ein Schiff unter vollen Segeln jetzt mit Backbord-, dann mit Steuerbordhalfen dicht am Winde läuft.
»Sind denn Vorzeichen da, Herr Kapitän, fragte Niels Harboe, daß bald wieder Wind kommen wird?...
– Etwa schon am Nachmittage? fügte John Howard hinzu.
– Ich hoffe es wenigstens, antwortete Harry Markel, die Windstille hält nun schon sechzig Stunden an, sie muß doch bald aufhören.
– Ja, Herr Kapitän, ließ sich jetzt Roger Hinsdale vernehmen, wir wüßten vor allem gern, ob Aussicht vorhanden ist, daß der ›Alert‹ noch heute ausläuft.
– Ich wiederhole Ihnen, meine Herren, daß das sehr wohl möglich wäre, da das Barometer langsam fällt... bestimmt kann ich es natürlich nicht sagen.
– Wenn es so liegt, meinte Louis Clodion, könnten wir ja den Nachmittag wohl auf dem Lande zubringen?
– Ach ja... ja!« stimmten auch alle andern Antilianer ein.
Das war aber ein Vorschlag, dem Harry Markel auf keinen Fall zustimmen wollte. Ans Land sollte niemand wieder gehen, weder von den Passagieren noch von der Mannschaft... das hätte die ohnehin gefährdete Lage nur zu leicht verschlimmern können.
Horatio Patterson glaubte das Gesuch der jungen Leute mit einigen passenden Bemerkungen unterstützen zu müssen. Seine Begleiter und er kannten weder Cork noch Queenstown. Sie hatten die beiden Städte nicht besuchen können. die eine sehr interessante Umgebung haben sollen, darunter das Dorf[103] Blarney, nach dem die irischen Gasconnaden (Prahlereien) ihren Namen erhalten haben, ferner das Schloß, von dem ein gewisser Stein – wie man erzählt – jeden, der ihn mit den Lippen berührt, für immer mit der Wahrheit auf gespannten Fuß bringt.
Natürlich stimmten alle ihrem Mentor bei. In einer halben Stunde würde ein Boot mit zwei Ruderern sie vom »Alert« nach dem Hafen gebracht haben, und sie versprachen hoch und heilig, am Abend zurück zu sein.
[104] »Herr Kapitän, nahm Patterson das Wort, wir richten unsere Bitte hier an den Nächsten nach Gott...
– O, ich möchte sie ja gern erfüllen, erklärte Harry Markel in etwas schroffem Tone, ich kann es aber nicht. Für den heutigen Tag ist die Abfahrt schon lange festgesetzt, und wenn sich auch nur ein ganz schwacher Wind erhebt, denke ich, selbst wenn dieser ausbliebe, allein mit Hilfe der Ebbeströmung aus der Bai von Cork hinauszusegeln.[105]
– Wenn wir nun aber, warf Louis Clodion ein, auch draußen nicht von der Stelle kommen?
– So legen wir uns während der Flut nahe der Küste nochmals vor Anker, der ›Alert‹ wird dann wenigstens aus der Farmarbucht heraus sein. Erhebt sich wieder Wind, wie ich das erwarte, so werden wir ihn auf offenem Meere eher benützen können, als hier in der sehr geschützten Farmarbucht.«
Das waren ja Gründe, die sich hören ließen, und am Ende mußte man sich doch wohl der Anschauung des Kapitäns fügen.
»Ich ersuche Sie also, meine Herren, schloß dieser, auf die Absicht eines Landbesuches zu verzichten, da wir dadurch leicht die nächste Ebbe versäumen könnten.
– Ja, ja, Sie haben recht, Herr Kapitän, antwortete Patterson, wir wollen die Sache ruhen lassen.«
Die jungen Leute nahmen auch ohne weiteren Widerspruch hin, was nicht zu ändern war. Übrigens sehnten sich zwei von ihnen nicht im mindesten danach, noch einmal fortzugehen... selbstverständlich waren das Magnus Anders und Tony Renault. Ihnen genügte es vollständig, jetzt an Bord zu sein. Einmal auf dem »Alert« eingeschifft, gedachten sie sich erst in einem der Häfen von Antilien wieder auszuschiffen. Wenn nun ein Wind aufsprang, während ihre Kameraden Cork und Queenstown besuchten, und das Schiff, weil seine Passagiere noch nicht zurückgekehrt waren, nicht absegeln könnte! Wer hätte voraussehen können, ob dann nicht weitere Verzögerungen den ganzen Reiseplan zerstörten?... Was hätte Mrs. Kathlen Seymour dann wohl gesagt?...
Was hätte der Direktor der Antilian School davon gedacht?... Und schließlich die Verantwortlichkeit des Mentors, der diese Gedanken ernstlich erwog?
