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[392] Der auf der Fahrt von Dominique nach Liverpool befindliche Dampfer »Viktoria« glitt eben in dreihundertfünfzig Seemeilen Entfernung von den Antillen dahin, als seine Wachtposten das Boot des »Alert« bemerkten.
Der davon unterrichtete Kapitän John Davis gab sofort Befehl, auf das kleine Fahrzeug zuzusteuern, ob dieses nun ausgesetzt worden wäre oder Unglückliche trüge, die sich aus einem Schiffbruche gerettet hätten.
In dem Augenblicke, wo Louis Clodion den Ruf »Ein Schiff!« ausstieß, hatten sich auch schon Will Mitz und zwei oder drei andere aufgerichtet und streckten die Arme nach dem Dampfer hin aus.[392]
Selbst die Geschwächtesten gewannen einige Kräfte wieder, und der Kapitän der »Viktoria« brauchte nicht erst ein Boot auszusetzen, sie aufzunehmen. Mit Will Mitz und Louis Clodion an den Rudern und Tony Renault am Steuer, lag das Boot bald an der Längsseite des Dampfers. Man warf ihm ein Seil zu und ließ die Fallreepstreppe hinunter. Fünf Minuten später waren alle Passagiere des »Alert« an Bord der »Viktoria«, wo sie höchst freundlich aufgenommen wurden und die ihnen so nötige Pflege fanden.
Endlich sahen sie sich also gerettet, die Pensionäre der Antilian School, die Stipendiaten der Mistreß Kathlen Seymour, mit ihnen auch Herr Horatio Patterson und Will Mitz, dem sie so viel zu verdanken hatten.
Louis Clodion berichtete, was sich seit der Abreise von Barbados zugetragen hatte. Der Kapitän der »Viktoria« erfuhr auch, unter welchen Verhältnissen die erste Überfahrt erfolgt war, als sich der »Alert« noch in den Händen Harry Markels und seiner Verbrecherrotte befand. Er hörte ferner von der Besuchsreise durch die kleinen Antillen und wie Will Mitz die Pläne der Schurken entdeckt hatte, wie seine Begleiter und er von dem brennenden Schiffe hatten fliehen müssen, und endlich wie die Fahrt des Bootes in den letzten Tagen verlaufen war.
Der »Alert«, den man an diesem Datum schon im zweiten Drittel seiner Rückfahrt glaubte, war also mit den Piraten vom »Halifax«, den aus dem Gefängnis in Queenstown entwichenen Verbrechern, im Atlantischen Meere untergegangen.
Im Namen seiner Kameraden und mit tief erregter Stimme dankte Louis Clodion dann dem jungen Seemanne für alles, was er für sie getan hatte. Alle drückten auch, mit Tränen des Dankes im Auge, Will Mitz innig in die Arme.
Die »Viktoria« war ein Kohlenschiff von zweitausendfünfhundert Tonnen, das nach Ablieferung einer Ladung Steinkohlen in Dominique, eben auf der Rückfahrt nach Liverpool begriffen war. Die Passagiere sollten mit ihm also geraden Weges nach England kommen. Da die »Viktoria« bequem ihre fünfzehn Seemeilen in der Stunde zurücklegte, erfuhr die Rückkehr Pattersons und der jungen Preisträger voraussichtlich kaum eine Verzögerung um eine Woche.
Es braucht wohl nicht hervorgehoben zu werden, daß von diesem Tage an keiner von ihnen bei der vortreffliche Pflege, die sie genossen, noch etwas von den Seelenqualen und den physischen Leiden, von den schrecklichen Prüfungen[395] verspürte, die sie zu bestehen gehabt hatten. Das verblich schon fast in ihrer Erinnerung. Alle fühlten sich schon so befriedigt, so glücklich, den Gefahren der zweiten Fahrt und den Leiden nicht länger ausgesetzt zu sein, die sie an Bord des Bootes auf dem Atlantischen Ozean hatten erdulden müssen.
