|
[309] Gegen zehn Uhr Vormittag war der »Alert« schon außer Sicht der nächsten Küste von Barbados, das von allen Inseln der Kleinen Antillen am weitesten nach Osten liegt.
Der immerhin nur kurze Besuch der Preisträger in ihrer gemeinsamen Heimat war bisher also unter den günstigsten Umständen verlaufen; auch von den in dieser Erdgegend sonst so häufigen atmosphärischen Störungen hatten sie bei ihren Fahrten nur sehr wenig zu leiden gehabt. Jetzt begann die Rückreise, doch statt den Weg nach Europa einzuschlagen, sollte das Schiff, dessen Herren Harry Markel und seine Spießgesellen vom nächsten Tage an ausschließlich zu sein hofften, nach dem Gewässer des Großen Ozeans steuern.
Tatsächlich schien es ja so, als ob die Passagiere des »Alert« dem ihnen von der Schurkenbande zugedachten Schicksale unmöglich entgehen könnten. In der nächsten Nacht sollten sie in ihren Kabinen überfallen und, ehe sie sich[309] verteidigen könnten, ermordet werden. Wer hätte dann jemals die blutigen Vorgänge auf dem »Alert« entschleiern können? In den offiziellen Schiffsnachrichten würde der Dreimaster einfach unter den mit Mann und Maus verschollenen Fahrzeugen aufgeführt werden, von denen kein Mensch je wieder etwas erfährt. Auch jede Nachforschung mußte hier vergeblich bleiben, da der Kapitän Markel seine Raubzüge im Westen des Großen Ozeans mit dem Schiffe unter Änderung seines Namens und der bisher geführten Flagge, sowie nach einiger Veränderung der Takelage auszuführen gedachte.
Die Anwesenheit des neu eingetroffenen jungen Seemannes konnte die Durchführung des lange gehegten Planes wohl kaum hindern. Jetzt waren zwar elf Passagiere an Bord, während Harry Markel und seine Leute nur zehn Mann zählten, diese hatten aber den Vorteil des unvermuteten Angriffes für sich.
Und wie hätten die anderen auch diesen kräftigen, an Blutvergießen gewöhnten Burschen wirksam widerstehen können? Ferner sollte der Mordanschlag obendrein in der Nacht ausgeführt werden. Die Opfer wurden dann im tiefen Schlafe abgeschlachtet, und Erbarmen von dieser Verbrecherrotte zu erflehen, wäre sicherlich ganz nutzlos gewesen.
Also wäre dem frechen Räuber voraussichtlich alles geglückt und sein Plan bis zum Ende durchgeführt worden; er behielt Recht gegenüber den zaghaften Einwendungen John Carpenters und der übrigen. Bei dem wiederholten Anlaufen längs der Kleinen Antillen hatte nichts sie verraten, der letzte Aufenthalt an Barbados ihnen aber noch eine Summe von siebentausend Pfund sozusagen in den Schoß geworfen, abgesehen von der besonderen Belohnung, die Mistreß Kathlen Seymour dein Schiffsführer zugewendet hatte.
Der auf dem »Alert« jetzt mit eingeschiffte Seemann hieß Will Mitz. Er zählte nur fünfundzwanzig Jahre, war also kaum um fünf Jahre älter als Roger Hinsdale, Louis Clodion und Albertus Leuwen.
Der mittelgroße, kräftige, gut gewachsene Will Mitz, der so beweglich und gewandt war, wie sich's für einen Marsgast ziemt, machte den Eindruck eines ehrlichen und offenherzigen Mannes. Er zeigte sich außerdem sehr dienstwillig und war bei inniger Religiosität von tadellosem Auftreten. Niemals hatte er sich eine Strafe zugezogen, und keiner zeigte mehr Gehorsam oder entwickelte größeren Eifer im Dienste als er. Schon in seinem zwölften Jahre als Schiffsjunge eingetreten, wurde er nach und nach Leichtmatrose, Vollmatrose und[310] zuletzt Bootsmann. Er war der einzige Sohn einer seit mehreren Jahren verwitweten Frau Mitz, die eine Vertrauensstellung in Nording-House einnahm.