Nein: die Frage war entschieden... sie blieben an Bord. An dem sich weiter fortspinnenden Gespräche mußte sich Harry Markel wohl oder übel beteiligen. Es betraf natürlich die Reise, und Roger Hinsdale fragte da, ob der »Alert« schon eine Fahrt von England nach den Antillen gemacht habe.
»Nein, junger Herr, erwiderte Harry Markel, unser Schiff hat überhaupt erst zwei Reisen, und diese nach dem Indischen Ozean ausgeführt.
– Sie, Herr Kapitän, kennen aber schon die Antillen? fragte Hubert Perkins.
– Nein, ich kenne sie noch nicht.[106]
– Ein Seemann kann also geraden Wegs dahin gehen, wo er noch niemals gewesen ist? bemerkte Horatio Patterson.
– Das versteht sich doch, rief Tony Renault, sogar mit geschlossenen Augen!
– Nein, das nicht, entgegnete Harry Markel, er muß im Gegenteil die Augen immer offen halten, muß pünktlich sein Besteck machen und die Seekarten bei der Hand haben, um den einzuhaltenden Kurs zu bestimmen.
– Und das werden wir alles sehen? sagte Magnus Anders.
– Alles... freilich erst, wenn wir in der offenen See sind, statt hier im Hintergrunde einer Bucht halb zu verschimmeln.«
Louis Clodion und seine Kameraden verzichteten also auf ihre früheren Wünsche. Wenn sie nun aber den ganzen Tag an Bord des »Alert« zubringen mußten, ohne die Erlaubnis zu einem Besuche des Landes zu erhalten, darf man doch nicht glauben, daß ihnen die Stunden zu lang geworden wären. Nein; es kam ihnen nicht einmal der Gedanke, das ganz nahe liegende Ufer der Bucht betreten zu wollen, was Harry Markel jedenfalls zugestanden hätte, da das mit keiner Gefahr für ihn verbunden gewesen wäre... Der Nachmittag verstrich schon ohne jede Langeweile damit, daß die jungen Reisenden auf den Bänken am Deckhause plauderten, sich auf den Schaukelstühlen ausstreckten, auf dem Deck hin- und herspazierten, oder auch damit, daß sie nach den Marsen oder auf die Kranbalken kletterten.
Obgleich das Wasser der Bai von Cork jetzt ganz ruhig war, herrschte darauf doch ein ziemlich reges Leben. Die Schiffsbewegung im Hafen von Queenstown erlitt durch die Fortdauer der Windstille ja keine völlige Unterbrechung. Die Feldstecher der jungen Pensionäre und das mächtige, reichlich vier Fuß lange Fernrohr Horatio Pattersons gingen auch fleißig von Hand zu Hand.
Alle verfolgten gespannt hier die Fischerboote in der Bai, dort die Dampfschaluppen, die den Verkehr mit dem Ufer vermittelten, oder die kräftigen Schlepper, die Segelschiffe, welche besondere Eile hatten, hinausbugsierten. Dazwischen fuhren noch atlantische Dampfer hinaus und herein, und deren Zahl ist in der Bai von Cork Tag für Tag recht beträchtlich.
Nach dem Mittagsmahle um fünf Uhr, das dem Frühstück in keiner Weise nachstand, und worüber Horatio Patterson dem Koch Ranyah Cogh eine wohlverdiente Anerkennung zollte, erklärte Harry Markel, als alle wieder auf dem[107] Deck beisammen waren, daß sich schon ein wenig Landwind bemerkbar mache. Hielte dieser nur noch eine Stunde an, so würde er sofort auslaufen.
Natürlich erregte diese Mitteilung allgemeinen Jubel.
In der Tat wurden jetzt im Nordosten einzelne Wolken sichtbar, die einen Witterungsumschlag erwarten ließen. Sie stiegen zwar über dem Lande auf, doch das war eher besser, als wenn sie von der Seeseite herangezogen wären. Jedenfalls konnte der »Alert« seinen Ankerplatz nun bald verlassen, und einmal draußen, würde man ja sehen, was dann zu tun wäre.
»Alle Mann auf Deck, kommandierte Harry Markel, und fertig zum Ankerheben!«
Einige Leute begaben sich nach der Winde und ihnen folgten mehrere von den jungen Leuten, die mit Hand anlegen wollten. Inzwischen wurden die Segel losgebunden und die Raaen festgelegt Als dann der Anker an die Oberfläche kam und noch auf seinen Kranbalken angekettet wurde, trieb das Schiff mit Fock-, Klüver- und Marssegeln, mit Bram- und Gaffelsegel schon vorwärts und in kurzer Zeit war es um die Landspitze an der Farmarbucht herumgekommen.
Unter den neuesten Mitteilungen meldeten dann die Abendblätter, daß der Dreimaster »Alert«, Kapitän Paxton, mit den Preisträgern der Antilian School an Bord, zur Fahrt nach den Antillen abgesegelt sei.
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