Bei einem längeren und interessanten Gespräche Pattersons mit dem Kapitän der »Viktoria«, in dem die Erscheinungen der beiden Ungeheuer, Harry Markels und der Schlange von Martinique, ineinanderflossen, äußerte sich der Mentor folgendermaßen:
»Entschieden, Herr Kapitän, tut man immer gut daran, die peinlichsten Vorsichtsmaßregeln zu treffen, ehe man eine Reise antritt!... Suave mari magno es ist wohltuend, wie Lukrez sagt, wohltuend, wenn das Meer unruhig ist, sich zu erinnern, daß man seiner Pflicht genügt hat. Was in aller Welt wäre geschehen, wenn ich in die Tiefe des Ozeans versunken... wenn ich nicht nach dem Heimathafen zurückgekehrt wäre... wenn man lange Jahre nichts von dem Verwalter der Antilian School gehört hätte?... Meine Gattin freilich hätte von den letzten, von mir getroffenen Verfügungen Gebrauch machen können, doch, Gott sei Dank, nun. komme ich ja rechtzeitig zurück und jene Verfügungen brauchen nicht rechtskräftig zu werden! Finis coronat opus!«
Wahrscheinlich begriff der Kapitän der »Viktoria« nicht ganz, was ihm der Mentor, lateinisch und in seiner Muttersprache, bezüglich der Frau Patterson sagte; er verzichtete jedoch auf eine nähere Erklärung und beglückwünschte nur seinen neuen Passagier, über so viele Unfälle triumphiert zu haben.
Patterson war jetzt offenbar, geistig und leiblich, wieder der alte. Da erinnerte er sich nun auch des berühmten lateinischen Citats, dessen Übersetzung ihm immer noch nicht gelungen war. Tony Renault wollte ihm die Sache aber nicht schenken, und brach am nächsten Tage eine Gelegenheit, darauf zurückzukommen, vom Zaune.
»Na, Herr Patterson, wie stehts denn mit Ihrer Übersetzung? begann er.
– Mit der Ihres lateinischen Satzes?
– Jawohl... mit dieser.
– Letorum rosam angelum?
– Nein, nein, korrigierte ihn Tony Renault, rosam angelum letorum.
– Auf die Stellung der Worte kommt doch nichts an...
– O, bitte, Herr Patterson, sogar sehr viel!
– Nun, das ist spaßhaft![396]
– Ja... wie Sie sagen. Sie haben die Lösung also nicht gefunden?
– Ich habe gefunden, daß die Worte überhaupt nichts bedeuten.
– Ein Irrtum!... Freilich habe ich Ihnen zu sagen vergessen, daß sie nur ins Französische übersetzt werden können.
– Nun, werden Sie mir endlich deren Sinn erklären?
– Nicht eher, als bis wir in Sicht der englischen Küste sind!«
In den folgenden Tagen mühte sich Patterson emsig mit den wahrhaft kabalistischen Worten ab. Ein Lateiner wie er in Verlegenheit!...
Sobald der Ruf »Land!« erscholl, forderte der gequälte Gelehrte Tony Renault auf, ihm die unverständlichen Worte zu erklären.
»Das ist sehr einfach, erwiderte der junge Witzbold der Antilian School.
– Nun also?...
– Rosam angelum letorum bedeutet in gutem Französisch genau: Rose a mangé l'omelette au rhum« (Rosa hat die Omelette mit Rum gegessen).
Patterson verstand das nicht sofort, doch als ihm ein Licht aufging, schnellte er, wie von einem elektrischen Schlage getroffen, mit allen Zeichen des Schreckens in die Höhe.
Nach einer glücklichen Überfahrt lief die »Viktoria« am 22. Oktober in den Sankt-Georgskanal ein, und noch an demselben Abend legte sie bei dem Dock in Liverpool an.
An den Direktor der Antilian School und an die Familien der jungen Pensionäre wurden sofort Depeschen mit der Meldung ihrer Rückkehr abgesendet.