Nach einer letzten Reise in den südlichen Meeren blieb Will Mitz zwei Monate bei seiner Mutter, wobei Mistreß Kathlen Seymour die vortrefflichen Eigenschaften des jungen Mannes kennen und schätzen lernte. Dank ihren weitreichenden Verbindungen hatte er erst vor kurzem die Stelle des Obersteuermannes auf einem Schiffe erhalten, das nächstens mit Fracht von Liverpool nach Sydney in Australien abgehen sollte. Ohne Zweifel mußte Will Mitz bei seiner reichen Kenntnis der praktischen Navigation, seiner Intelligenz und seinem Eifer noch weiter vorwärts kommen und würde später in der Handelsflotte die Stellung eines höheren Offiziers erreichen. Überdies mutig und von schnellem Entschlusse, war ihm die unerschütterliche Kaltblütigkeit und der sichere Blick eigen, der für Seeleute ganz unentbehrlich ist und zu ihren wichtigsten Eigenschaften gehört.
Will Mitz wartete in Bridgetown schon auf eine Gelegenheit, sich nach Liverpool einzuschiffen, als der »Alert« im Hafen von Barbados vor Anker ging. Da kam Mistreß Kathlen Seymour der Gedanke, sich mit dem Kapitän Paxton dahin zu verständigen, daß er den jungen Seemann nach Europa mitnähme. Will Mitz sollte also unter sehr angenehmen Verhältnissen über den Atlantischen Ozean und nach Liverpool, d. h. nach dem Hafen kommen, wo er seine neue Stellung antreten und den auch der Dreimaster anlaufen sollte. Von da gedachten Horatio Patterson und seine jungen Begleiter sich auf der Eisenbahn nach London zu begeben und in die Antilian School zurückzukehren, wo sie gewiß nach Verdienst empfangen wurden.
Will Mitz wollte übrigens während der Fahrt nicht mäßig bleiben. Dem Kapitän Paxton mußte es ja sehr erwünscht kommen, ihn zu verwenden, um den Mann zu ersetzen, den er in der Bai von Cork durch einen Unfall verloren hatte.
Am Abend des 21. September hatte Will Mitz, nach Verabschiedung von Mistreß Kathlen Seymour und nach zärtlicher Umarmung seiner guten Mutter, seinen Matrosensack an Bord des »Alert« gebracht. Die freundliche Schloßherrin hatte ihm auch noch eine kleine Geldsumme aufgenötigt, die es ihm erlauben mußte, in Liverpool die Abfahrt seines Schiffes abzuwarten.
Obwohl nun im Volkslogis nicht alle Plätze von seinen Leuten eingenommen waren, zog es Harry Markel doch vor, Will Mitz nicht bei diesen mit unterzubringen.[311] Das hätte zu einer Störung seiner Absichten führen können. Da noch eine Kabine frei war, wurde diese dem neuen Passagier sofort angewiesen.
»Herr Kapitän Paxton, sagte Will Mitz, gleich nachdem er eingetroffen war, ich wünsche dringend, mich an Bord nützlich zu machen. Ich stehe gänzlich zu Ihrer Verfügung, und wenn es Ihnen recht ist, werd' ich auch die Wachen mit beziehen.
– Meinetwegen,« antwortete Harry Markel kurz.[312]
Will Mitz empfing von der Mannschaft des Fahrzeuges, als er sie näher zu sehen bekam, einen wenig günstigen Eindruck, und zwar nicht nur vom Kapitän des »Alert«, sondern auch von John Carpenter, Corty und den übrigen. Zeigte sich der Dreimaster auch im besten Zustande, so konnten die Gesichter der Leute, worin so viel zügellose Leidenschaft lag, konnten die gemeinen wilden Züge, deren Falschheit nur schlecht verhüllt erschien, ihm doch nicht das geringste Vertrauen einflößen. Er nahm sich deshalb auch vor, der Mannschaft gegenüber eine gewisse Zurückhaltung zu bewahren.
Wenn Will Mitz den Kapitän Paxton nicht persönlich kannte, so hatte er doch von ihm als einem vorzüglichen Seemann reden hören, auch bevor er die Führung des »Alert« übernommen hatte, und die Wahl der Mistreß Kathlen Seymour war auf ihn erst gefallen, als man ihn ihr von zuverlässiger Seite warm empfohlen hatte.
