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[464] Es ist Sommer... kein Wölkchen am Azur des Himmels. Die Mittagssonne strahlt glänzend auf das blühende Land hernieder.
Die Ledergamaschen noch an den Füßen, raucht Summy Skim, der mit Neluto eben von der Jagd heimgekommen ist, seine kurze Pfeife im Schatten der großen Bäume vor dem Wohnhause in Green Valley. Wenige Schritte von ihm spielen drei kleine Kinder – von drei, fünf und sechs Jahren – unter der Aufsicht einer Bonne von vertrauenerweckendem Aussehen. Sie mißt nicht weniger als sechs Fuß, diese Bonne, und ihres schon etwas ergrauenden Bartes hätte sich kein Pionier zu schämen brauchen. Sie führt übrigens den Namen[464] Patrick Richardson und ist durch das Vertrauen des Herrn Jean nach und nach zur Kinderwärterin umgewandelt worden.
Ist Patrick auch etwas gealtert, seine große Kraft ist ihm noch geblieben, nur verwendet er diese nicht mehr, mit plumpen Bären zu boxen, sondern sie steht jetzt auschließlich im Dienste der Söhnchen Janes und Summys.
Man sieht den Riesen gar nicht mehr anders als mit den drei Jüngelchen, von denen der eine ihm auf der Schulter hockt, ein andrer ihm auf der Hand wie auf einem[465] Stuhle sitzt, wovon sein Daumen als Lehne dient, und der dritte zuweilen aus einer Tasche herausguckt, denn Patrick hat sich eigenhändig, eigens zu diesem Zwecke, große Taschen an seine Jacke genäht. Die Kinder können ihn ersteigen wie einen Berg, auf ihm umhertrappeln, ihn am Barte oder an den Haaren zupfen oder können ihm auch die Finger auf die Augen drücken: Patrick läßt alles mit lächelnder Miene über sich ergehen. O, er ist ein herrliches Spielzeug für die kleinen Kinder, der Patrick Richardson.
Eben hat es mittags zwölf geschlagen, da kommt eine junge Frau auf einem schönen Pferde in kurzem Trabe an. Summy erhebt sich, der Reiterin beizustehen, die er in seine Arme schließt, wie dereinst im Salon des Northern Hotel. Es fehlte nicht viel, so hätte Summy getanzt wie damals. Doch Summy tanzt nicht mehr, seit er – ganz heimlich sei es verraten – angefangen hat, sich, wie man sagt, ein Bäuchlein zuzulegen. Jane Edgerton hat sich damit, daß sie Jane Skim wurde, kaum verändert; sie ist noch immer ebenso klein und zart und auch nicht weniger hübsch.
»Zu Tische!« ruft Summy aufgeräumt.
Sofort klettern die drei Kinder auf Patrick. Der Älteste setzt sich auf der Schulter fest, der zweite auf der hohlen Hand und der Kleinste schlüpft in eine Tasche.
»Sind sie denn artig gewesen, Patrick? fragt Jane.
– Sehr artig, Herr Jean,« versichert der Irländer.
Im Augenblick, wo alle ins Haus treten wollen, erscheint auf der Schwelle eine andre junge Frau, eine Blondine. Ja, warum sollte denn Edith Raddle nicht ebenso blond sein, wie es Edith Edgerton war? Edith hält noch ihr »Handwerkszeug« in der Hand, die bewegliche Feder, die sie so gut zu führen versteht.
»Ist Ben noch nicht da? fragt Jane.
– Nein, antwortet Edith, vor drei Uhr wird er nicht hier sein.«
Die kleine Gesellschaft tritt ein und setzt sich zu Tische. In der Wohnung wie draußen herrscht noch immer die frühere Einfachheit. An das alte Haus ist nur noch ein Flügel angebaut worden, um die neuen Bewohner aufnehmen zu können.
Beim Frühstück plaudern alle in ruhigem, freundlichem Tone. Dieser Tag bildet aber keine Ausnahme. Es ist nur die lange Kette gleich glücklicher Tage, der er sich als ein weitres Glied anschließt.
Über dem friedlichen Hause schwebt der Engel des Glücks.[466]
Seit dem Abenteuer am Golden Mount und der Rückkehr nach Montreal sind die Jahre vergangen, ohne die unter dem eisigen Himmel Klondikes aufgekeimte Liebe zu schwächen. Jane und Summy, Edith und Ben bilden nur ein einziges Wesen und jeder fühlt in seiner Brust den Schlag von vier Herzen.
Summys Befürchtungen haben sich nicht verwirklicht. Unterstützt von Edith, ist er Diplomat genug gewesen, den Tätigkeitsdrang seiner Gattin auf den richtigen Weg zu leiten. Das ist jetzt eine ausgemachte Sache und er hat unbegrenztes Vertrauen zu einem Bande gewonnen, das die Geburt der Kinder schon ohnehin noch mehr verstärkt hatte.