Noch am Abend berichteten mehrere Zeitungen die Vorgänge, deren Schauplatz der »Alert« gewesen war, und schilderten, unter welchen Umständen Horatio Patterson und die jungen Preisträger nach England zurückgekehrt wären.
Diese Mitteilungen fanden einen weiten Widerhall, und eine große Erregung rief es hervor, als man die Einzelheiten dieses Dramas erfuhr, das in der Bai von Cork mit der Ermordung des Kapitäns Paxton und seiner Mannschaft begonnen, und weit draußen auf dem Ozean mit dem Untergange Harry Markels und seiner Spießgesellen seine Lösung gefunden hatte.
Gleichzeitig wurde durch Herrn Ardagh auch Mistreß Kathlen Seymour von den Vorfällen in Kenntnis gesetzt, und man kann sich ja leicht vorstellen, was die freigebige, edle Dame empfand, als sie alles er fuhr. Was wäre ja geschehen, wenn sie nicht den Gedanken gehabt hätte, die Überfahrt des wackern[397] Will Mitz an Bord des »Alert« zu vermitteln! Und wie dankerfüllt war sie für den jungen Seemann, der jetzt zum Helden des Tages geworden war! Jetzt, in Liverpool, hatte Will Mitz nun nur noch seine Stellung als Obersteuermann auf der »Elisa Warden« anzutreten.
Nachdem Patterson und seine Pensionäre dem Kapitän der »Viktoria« nochmals den herzlichsten Dank für seine Menschenfreundlichkeit abgestattet hatten, benutzten sie den nächsten Nachtzug und trafen am anderen Tage in der Antilian School ein.
An diesem Tage schlossen gerade die Ferien, und nun vergegenwärtige man sich den Empfang, den die Zurückgekehrten nach ihrer abenteuerreichen Reise fanden. Jeder wollte alles haarklein erfahren, und noch lange Zeit, in den Erholungsstunden vielleicht immer, sprach man von dieser gefährlichen Fahrt. Doch trotz der vielen Gefahren, denen die Passagiere des »Alert« mit großer Not entgangen waren, bedauerten sehr viele ihrer Kameraden, diese nicht haben teilen zu können. Wenn noch einmal ein Wettbewerb mit der Aussicht auf Reisestipendien veranstaltet würde, fehlte es diesem an Teilnehmern gewiß nicht.
Freilich war es ja ausgeschlossen, daß gleich wieder eine Bande von Seeräubern bei der Hand wäre, sich des Schiffes zu bemächtigen, das dann zur Beförderung der jungen Preisträger bestimmt wäre.
Jetzt drängte es natürlich alle, ihre Familien wiederzusehen, von denen sie ja sehnsüchtig erwartet wurden, und wie wenig hätte daran gefehlt, daß sie von den Antillen überhaupt niemals zurückgekehrt wären!
Abgesehen von Hubert Perkins, dessen Eltern auf Antigoa waren, und von Roger Hinsdale, dessen Familie in London wohnte, fuhren John Howard, Louis Clodion, Tony Renault, Niels Harboe, Axel Wickborn, Albertus Leuwen und Magnus Anders mit der ersten Gelegenheit nach Manchester, Paris, Nantes, Kopenhagen, Rotterdam und Gothenburg ab, um daselbst einige Tage vor ihrem Wiedereintritt in die Antilian School zu verbringen.
Diese Geschichte hätte keinen richtigen Abschluß, wenn sie nicht ein letztes Mal auf Horatio Patterson zurückkäme.
Selbstverständlich war der Augenblick, wo die beiden Gatten einander in die Arme fielen, höchst rührender Natur. O, Frau Patterson konnte sich gar nicht vorstellen, daß ihr Ehegatte, dieser ordnungsliebende, gesetzte, allen schlimmen Möglichkeiten aus dem Wege gehende Mann, derartigen Fährnissen ausgesetzt gewesen und doch so glücklich davongekommen wäre! Jedenfalls erklärte aber[398] der vortreffliche Verwalter, daß er niemals wieder eine solche Reise mit ihren tausend Gefahren wagen werde. Vielleicht wäre er dann zuletzt nicht ebenso vom Glück begünstigt... non bis in idem, und Frau Patterson erkannte die Richtigkeit dieses juristischen Grundsatzes widerspruchslos an.