Während ihres Aufenthaltes in Nording-House waren die jungen Passagiere außerdem seines Lobes voll gewesen und priesen vor allem seine Geschicklichkeit in der Schiffsführung, als sie nicht weit von Barbados der recht starke Sturm überrascht hatte.
Die Herfahrt war ja in befriedigendster Weise verlaufen, warum sollte das nicht auch für die Rückfahrt zutreffen? Will Mitz glaubte also, daß der erste üble Eindruck, den er nach seinem Eintreffen an Bord empfangen hatte, sich wohl allmählich verwischen werde.
Als Corty hörte, daß sich Will Mitz zu freiwilliger Dienstleistung angeboten hatte, sagte er zu Harry Markel und John Carpenter:
»Na, da haben wir ja einen recht guten Zuwachs, auf den wohl keiner gerechnet hatte!... Ein tüchtiger Seemann, der mit dir, John, die Wache befehligen kann...
– Und dem man auch ruhig das Steuer anvertrauen kann, setzte John Carpenter nicht weniger ironisch hinzu Mit einem solchen Steuermann ist kein Abweichen aus dem Kurse zu befürchten, und der ›Alert‹ würde auf kürzestem Wege nach Liverpool kommen...
– Wo uns, fiel Corty ein, die auf die eine oder andere Weise benachrichtigte Polizei gleich bei der Ankunft mit gebührender Ehre in Empfang nehmen würde...
– Genug des Scherzes, ließ sich nun Harry Markel vernehmen, und hüte jeder seine Zunge wenigstens noch vierundzwanzig Stunden...[315]
– Um so mehr, bemerkte John Carpenter, als jenes Meerschwein uns in ganz merkwürdiger Weise zu mustern schien...
– Jedenfalls, empfahl Harry Markel noch, antworte ihm jeder wenig oder gar nicht, wenn er ein Gespräch anbinden will. Vor allem darf Morden nicht wieder solches Zeug schwatzen, wie kürzlich auf Sankta-Lucia...
– Richtig, schloß Corty das Gespräch, doch wenn Morden nichts getrunken hat, ist er stumm wie ein Fisch, und am Trinken werden wir ihn schon so lange hindern, bis wir sorglos die Gesundheit des Kapitäns Markel ausbringen!«
Übrigens bemühte sich Will Mitz offenbar gar nicht um eine Plauderei mit den Leuten des Schiffes. Gleich nach dem Eintreffen hatte er sich in seine Kabine zurückgezogen, wo er seinen Reisesack niederlegte und ruhig die Ankunft der Passagiere abwartete. Am nächsten Tage aber beteiligte er sich tätig bei den letzten Arbeiten für die Abfahrt.
Im Laufe des ersten Reisetages fand Will Mitz auf dem Hinterdeck, was er auf dem Vorderdeck gewiß nicht gefunden hätte: eine Gesellschaft tüchtiger junger Leute, die sich gleich von Anfang an warm für ihn interessierten. Vor allem zeigten sich Tony Renault und Magnus Anders wahrhaft beglückt, »mit einem Seemann über Seereisen, Schiffe u. dgl. sprechen zu können«.
Nach dem Frühstück spazierte Will Mitz, seine kurze Pfeife rauchend, auf dem Verdeck umher.
Der »Alert« führte jetzt seine unteren Segel, nebst den Mars- und Bramsegeln. Er hätte jetzt eine größere Strecke weit nach Nordosten laufen sollen, um durch den Bahamakanal und nach der anderen Seite der Antillen zu kommen, und dann den nach Europa zu verlaufenden Golfstrom zu benutzen. Will Mitz fiel es nun zwar sofort auf, daß der Kapitän statt Steuerbordhalfen hatte Backbordhalfen setzen lassen, wodurch das Schiff mehr einen südöstlichen Kurs nahm; da aber Harry Markel dafür seine Gründe haben mußte, hielt sich Will Mitz nicht für berechtigt, ihn darüber zu befragen. Er sagte sich vielmehr, der »Alert« werde, wenn er fünfzig bis sechzig Seemeilen zurückgelegt hätte, schon nach Nordosten abfallen.