Da die Geldfrage bei ihm jetzt keine Rolle mehr spielte, hatte er seinen Landbesitz noch wesentlich vergrößert. Jetzt bildet der fast ein wirkliches Reich, dessen unbestrittner König er ist. Jane hat hier ein geeignetes Feld für ihre Tätigkeit gefunden. Sie schwärmt für eine rationelle Bewirtschaftung und ihre Schuppen sind mit den vorzüglichsten Maschinen angefüllt, die ihr erfinderischer Geist immer noch weiter zu verbessern sucht.
Edith ist die Verwalterin der Gemeinschaft; sie führt die Bücher. Sie prüft, urteilt und entscheidet in letzter Instanz und alle beugen sich ihrem unfehlbaren, gesunden Verstande. Wenn sich Jane einmal von ihrer Phantasie fortreißen läßt und einen gar zu kühnen Weg einzuschlagen droht, braucht ihre Cousine ihr nur ein »Es brennt!« zuzurufen, um alles wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Nur Summy greift etwas störend in ihre Verwaltung ein. Der abscheuliche Grundherr versteift sich, unter dem Vorwande, zu reich zu sein, darauf, den Pächtern den größten Teil ihres Pachtzinses heimlich zurückzugeben. Edith grollt dann der Form halber ein bißchen, denn es bleibt doch im Grunde wahr, daß man zu reich ist.
Summy kann ausgeben, so viel er will, er kann doch das Geld nicht so schnell an den Mann bringen, wie Ben Raddle es gewinnt.
Vor ihrer völligen Erschöpfung haben die Claims des Forty Miles Creek noch das Zwanzigfache ihres ersten Ertrags geliefert und von diesem Golde hat Ben nicht ein Splitterchen im Kasten aufbewahrt. Er hat es in alle Winkel der Welt verstreut, von wo es hartnäckig in verdoppelter Menge wiederkehrt, um ohne Unterbrechung aufs neue hinausgeschickt zu werden.
Gestützt auf eine so ungeheure Macht, hat der Ingenieur seine Träume verwirklicht. Er hat sich mit allem befaßt, für alles interessiert und sein ganzes[467] Leben zum Vergnügen der Arbeit gewidmet. Noch ist der Tag fern, wo er sich dem Kreise der Milliardäre anschließen wird, und auch das würde für ihn nur ein weitrer Antrieb zu arbeiten sein. Ihm gelingt alles. Mit gleichem Glücke hat er in Wolle, Baumwolle, Zucker und Leder spekuliert und das gewonnene Gold hat in den verschiedensten Unternehmungen für ihn wieder weiter gearbeitet. Heute besitzt er Kupferbergwerke und Kohlengruben, Eisenbahnen in Südamerika und den Balkanländern, Petroleumbrunnen in Texas und Rumänien, elektrische Zentralstationen und andre Anlagen. Gestern hat er einen Zinntrust gegründet, morgen wird er einen Nickeltrust ins Leben rufen.
Bei dieser vielseitigen Inanspruchnahme würde sich Ben Raddle kaum auskennen, wenn Edith nicht da wäre, ihm dabei zur Hand zu gehen. Tag für Tag, Stunde für Stunde hält sie ihn über seine Lage unterrichtet. Nach dieser Seite hin braucht er sich um nichts zu kümmern, er kann sorglos schlafen.
Ja, Ben Raddle ist fürwahr ein glücklicher Mann.
Dieser glückliche Mann ist aber niemals da und das ist der einzige dunkle Punkt im Leben Summy Skims. Immer über Berg und Tal, kommt und verschwindet er wie der Blitz. Im Vorübergehen umarmt er zärtlich seine Frau, die ihn lächelnd empfängt und ohne Vorwurf wieder davonziehen läßt. Mit gewohnter Ruhe wartet Edith ihre Stunde ab, von der sie aus gewissen Zeichen weiß, daß sie nicht mehr fern sein wird.
Summy Skim ist nicht so geduldig und geniert sich gar nicht, Ben Raddle mit den schwersten Vorwürfen zu bestürmen. Der läßt ihn dann erst ruhig poltern, dann wird er etwas böse, was die Wirkung hat, den Faden der Moralpredigt kurz abzuschneiden.
Wenn sein Vetter aber zu einer neuen Rundreise ausgezogen ist, ist Summy Skim wieder der erste, ihn zu entschuldigen.
»Ach, man darf den armen Ben nicht zürnen, pflegt er dann zu Edith zu sagen, wenn er immer nahe vor einer Eruption steht. Wenn man in seinem Leben einmal einen Vulkan besessen hat, lieber Gott, da bleibt davon doch ein Restchen übrig!«
Ende.
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