Als Patterson seiner Frau die siebenhundert Pfund einhändigte, die er auf Barbados als Prämie erhalten hatte, gab er seinem lebhaften Bedauern Ausdruck, diesen nicht auch die berühmte Trigonocephale beifügen zu können, die nun in der dunkeln Tiefe des Atlantischen Ozeans ruhte. Welch herrliche Wirkung hätte die große Schlange, wenn auch nicht in dem Salon des Verwalters, so doch im naturwissenschaftlichen Kabinett der Antilian School hervorgebracht!
»Wir haben nun, schloß Patterson seine Worte, bloß noch dem hochwürdigen Herrn Finbook von dem Kirchspiele, zu dem die Oxfordstreet gehört, Nachricht zu geben.«
Frau Patterson konnte sich eines Lächelns nicht erwehren.
»Das ist wohl unnötig, lieber Horatio.
– Wieso... unnötig?« rief Patterson ebenso verwundert wie verblüfft.
Dieser kleine Zwischenfall bedarf einer Erklärung, die hier folgen mag.
Aus übertriebener Vorsicht und in seinem maßlosen Eifer, in allem die peinlichste Ordnung zu halten, war der ängstliche Verwalter der Antilian School, dem im vorliegenden Falle sein Testament noch nicht ausreichend schien, auf den barocken Gedanken gekommen, sich vor der Abreise – von seiner Frau scheiden zu lassen. Wenn dann keine Nachricht von ihm eintraf und er vielleicht niemals wiederkehrte, brauchte Frau Patterson nicht jahre- und jahrelang zu warten, ehe sie jede Bevormundung von sich abschütteln konnte, wie das manche Frauen großer Reisender zu ihrem Leidwesen erfahren haben. Patterson konnte es nicht über sich gewinnen, daß seine Nachlaßangelegenheiten nicht auch schon während seiner Abwesenheit bis aufs kleinste geregelt wären, und daß seine teure Lebensgefährtin, als Lohn für ihre Liebe und Treue, nicht sofort über ihre Person und ihr kleines Vermögen verfügen könnte, wie das jeder rechtschaffenen Witwe erlaubt ist.
Hatte sich Patterson aber so sehr in seinen Gedankengang verbissen, daß jeder, und auch ein noch so begründeter Widerspruch vergeblich gewesen wäre, so war doch seine würdige Gattin ebenso fest entschlossen, ihren Willen durchzusetzen und auch unter den vorliegenden außergewöhnlichen Verhältnissen auf keine Ehescheidung[399] einzugehen. Neben der Starrsinnigkeit des Verwalters zeichnete diesen aber auch eine gute Portion Zerstreutheit aus – was aus unserer Erzählung ja vielfach hervorgeht – und darauf rechnete Frau Patterson, alles nach ihrem Wunsche ablaufen zu sehen. Im Einverständnis mit einem Rechtsanwalte, einem bewährten alten Hausfreunde, hatte sie vorgetäuscht, sich dem Verlangen ihres Gatten zu fügen. Bei der erklärlichen Seelenerregung, die ihm die Scheidungsformalitäten verursachten und die Frau Patterson voraussah, hatte ihr Gatte auf die Vorgänge dabei aber gar nicht geachtet.
»Nein, lieber Patterson, ich habe den Vertrag nicht unterzeichnet, wir sind niemals durch einen Scheidungsprozeß getrennt gewesen, unser Ehekontrakt besteht noch jetzt und für immer, wie er einst abgeschlossen wurde.
– Ne varietur!« antwortete Herr Patterson und schloß die treue Lebensgefährtin zärtlich in die Arme.
Ende.
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