Harry Markel manövrierte freilich mit bewußter Absicht so, daß er auf die Südspitze Afrikas zu lief, und von Zeit zu Zeit überzeugte er sich, daß der Mann am Steuer den Dreimaster in dieser Richtung hielt.
Inzwischen plauderten Tony Renault, Magnus Anders und zwei oder drei ihrer Kameraden, auf dem Deck hier oder dort lustwandelnd, mit dem jungen[316] Seemanne. Sie stellten ihm Fragen bezüglich seines Berufes, was ihnen früher dem wenig mitteilsamen Kapitän gegenüber unmöglich gewesen war. Will Mitz antwortete wenigstens gern und hatte sein Vergnügen an ihrem Geplauder, da er erkannte, daß sie sich für alles, was die Seefahrerei betraf, interessierten.
Zuerst wollten sie wissen, welche Länder er bei seinen bisherigen Reisen besucht und ob er in der Kriegs- oder der Handelsflotte gedient habe.
»Ja, meine jungen Herren, erklärte Will Mitz, ich fahre schon seit zwölf Jahren, das heißt also eigentlich seit meiner Kindheit...
– Sie sind also wohl mehr als einmal über den Atlantischen und den Großen Ozean gekommen? erkundigte sich Tony Renault.
– Gewiß, mehrere Male, an Bord von Segelschiffen ebenso wie an Bord von Dampfern.
– Sind Sie auch auf Kriegsschiffen in Dienst gewesen? sagte Magnus Anders.
– Ja, antwortete Will Mitz, damals als England ein Geschwader nach dem Golf von Petschili schickte.
– Sie sind nach China gekommen! rief Tony Renault und verhehlte nicht seine Bewunderung für einen Mann, der die Küste des Himmlischen Reiches betreten hatte.
– Jawohl, mein bester Herr Renault, und ich versichere Ihnen, daß es gar nicht schwieriger ist, nach China zu gehen, als etwa nach den Antillen.
– Und auf welchem Schiffe? fragte John Howard.
– Auf dem Panzerkreuzer › Standard‹, Kontreadmiral Sir Harry Walker.
– Damals fuhren Sie wohl noch als Schiffsjunge?...
– Ja freilich... als einfacher Schiffsjunge.
– Führte denn der ›Standard‹ auch große Geschütze? fragte Tony Renault.
– O, sehr große... von zwanzig Tonnen.
– Von zwanzig Tonnen!« wiederholte Tony Renault ganz verzückt.
Man fühlte es bei diesem Ausrufe wirklich heraus, daß der junge Mann sich überglücklich geschätzt hätte, einmal ein solches Riesengeschütz abfeuern zu können.
»Sie sind aber nicht die meiste Zeit auf Kriegsschiffen gefahren? ließ sich Louis Clodion vernehmen.
– Nein, meine jungen Herren, antwortete Will Mitz. Der Kriegsflotte hab' ich nur drei Jahre angehört, dann habe ich mir in der Handelsflotte das Zeugnis als Marsgast erworben.
– Auf welchen Schiffen? fragte Magnus Anders.[317]
– Auf dem ›North's-Brothers‹ von Cardiff, mit dem ich nach Boston segelte, und auf dem ›Great Britain‹ von Newcastle.
– War das ein großes Schiff? fragte Tony Renault.
– Gewiß, ein Kohlenfrachtschiff von dreitausendfünfhundert Tonnen, das seine Ladung in Melbourne löschte.
– Und was haben Sie da als Rückfracht mitgenommen?
– Australisches Getreide, das nach Leith, dem Hafen von Edinburgh, bestimmt war.
– Haben Sie nicht das Fahren auf Segelschiffen dem auf Dampfern vorgezogen? sagte dazu Niels Harboe.
– Gewiß ziehe ich das vor, bestätigte Will Mitz. Eine Fahrt mit Segeln hat mehr Seemännisches an sich und geht im allgemeinen fast ebenso schnell vor sich wie eine mit Hilfe des Dampfes. Ferner wird man dabei nicht von dem Kohlenrauche belästigt, und es gibt doch keinen schöneren Anblick als solch ein Fahrzeug mit vollen Segeln, das gelegentlich seine fünfzehn bis sechzehn Knoten läuft.
– Ja, das glaub' ich... das glaub ich gern, rief Tony Renault, der in der Einbildung schon alle Meere der Erde durchmaß. Und wie heißt das Schiff, auf dem Sie jetzt anmustern wollen?
– Die ›Elisa Warden‹ von Liverpool, ein stolzer, stählerner Viermaster von dreitausendachthundert Tonnen, der mit einer Ladung Nickel von Thio in Neukaledonien gekommen ist.
– Welche Art Fracht wird er denn in England einnehmen? fragte John Howard.
– Soviel ich weiß: Steinkohle für San Francisco, antwortete der junge Seemann, jedenfalls ist das Schiff aber gechartert, auf der Rückreise Getreide von Oregon nach Dublin zu befördern.
– Wie lange dauert wohl eine solche Reise? nahm Magnus Anders wieder das Wort.
– O, so etwa elf bis zwölf Monate.
– Ah, rief Tony Renault, das ist doch eine Fahrt, die ich einmal mitmachen möchte. Ein ganzes Jahr zwischen Himmel und Wasser! Auf dem Atlantischen Ozean, auf der Südsee und auf dem Großen Ozean! Hei, da umsegelte man das Kap Horn und kehrte um das Kap der Guten Hoffnung zurück! Das wäre ja wirklich eine Reise um die Erde.[318]
– Nun, lieber junger Herr, antwortete Will Mitz lächelnd, Sie scheinen für lange Fahrten begeistert zu sein!
– Ganz gewiß... doch ich wäre lieber als Seemann, statt als Passagier daran beteiligt!
– Das nenn' ich brav gesprochen! erklärte Will Mitz. Ich sehe, daß Sie das Meer warm ins Herz geschlossen haben!
– Ja, versicherte Niels Harboe, wenn man Magnus Anders und Tony so hört, müßte ihnen eigentlich die Führung des Schiffes überlassen werden, wo einer nach dem andern an der Ruderpinne stehen könnte!
– Leider, bemerkte Louis Clodion dazu, sind Magnus und Tony schon zu alt, sich noch dem Seemannsberufe widmen zu können.
– Nun, wir haben doch noch keine sechzig Jahre auf dem Rücken! entgegnete Tony Renault eifrig.
– Nein, doch wir sind zwanzig Jahre alt, gestand der junge Schwede, und da ist es doch wohl zum Anfangen etwas zu spät...
– Ja... wer weiß? antwortete Will Mitz. Sie sind ja nicht furchtsam, sind gelenkig und von kräftiger Gesundheit, und mit solchen Eigenschaften lernt man die Sache bald. Besser freilich, man fängt damit jung an. Für die Handelsmarine ist übrigens keine Altersgrenze für den Eintritt festgesetzt.
– Nun, sagte Louis Clodion, Tony und Magnus werden sich das ja überlegen, wenn sie ihre Studien an der Antilian School beendigt haben...
– Und wenn einer von der Antilian School abgeht, ist er für jeden Beruf befähigt. Nicht wahr, Herr Patterson?«
Der Mentor, der eben in die Nähe kam, schien in tiefes Sinnen versunken. Vielleicht dachte er über den seltsamen lateinischen Satz nach, für den ihm noch kein Verständnis aufgegangen war. Jedenfalls erwähnte er dessen aber mit keiner Silbe, und Tony Renault, der ihn listig anblinzelte, wagte auch nicht mehr als eine ganz leichte Anspielung. Über den Gegenstand des Gesprächs aufgeklärt, gab er dem jungen Pensionär recht, der die Fahne der Antilianerschule so mutig verteidigte. Der vortreffliche Mann führte sich dafür selbst als Beispiel an. Ihm als Verwalter der Antilian School ging von vornherein ja jede Kenntnis des Seewesens ab. Er war nie auf den Ozeanen gefahren... nein... nicht einmal im Traume. Was die Schiffe anging, so hatte er kaum die gesehen, die stromauf- oder stromabwärts fahrend auf der Themse durch London kommen. Und obgleich er doch nur zum Verwaltungskörper der berühmten[319] Anstalt gehörte, hatte er doch bewiesen, daß er dem Zorne Neptuns trotzen könne. Freilich zu Anfang, einige Tage lang... die Stöße beim Rollieren...
»Beim Rollen, flüsterte ihm Tony Renault zu.
– Ja ja, beim Rollen... fuhr Herr Patterson fort, beim Rollen und beim Stam... ja, beim Stampfen, da wurde ich wohl ein bißchen arg mitgenommen, doch jetzt... bin ich nicht gewappnet gegen die widerliche Seekrankheit?... Habe ich nicht vollständig den Gang eines Seemannes?... Glaubt mir... experto crede Roberto...
– Horatio, soufflierte Tony Renault.
– Nun ja, also Horatio, da ich einmal denselben Namen erhalten habe wie der göttliche Flavus!... Und wenn ich mich auch nicht danach sehne, gegen die Stürme, die Tornados oder die Zyklone anzukämpfen, wenn ich nicht gern der Spielball der Orkane sein mag, so würde ich sie wenigstens festen Blickes und ohne zu erblassen mit ansehen.
– Alle Achtung, Herr Patterson! sagte Will Mitz zu diesem Selbstlob... Doch, unter uns: besser ist's, man versucht es erst gar nicht. Ich hab's ja mit durchgemacht, doch ich habe auch die mutigsten Leute erschrecken sehen, wenn sie sich ohnmächtig der Gewalt des Sturmes gegenübersahen.
– Oh, lenkte Patterson ein, was ich gesagt habe, soll ja nicht etwa die Wut der Elemente heraufbeschwören. Fern liegt mir ein solcher Gedanke, der einem verständigen Mann nicht ziemt, einem Mentor, gewissermaßen einem Seelsorger für junge Leute, der sich seiner Verantwortlichkeit tief im Innern bewußt ist. Ich hoffe übrigens, Will Mitz, daß uns etwas ähnliches nicht bevorsteht.
– Ich hoffe es wie Sie, Herr Patterson. Zur jetzigen Jahreszeit treten im Atlantischen Ozean wirkliche Stürme nur selten auf. Ein Gewitter freilich ist immer zu befürchten, und von einem Gewitter weiß man nie mals, wie schwer es werden und wie lange es anhalten wird. Ohne ein Gewitter kommen wir auf keinen Fall weg, denn solche kommen im September hier sehr häufig vor, und ich wünsche dabei nur, daß sie nicht zu einem Sturm umschlagen.
– Das wünschen wir alle, antwortete Niels Harboe. Im Falle schlechten Wetters können wir jedoch zu unserem Kapitän volles Vertrauen haben. Er ist ein geschickter und erfahrener Seemann...
– Ohne Zweifel, dafür soll er schon manche Beweise geliefert haben, und in England stellt man ihm das beste Zeugnis aus...[320]
– Und das mit Recht, erklärte Hubert Perkins.
– Haben Sie denn, fragte Will Mitz, seine Mannschaft in Tätigkeit beobachtet?
– Nun, John Carpenter scheint ja ein tüchtiger Bootsmann zu sein, meinte Niels Harboe, und seine Leute sind mit allen Segelmanövern, soweit ich's beurteilen kann, recht gut vertraut.
– Gesprächig sind sie aber offenbar nicht, sagte Will Mitz.[321]
– Nein, das nicht, an ihrem Verhalten ist aber nichts auszusetzen, antwortete Magnus Anders. Die Disziplin wird an Bord sehr streng gehandhabt; der Kapitän Paxton läßt zum Beispiel keinen seiner Matrosen ans Land gehen. Nein, nein, es ist den Leuten nichts vorzuwerfen.
– Desto besser, sagte Will Mitz.
– Und wir wünschen ja nur das eine, setzte Louis Clodion hinzu, daß die ganze Fahrt in derselben Weise verläuft, wie bis heute!«
Buchempfehlung
Nach 25-jähriger Verbannung hofft der gealterte Casanova, in seine Heimatstadt Venedig zurückkehren zu dürfen. Während er auf Nachricht wartet lebt er im Hause eines alten Freundes, der drei Töchter hat... Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht.
82 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro